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Kapitel 19

Ich stellte den Motor ab und griff nach meiner Krücke. Der Fuchs hatte mir einen Schrecken eingejagt. Das hier machte mich wild. Wenn ich herausfinden sollte, wer das getan hatte, dann würde er dafür bezahlen.

Die Farbe zog sich noch ungefähr sechs Meter an der linken Mauer entlang. Sie endete plötzlich, als wenn jemand keine Farbe mehr gehabt hatte – oder geflohen war, um nicht auf frischer Tat geschnappt zu werden. Es schien dasselbe Rot zu sein, das für Freddies Blut benutzt worden war. Ich ging zur Säule und fühlte. Trocken. Es war tatsächlich die gleiche Farbe, also wenigstens wasserlöslich und damit abwaschbar.

Die Säulen standen hier seit mehr als einem Jahrhundert. Die grellen Schmierereien, die wie eine Wunde im verwitterten Gestein wirken sollten, waren so widerwärtig wie ein brutaler Kerl, der eine Großmutter wegen ein paar lausiger Dollar in ihrer Geldbörse zusammenschlug. Ich lehnte mich mit der Wange an eine der Säulen und überlegte, wer so krank sein konnte. Die Orlandos kamen für mich immer weniger in Frage.

Ich rief Quinn an. »Jemand hat Verwendung für die Farbe gefunden, die von Freddie übrig geblieben ist. Ich bin hier an der Einfahrt.«

Er war im Nu da. »Ich rufe den Sheriff an«, sagte er, als er die Sauerei sah. »Es war gut, dass Sie das ausgestopfte Tier aufbewahrt haben.«

Er holte sein Handy heraus.

»Warten Sie«, sagte ich. »Rufen Sie noch nicht an.«

»Warum nicht?«

»Vielleicht sollte ich erst mal bei den Orlandos vorbeischauen und mit ihnen reden.«

Quinn machte ein angewidertes Gesicht. »Und dann? In ihrer Garage nach leeren Farbeimern suchen?« Doch zumindest klappte er sein Handy wieder zu.

»Wer das hier getan hat, weiß auch, dass Claudia und Stuart versuchen, den Ritt des Goose-Creek-Jagdclubs über mein Grundstück zu verhindern. Dafür kommen nicht viele Leute in Frage.«

»Und?«

»Ich glaube, die Orlandos sind gesetzestreue Bürger. Wenn jemand aus ihren Bemühungen, die Fuchsjagd zu verbieten, Kapital zu schlagen versucht, indem er mit Drohungen arbeitet und mein Eigentum verunstaltet – und vielleicht sogar, wie Sie sagten, gefährliche Fallen an Sprüngen oder Hürden anbringt –, dann werden sie genauso wütend sein wie wir.«

Er klappte sein Handy wieder auf. »Und sie werden das Gleiche sagen wie ich: Wir sollten den Sheriff anrufen.«

»Solange meine Familie hier gelebt hat, hatten wir immer ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn«, sagte ich. »Ich mag Claudia und Stuart Orlando auch nicht, aber wir wohnen Tür an Tür mit ihnen. Zurzeit sprechen wir nicht einmal miteinander. Dies gibt mir wenigstens die Gelegenheit, das zu ändern.«

»Trotzdem müssen wir es melden.«

»Das tun wir auch. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass die beiden als Erste verdächtigt werden. Ich würde sie lieber darüber informieren, dass sie mit dem Besuch eines Hilfssheriffs rechnen müssen, als dass ein Polizeiwagen bei ihnen aufkreuzt und sie völlig unvorbereitet überfällt. Dann wird es totalen Krieg zwischen uns geben. Weil sie das hier nicht getan haben.«

Quinn zog mit einem Finger den Umriss des Rots auf einer der Säulen nach. »Sie haben nicht ganz unrecht.«

»Da gibt es noch etwas«, sagte ich. »Wer immer das hier getan hat, er wird es wieder saubermachen. Und wenn er dazu Zahnbürste und Zahnseide benutzen muss, das ist mir egal. Wenn er damit fertig ist, wird es aussehen, als sei hier nie etwas geschehen.«

Wir fuhren zur Weinkellerei zurück, und ich rief Dominique von meinem Handy aus an, um ihr zu sagen, dass es später werden würde. Ich klappte das Verdeck des Minis herunter und hoffte, die kühle Brise würde für einen klaren Kopf sorgen. Der Himmel war Williamsburg-blau, und die Sonnenstrahlen, die durch das Geäst der Bäume fielen, warfen sanfte Blitze auf meine Windschutzscheibe. Hier und da waren ein paar Blätter strahlend gelb wie Weihnachtsdekoration an einem Baum. Ich wusste, eines Morgens würde ich aufwachen, und plötzlich würde alles in flammenden Farben leuchten, und ich würde mich fragen, wie ich den Übergang hatte verpassen können.

Kurz nach halb eins kam ich zum Goose Creek Inn. Der Oberkellner entdeckte mich in der Menge der Mittagsgäste, winkte mich zu seinem Podest und küsste mich auf beide Wangen. »Sie ist in der Küche. Ich soll Ihnen sagen, dass es nicht lange dauert.«

»Irgendeine Krise, mit der nur sie fertig wird?«

Er rollte die Augen. »Chérie, sie ist die Einzige, die mit Krisen fertig wird.«

»Macht Sie das nicht langsam verrückt?«

»Ich habe mich an sie gewöhnt. Vielleicht haben Sie vergessen, dass ich hier bin, seit Ihr Patenonkel noch selbst gekocht hat. Jetzt schmerzen mir die Füße, und ich habe Krampfadern durch das jahrelange Stehen. Daran habe ich mich auch gewöhnt.«

Ich lächelte. »Ich gehe davon aus, dass wir an ihrem Tisch sitzen?«

»Sie meinte, Sie würden es vielleicht genießen, draußen zu essen. Ist es Ihnen recht?«

»Ja. Sehr schön.«

»Die Bedienung wird Sie hinführen. Wenn Sie vielleicht un petit instant warten wollen?«

Dominique kam herangerauscht, nachdem ich mich gerade gesetzt hatte. Sie küsste mich abwesend, stellte einen Aschenbecher neben ihren Platz und zog eine Schachtel Zigaretten aus einer Tasche ihrer schwarzen Hose.

Irgendwie schien ich an diesem Tag nur Leuten zu begegnen, die aussahen, als hätten sie das Wochenende damit verbracht, sich von einer Dampfwalzen-Kolonne überrollen zu lassen.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist.« Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schloss die Augen.

Meine Cousine hatte sich nicht wegen des fantastischen Wetters dazu entschieden, draußen zu essen. Sie musste rauchen, und das war im Restaurant verboten.

»Gern geschehen! Was ist los? Nichts für ungut, aber du siehst scheußlich aus.«

»Ich fühle mich auch scheußlich. Wie wär’s mit einem Glas Champagner?« Sie hob ihre Hand, und der Kellner erschien an unserem Tisch. »Deux coupes de champagne, s’il vous plaît

Nachdem er gegangen war, sagte sie: »Joe und ich haben uns endgültig getrennt. Er geht.«

Napoleon sagte einmal, mit einem Sieg habe man sich einen Champagner verdient, doch nach einer Niederlage habe man ihn nötig. Meine Cousine hatte ihn nötig.

»Er geht? Was heißt das?«, fragte ich.

»Er verlässt alles. Die Academy. Atoka.« Aus ihren Augen sprach Schmerz. »Mich.«

Ich ergriff ihre Hand, nachdem unser Champagner gekommen war. »Das tut mir leid.«

Sie sog an ihrer Zigarette, als ginge es um ihr Leben. »Ein paar Eltern haben Wind davon bekommen, dass einer der Lehrer in eine Morduntersuchung verwickelt ist. Sie waren der Meinung, so jemand habe im Lehrerkollegium der Academy nichts zu suchen.«

»Er ist gefeuert worden?«

Dominique nickte. »Kündigungsfrist zwei Wochen. Übrigens, ich habe unser Essen schon bestellt, bevor du hier Platz genommen hast.«

Ihre Welt konnte zusammenbrechen, sie musste trotzdem Superwoman bleiben, die sich um alles und jeden kümmerte. »Toll!«, sagte ich. »Und Joe hat niemanden umgebracht.«

»Das spielt keine Rolle. Er hat sich den Ärger selbst eingebrockt, als er mit dieser Frau geschlafen hat, und jetzt ist es zu spät.«

»Vermutlich«, sagte ich. »Obwohl das ziemlich überzogen scheint.«

Sie zuckte die Achseln, während der Kellner zwei Teller mit Lachstartar vor uns niedersetzte. Ich hoffte, sie würde wenigstens während des Essens ihre Zigarette weglegen. Selbst hier draußen war der Rauch lästig.

»Was will er denn jetzt tun?«, fragte ich.

»Nach Washington gehen. Du weißt doch, wie dringend die bei ihrem Schulsystem Lehrer brauchen. Da findet er sofort einen Job, selbst mitten im Schuljahr.«

»Warum muss er dorthin umziehen? Warum kann er nicht hierbleiben und pendeln?«

Sie zündete sich eine neue Zigarette am Ende der anderen an. »Er hat das Gefühl, dass ihm die Geschichte ewig nachhängen wird, wenn er in Atoka bleibt.«

»Und du sorgst dafür, dass du Lungenkrebs bekommst.«

Sie blickte mich kritisch an. »Wir haben hervorragende Gene. Nimm doch nur mal Pépé. Der raucht, seit die Dinosaurier über die Erde gelaufen sind, und dem geht es gut.«

Damit lag sie nicht ganz falsch. »Wie geht es dir denn?«, fragte ich.

»Ich könnte Joe erwürgen wegen dem, was er getan hat. Ansonsten ist alles in Ordnung.«

»Wenigstens unterdrückst du deine Gefühle nicht. Das ist ein gutes Zeichen.«

Unsere leeren Teller wurden abgeräumt und ein Salat mit Ziegenkäsecroutons und Kräutern serviert. Dominique bat um etwas mehr Brot.

»Ich habe ein bisschen herumtelefoniert«, sagte sie. »Und dabei habe ich einiges erfahren.«

»Über Valerie?« Ich blickte von meinem Salat hoch. »Warum hast du das getan?«

Ein weiterer Zug an der Zigarette. »Ich wollte es wissen.« Sie schaute mich starr an. »Guck mich nicht so an. Du hättest an meiner Stelle dasselbe gemacht.«

Ich dachte an die Fragen, die ich Mick gestern gestellt hatte, und wie ich heute Morgen im Weinkeller Quinn die Informationen aus der Nase gezogen hatte. Wir besaßen wirklich die gleichen neugierigen Gene.

»Die University of Virginia hat sie gefeuert, und sie hatte Schulden. Als sie aus Frankreich zurückkam, hatte sie keinen festen Wohnsitz. Sie wohnte bei verschiedenen Freunden in Charlottesville, um keine Miete zahlen zu müssen.« Meine Cousine stach mit der Gabel aggressiv auf ihren Salat ein. »Sie hat jedem, der ihr Geld geliehen hat, Versprechungen gemacht, sie würde es zurückzahlen, sobald sie mit dem Jefferson-Buch fertig wäre. Aber das hat sie nie getan.«

Ich schaute ihr beim Essen zu. »Da hast du mit ein paar Telefonaten aber eine ganze Menge herausgefunden. Wie hast du das gemacht? Einen Privatdetektiv engagiert?«

Sie hob den Kopf. »Ich habe überhaupt niemanden engagiert. Du darfst nicht vergessen, dass ich Kunden habe, die ich schon seit Jahren kenne. Vielleicht gehe ich ja verständnisvoll mit jemandem um, der ein diskretes Abendessen mit seiner Freundin wünscht. Und vielleicht möchte er seine Wertschätzung zeigen, dass ich jedes Mal ein Séparée für ihn und seine Freundin bereithalte, wenn er hier auftaucht, und dass ich nie ein Wort sage, wenn er mit seiner Frau erscheint.«

»Oh!«, sagte ich. »Eine Hand wäscht die andere. Eine milde Form von Erpressung.«

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.« Sie lächelte sanft. »Ich wüsste gerne, woher Valerie das Geld bekommen wollte.«

»Jedenfalls nicht durch den Verkauf der Bücher, das ist sicher. Vielleicht hat sie ja Jack Greenfield zu erpressen versucht, obwohl Jack nicht derjenige war, der an ihrem Auto herumgebastelt hat.«

»Wer war es?«

»Ich weiß es nicht. Nicole Martin versucht, Jack dazu zu bringen, dass er ihr den Washington-Wein für einen ihrer Klienten verkauft«, sagte ich. »Wusstest du, dass sie und Valerie befreundet waren?«

»Ist das nicht interessant?« Dominique rollte die Augen, während sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. »Freundinnen also. Jetzt ist Valerie tot, und Nicole bekommt die Flasche.«

»Nicole kam erst hierher, nachdem Valerie gestorben war«, sagte ich. »Aber ein seltsamer Zufall ist es trotzdem.«

»Falls es ein Zufall ist. Es sieht so aus, als ob noch ein Teilchen im Puzzle fehlt«, sagte meine Cousine. »Irgendetwas scheint uns auf die falsche Fährte zu führen. Man müsste nur wissen, was es ist.«

»Gewiss.«

Falls ich nicht überhaupt versuchte, das falsche Puzzle zusammenzusetzen. Und darüber begann ich mir langsam Gedanken zu machen.