Kapitel 15
Am nächsten Morgen, während ich noch meinen Kaffee trank, fuhr in meiner Einfahrt ein Lastwagen mit Tieflader vor. Der Fahrer war ein junger, athletischer Hilfssheriff.
»Ich bin wegen Ihres Wagens hier«, sagte er, als ich die Haustür öffnete.
»Sie sind was?«
Er zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Tasche und überflog es. »Montgomery? Sie überlassen dem Sheriff’s Department kostenlos einen Volvo Kombi?«
»Natürlich. Entschuldigen Sie!«, sagte ich. »Ich hole nur eben die Schlüssel. Und die Papiere.«
Eines Abends im vergangenen Sommer hatte ich, als ich vom Goose Creek Inn auf dem Weg nach Hause war, mit Lelands altem Volvo frontal das Hinterteil eines Rehbocks erwischt, der urplötzlich aus dem Wald auftauchte und die Atoka Road zu überqueren versuchte. In all den Jahren, die ich jetzt schon Auto fuhr, war es das erste Mal gewesen, dass ich einen Zusammenstoß hatte. Ich blieb unverletzt – Volvos sind wie Panzer gebaut –, doch mein Mechaniker warf nur einen flüchtigen Blick auf das Auto, das schon weit mehr als dreihunderttausend Kilometer auf dem Buckel hatte. Dann meinte er, ich solle es von seinem Leiden erlösen, wie Animal Control es auch mit dem Hirsch gemacht habe.
Ich hatte fast vergessen, dass ich den Wagen dem Sheriff’s Department versprochen hatte, nachdem Bobby Noland mir erzählt hatte, sie seien immer auf der Suche nach alten Kisten, mit denen sie auf ihrem Ausbildungsgelände Verfolgungsjagden mit Höchstgeschwindigkeit realistisch simulieren konnten. Die S.W.A.T.-Spezialeinheit probierte neue Munition gerne an etwas anderem aus als an Papierzielen, und auch die Feuerwehr suchte nach Möglichkeiten, das Löschen von brennenden Autos oder den Einsatz von schwerem Rettungsgerät zu üben. Wenn der Volvo – in dem ich als junges Mädchen Auto fahren gelernt hatte – jetzt also so ziemlich das Ende seiner Tage erreicht hatte, würde er sich zumindest würdevoll verabschieden.
»Straßentauglich ist er ja nun nicht gerade«, sagte ich dem Hilfssheriff. »Sind Sie sicher, dass Sie ihn noch auf Ihrem Gelände einsetzen können?«
»Keine Angst«, meinte er. »Ich arbeite bei der CRU. Unsere Mechaniker sind Spitze. Bevor wir ihn benutzen, checken wir ihn durch. Soll ich die Schilder für Sie abmachen?«
»Gerne. Danke!« Demnach arbeitete er also bei der Crash Reconstruction Unit.
Er holte einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten des Lastwagens. Das vordere Nummernschild, das sich an dem Auto befand, seit Leland es gekauft hatte, war an der Halterung festgerostet.
»Hatten Sie mit dem Geländewagen zu tun, der vor ungefähr zehn Tagen in den Goose Creek gestürzt ist?«, fragte ich, während er neben der vorderen Stoßstange kniete und das Nummerschild abzuschrauben versuchte.
»Ja.« Er kapitulierte und ging zur Rückseite des Wagens. »Warum? Haben Sie das Opfer gekannt?«
Das hintere Nummernschild ließ sich problemlos abschrauben. Er holte einen anderen Schraubenzieher, versuchte sich erneut am vorderen Nummernschild und konzentrierte sich diesmal auf die Halterung.
»Ich habe die Frau aus dem Bach gezogen.«
Er stand auf, und sein Blick wanderte zu meiner Krücke. »Ich habe davon gehört. Ganz schön mutig.« Er reichte mir die Nummernschilder. »Tut mir leid, dass ich das vordere nicht aus der Halterung herausbekommen habe.«
»Macht nichts. Danke!«
»Detective Noland sagte mir, er würde dafür sorgen, dass Sie eine Spendenquittung bekommen. Ich rufe ihn an und sag ihm, dass wir den Wagen endlich abgeholt haben. Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass es so lange gedauert hat. Ich glaube, ich bin hier heute Morgen auch etwas überraschend reingeschneit.«
»Ein bisschen«, sagte ich. »Übrigens, haben Sie bei der Untersuchung des Wagens noch etwas anderes festgestellt, außer dass das Rad abgegangen ist?«
Falls ihn meine Frage überrascht haben sollte, zeigte er es nicht. »Wir werden unseren Bericht an die entsprechenden Stellen weiterleiten, aber es handelt sich immer noch um eine laufende Untersuchung, deshalb kann ich mich nicht dazu äußern«, sagte er. »Und dann ist da noch etwas.«
»Ja?«
»Vergessen Sie nicht, die Nummernschilder beim Straßenverkehrsamt abzuliefern.«
Bobby rief mich am Nachmittag an, als ich in meinem Büro war, und bedankte sich noch einmal für den Volvo.
»Ich weiß es sehr zu schätzen, auch wenn es etwas eigenartig für mich sein wird, ihn da draußen auf dem Gelände zu sehen«, sagte er. »Ich erinnere mich noch, wie Eli und ich damit während der Highschool-Zeit unterwegs waren. Und an so manches, was wir damals angestellt haben …«
Für einen Moment erinnerte ich mich an den Highschool-Jungen, der ständig nachsitzen musste, und wie ich ihn getriezt hatte, eine Auszeichnung für freiwillige soziale Dienste zu bekommen, weil er in Algebra durchgerasselt war. Er war zwar intelligent genug, doch damals war er der Meinung, Algebra sei, wie er mir zu sagen pflegte, so überflüssig wie Brüste bei einem Zuchtbullen.
»Erzähl mir ein bisschen davon«, sagte ich, »Eli würde es nie tun.«
»Lieber nicht«, sagte er. »Die Verjährungsfrist ist noch nicht abgelaufen.«
»Das ist doch wohl ein Scherz, oder?«
»Hahaha!«, war sein einziger Kommentar. »Das Schreiben für dich kann ich heute Nachmittag mitbringen, weil ich sowieso vorbeikommen muss.«
»Willst du Wein kaufen?«
»Mit deinem Winzer reden.«
»Hat er Schwierigkeiten?«, fragte ich.
»Ich will nur mit ihm reden.«
»Worüber?«
»Dieses und jenes.«
»Komm, Bobby, ich bin’s. Was ist los?«
»Ich muss ein paar Fragen über eine Bekannte von ihm stellen.«
»Oh!«, sagte ich. »Nicole Martin.«
Ich hörte, wie er kräftig ausatmete. »Soviel ich weiß, ist sie Quinns Exfrau. Und sie hält sich hier in der Stadt auf.«
»Das stimmt. Hat sie Schwierigkeiten?« Vielleicht war es Bobby gelungen, eine Verbindung zwischen ihr und dem Washington-Wein herzustellen.
»Hört sich so an, als würdest du sie ebenfalls kennen.«
»Ich bin ihr ein paar Mal begegnet. Gestern hat sie sich hier sehen lassen.«
»Weshalb?«
»Um sich die Flasche Wein anzuschauen, die Jack Greenfield für unsere Auktion gestiftet hat. Das heißt die er erst gespendet und dann wieder zurückverlangt hat.«
»Ich habe davon gehört. Dieser Wein soll ein kleines Vermögen wert sein«, sagte er. »Hast du persönlich mit dieser Martin gesprochen?«
Wie ich Bobby kannte, wusste er bereits, was ich auf diese und alle vorherigen Fragen antworten würde.
»Ja.«
»Ja, was? Spar dir deine Spielchen mit mir, Lucie.«
»Schon gut, schon gut! Nicole war mit Valerie Beauvais befreundet, daher habe ich Nicole gefragt, ob Valerie mal etwas über die Provenienz von Jacks Wein erwähnt hat«, sagte ich.
»Provenienz?«
»In wessen Eigentum er sich bislang alles befunden hat.«
»Weshalb sollte Valerie darüber mit Nicole gesprochen haben?«
»Weil sie sich in Frankreich begegnet sind, als Valerie für ihr Buch recherchiert hat«, sagte ich.
»Stimmt das? Was hat Nicole denn gesagt?«
»Dass der Wein, soweit sie das beurteilen kann, echt ist.« Ich schenkte mir ihre Kommentare über die trüben Aussichten, die verschlungenen Wege eines zweihundert Jahre alten Weins nachzuvollziehen. »Und dass sie und Valerie das Thema Provenienz nicht angeschnitten haben.«
»Huh!«
Irgendetwas an seinem unverbindlichen Ton machte mir klar, dass er von den Gesprächen wusste und dass er jetzt versuchte, das, was ich ihm erzählt hatte, in das einzufügen, was er bereits als gesicherte Fakten kannte. Der Hilfssheriff von der CRU hatte doch gesagt, dass sie die Untersuchung von Valeries Wagen fast beendet hätten. Sie mussten etwas gefunden haben – vielleicht ihr Handy?
»Ihr habt die Aufzeichnungen ihres Handys, stimmt’s? Dann weißt du auch, dass sie kurz vorher noch miteinander gesprochen haben.«
»Kein Kommentar.« Doch er klang irritiert, was hieß, dass ich richtig geraten hatte.
Ich wollte Quinn selbst mitteilen, dass Bobby vorbeikommen würde und es sich nicht um einen privaten Besuch handelte. Ich wusste, dass ich ihn im Weinkeller finden würde, wo er mit der Bestimmung der Brix-Werte beim Cabernet beschäftigt war. Wir mussten feststellen, ob die erste Fermentation beendet war und sich der Zucker vollständig in Alkohol verwandelt hatte. Sobald dies geschehen war, würden wir den Wein keltern und Bakterien zusetzen, um die malolaktische Gärung oder zweite Fermentation einzuleiten.
Wie ich vermutet hatte, war er im Labor und protokollierte die Ergebnisse. Nachdem die Witterung jetzt kühler geworden war, hatte er seinen Hawaiihemden bis zum nächsten Frühling eine Ruhepause verordnet. Heute trug er verwaschene Jeans und ein Henley Shirt mit ausgefransten Manschetten. Die Hawaiihemden waren weit und schlabberig. Das Henley Shirt hingegen wirkte, als sei es mit der Zeit eingelaufen, und so konnte ich nicht übersehen, wie muskulös und fit Quinn darunter war.
Als er mich bemerkte, warf er den Bleistift zur Seite. »Was gibt’s?«
Seit seiner gestrigen Fahrt durch das Weingut mit Nicole hatten wir nicht miteinander gesprochen. »Sind Sie fertig mit den Brix-Werten?«
Er schielte zu mir herüber. »Liegen ungefähr bei dreizehn. Ich will den Vorlaufmost rausnehmen, bevor wir zu pressen anfangen. So haben wir mindestens zwei oder drei zusätzliche Tage, bevor es auf null geht und wir mit der malolaktischen Fermentation beginnen.«
»Klingt gut.«
»Wenn das alles war, was Sie wissen wollen, hätten Sie auch anrufen können«, sagte er. »Irgendwas ist doch los. Sie haben schon wieder diesen Blick mit riesengroßen Augen, den Sie immer haben, wenn Sie einem auf die krumme Tour kommen. Das kenne ich mittlerweile. Schießen Sie los!«
Manchmal fragte ich mich, weshalb ich mir überhaupt noch die Mühe machte, seine Gefühle zu schonen, da er meine regelmäßig wie mit einem Dreißigtonner überrollte. »Bobby Noland kommt, um mit Ihnen zu reden.«
»Hat er gesagt, weshalb?« Er konzentrierte sich auf irgendetwas oberhalb meines Kopfes. Wer war er eigentlich, dass er sich über das Herumkommandieren auszulassen wagte? Vielleicht wusste er nicht, weshalb Bobby mit ihm reden wollte, aber bestimmt wusste er, über wen.
»Er möchte Ihnen ein paar Fragen wegen Nicole stellen.«
Seine Stimme blieb verbindlich. »Hat sie Ärger?«
»Bobby weiß, dass sie Valerie Beauvais gekannt hat.«
»Und woher wissen Sie das?«
Meine Mutter hatte immer gesagt, wenn man bei der Wahrheit bleibt, braucht man sich später nicht zu erinnern, welche Lüge man benutzt hat. »Sie hatte Valeries Buch. Darin war eine Widmung für sie. Ich habe es auf dem Sitz von Shanes Auto entdeckt, als Sie beide Ihre Rundfahrt durch das Weingut machten.«
»Sie haben es wirklich auf sie abgesehen, was? Warum können Sie sich da nicht raushalten?« Er schlug mit der Faust auf den metallenen Labortisch. Ein Messbecher, der neben der Rechenmaschine gestanden hatte, fiel zu Boden. Er zersprang, und die Glasscherben flogen in alle Richtungen.
»Aus was soll ich mich raushalten? Und mussten Sie den Becher unbedingt kaputtmachen? Sie hat sie gestern angelogen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie mich auch belogen hat, als es darum ging, worüber sie mit Valerie gesprochen hat, bevor diese starb. Bobby weiß es bereits, Quinn. Lügen Sie ihn also nicht an, um sie zu schützen, verstanden?«
Quinn blickte zu Boden und schaute dann mich an. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie jetzt verschwinden. Hier gibt es jede Menge Scherben, und Sie könnten sich daran verletzen.«
Der halbe Meter Abstand zwischen uns hätte der Grand Canyon sein können. Der Versuch, ihn davon abzuhalten, in die Geschichte hineingezogen zu werden, in die Nicole verstrickt war, was immer es auch sein mochte, entsprach dem Bemühen, Staub in den Wind zu werfen. Entweder würde er ihn ins Gesicht bekommen, oder der Staub würde davonwehen, und dann wäre ihm nichts geblieben. Egal, wie es mit Nicole ausgehen sollte, er würde immer der Verlierer sein.
»Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich bin nicht diejenige, die verletzt wird.« Meine Stimme zitterte vor Zorn. Ich zeigte auf den Boden. »Sie sollten verdammt vorsichtig sein, wenn Sie die Sauerei beseitigen, die Sie hier angestellt haben. Bis später dann!«
Eine Stunde später sah ich, wie ein Zivilfahrzeug, ein Ford Crown Victoria, auf den Parkplatz fuhr. Bobby stieg aus und ging direkt zum Weinkeller. Ungefähr eine Dreiviertelstunde später verschwand er wieder.
Ich hätte gerne gewusst, was er gefragt und was Quinn ihm erzählt hatte. Doch ich unterließ es, in den Weinkeller zu gehen und mich zu erkundigen.
An diesem Abend erschien Quinn im Sommerhaus. Ich sah das rote Licht der Taschenlampe, als ich das Geschirr vom Abendessen wegräumte. Pépé war wieder mal mit Freunden unterwegs.
Ich holte meine Jacke und eine Taschenlampe. Als ich den Rasen überquerte, leuchtete ich mit der Lampe, damit er wusste, dass ich kam. Nachdem ich an den Rosensträuchern vorbei war, schaltete ich sie wieder aus, um ihn nicht zu blenden.
Er war dabei, sein Teleskop neben den Adirondack-Sesseln aufzustellen, wobei er die Lampe auf der Armlehne eines Sessels abgelegt hatte, sodass er sehen konnte, was er tat.
»Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte er, ohne mich dabei anzuschauen. »Sie wollen wissen, was Bobby gesagt hat.«
Ich hatte den Kleinkrieg zwischen uns satt. »Ich bin Ihretwegen gekommen«, sagte ich. »Wir reden kaum noch miteinander. Das halte ich nicht länger aus.«
Dieses Mal drehte er sich um. »Setzen Sie sich.«
Ich setzte mich und legte die Krücke neben meinen Sessel auf den Boden. Die kühle Abendluft hatte die Wolken vertrieben, die bei Sonnenuntergang über den Blue Ridge Mountains gehangen hatten. Der Mond sah aus wie eine abgewetzte Münze an einem sternenübersäten Himmel.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte ich.
Er warf sich in den anderen Sessel und zog eine Zigarre aus seiner Jackentasche. »Ich habe gerade über Pluto nachgedacht.«
»Wie bitte?«
»Pluto. In der einen Minute ist er der neunte Planet in unserem Sonnensystem, und in der nächsten wird er von der Liste gestrichen und zu einem Zwerg herabgestuft.«
»Das geht Ihnen durch den Kopf?« Er roch nicht nach Alkohol. Warum redete er darüber? »Pluto?«
»Trotz dieser Degradierung ist er immer noch derselbe Eisklumpen, der er gewesen ist. Braucht wegen seiner wackeligen Umlaufbahn immer noch zweihundertachtundvierzig Jahre für die Umkreisung der Sonne. Nichts hat sich geändert, nur dass man ihn jetzt anders nennt.«
»Das ist Pech.« Ich sah zu, wie er seine Zigarre anzündete. Die Streichholzflamme beleuchtete sein Gesicht. Auch er sah immer noch genauso aus wie immer, obwohl er sich anhörte, als habe er vorübergehend einen Vogel, oder auch zwei.
»Zu seinen Zeiten als Planet war er derjenige, der den Skorpion beherrschte.«
»Wirklich?« Spaßeshalber las ich zuweilen mein Horoskop und glaubte ihm sogar, wenn es mir passte. »Nic ist ein Skorpion. Sie steht auf diesen ganzen Voodoo-Zauber.«
Ich wartete.
»Wussten Sie«, sagte er, »dass Plutos Mond – Charon – nahezu halb so groß ist wie Pluto und sie sich in einer Art Hantelformation umkreisen, als befänden sie sich in einem ständigen Kampf um die Macht?«
»Das wusste ich nicht.«
»Eine Art Metapher für unsere Ehe«, sagte er.
»Tut mir leid.«
Er stieß eine Rauchwolke aus. »Nicht nötig. Es ist vorbei. Soll ich Ihnen noch etwas erzählen? Er ist der gottverdammte Planet der Macht und Zerstörung und Korruption. Haargenau das ist meine Exfrau. Da könnte man fast an diesen ganzen Hokuspokus glauben.«
»Jetzt geht es darum, was sich heute mit Bobby abgespielt hat, oder?«
»Das wissen Sie doch.« Er war wütend. »Und Sie können auch aufhören so zu tun, als wären Sie nicht froh darüber, dass Sie recht hatten, was Nicole betrifft.«
»Ich bin über nichts froh, und ich werde auch nicht wieder als Ihr Sündenbock herhalten!« Auch ich war sauer. »Bis vor vier oder fünf Tagen wusste ich noch nicht mal, dass Sie verheiratet waren. Woher zum Teufel hätte ich es denn auch wissen sollen. Sie verlieren ja kein Wort über Ihre Vergangenheit – Ihr Leben in Kalifornien oder sonst etwas. Sie sind hier in Virginia reingeplatzt wie …« Ich wedelte mit der Hand über meinem Kopf. »Wie von irgendwo da oben. Keine Vergangenheit, kein gar nichts.« Ich nahm meine Krücke und stand auf. »Ich gehe jetzt rein. Ich habe die Nase voll davon, dass Sie mir ständig an den Hals springen, egal was ich sage. Ich verstehe ja, warum Sie nicht über Le Coq Rouge reden wollen, aber …«
»Gehen Sie nicht.« Er hielt mein Handgelenk wie in einem Schraubstock fest. »Setzen Sie sich, dann erzähle ich es Ihnen. Sie verstehen überhaupt nichts.«
Ich setzte mich hin, doch seine Stimme machte mir Angst.
»Sie hat mit Alan gevögelt.« Er klang heiser vor Zorn und Scham. »Das kam noch zu dem hinzu, was er mir angetan hat. Sie war an der ganzen Sache beteiligt, zusammen mit Alan, aber ich habe sie gedeckt, sodass sie sich unbehelligt davonmachen konnte, ohne in den Knast zu müssen. Ich habe die Stadt verlassen, mit diesem verfluchten Verdacht, der wegen des Skandals und des Prozesses über mir schwebte. Sie können sich nicht vorstellen, wie das war – wie die Leute mich angeguckt haben.«
Alan Cantor war der Winzer des Le Coq Rouge gewesen. Demnach hatten Quinns ehemaliger Chef und seine Frau auch noch eine Affäre miteinander gehabt, als hätten die Betrügereien mit dem Wein und die Unterschlagung nicht schon gereicht, aufgrund dessen das Weingut schließlich dichtmachen musste. Ich wartete, dass Quinn fortfuhr.
»Als ich verschwand, hoffte ich, sie nie wiederzusehen. Und dann tauchte sie hier auf.« Langsam stieß er den Rauch aus. »Scheiße, ich wäre fast gestorben.«
»Das tut mir leid. Ich weiß, dass es hart für Sie sein muss, seit sie hier ist.«
Sein bitteres Lachen klang eher wie ein Schluchzen. »Hart. Ja. So kann man es auch nennen.«
»Glaubt Bobby, dass sie etwas mit dem Mord an Valerie zu tun hat?«
Er rieb sich mit dem Daumen die Stirn. »Ich weiß es nicht. Würde mich nicht wundern, wenn er es tut.«
»Was hat er Sie gefragt?«
Quinn schaute mich an. »Ich dachte mir schon, dass Sie es wissen wollen.«
Wenigstens konnte er in der Dunkelheit nicht sehen, wie ich rot wurde. »Bitte, erzählen Sie es mir.«
»Er hat mich nach unserer Beziehung zueinander gefragt. Wann ich sie getroffen habe, ob ich Kontakt zu ihr hatte, bevor sie nach Atoka kam.«
Daran hatte ich nie gedacht. »Und, hatten Sie?«
»Jesses, Lucie! Nein!«
Der Wind hatte zugenommen. Ich fröstelte, zog die Beine hoch und legte meine Arme um sie. »Es ist kalt hier draußen. Kommen Sie, warum gehen wir nicht ins Haus und trinken etwas?«
»Gehen Sie nur«, sagte er. »Mir ist nicht kalt. Ich möchte hierbleiben.«
»Dann bleibe ich auch. Es macht mir nichts aus.«
»Nett von Ihnen, aber ich würde lieber alleine sein. Ist nicht böse gemeint.«
Ich stand auf und griff nach meiner Krücke. Die Kluft zwischen uns schien kleiner zu werden, doch sie bestand immer noch.
»Dann also bis morgen früh«, sagte ich.
»Morgen ist Samstag«, sagte er. »Ich werde mich blicken lassen, um die Brix-Werte zu prüfen und sicherzustellen, dass der Tresterhut untergestoßen ist. Aber ansonsten habe ich vor, an diesem Wochenende abzutauchen.«
»Oh. Ja, natürlich. Dann eben bis Montag.«
»Ja.«
Ich verließ ihn und ging zurück ins Haus. Nicole wurde von Zerstörung und Korruption beherrscht, hatte er gesagt.
Und hier befanden wir uns also, in der Mitte ihres Mahlstroms.