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Kapitel 2

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Wasser so kalt und die Strömung so stark sein würden. Zum Glück war der Fluss an der Stelle, wo der Wagen hineingestürzt war, nur knietief, und so konnte ich meine Krücke benutzen, um mich aufrecht im schnell fließenden Wasser zu halten.

Ich schaute durch das Fenster der Beifahrerseite und rief ihren Namen, doch sie rührte sich nicht. Bis zur Höhe des Flusses war der Wagen voll Wasser. Die Fenster waren offen, und das hindurchrauschende Wasser dröhnte mir in den Ohren. In der Nähe von Valeries Körper war es leicht rosa gefärbt, und mein Magen rebellierte erneut.

Ich vermutete, das Auto müsse wie ein Fass vornüber die Böschung hinabgestürzt sein, denn das Dach war an der Windschutzscheibe eingedrückt und der Airbag hatte sich aufgeblasen, woraus ich schließen konnte, dass der Wagen frontal auf etwas Hartes geprallt war. Der leichte Geruch von Schießpulver hing noch immer im Inneren des Autos. Valeries Gesicht befand sich über dem Wasserspiegel, doch das eingedrückte Dach – das aussah, als sei es für Valeries Verletzungen verantwortlich – hatte die Kopfhöhe des Innenraums so sehr verringert, dass zwischen Valerie und dem Wasser nur noch wenig Platz war. Die Enden ihres blonden Haars, das sie offen getragen hatte, strichen über die Oberfläche des wirbelnden Wassers, genauso wie ihre Hände, da die Arme jetzt wie bei einem zum Himmel Betenden über den Kopf gestreckt waren.

Ich kämpfte mich zur Frontseite des Wagens vor und hielt mich daran fest, um nicht wegzurutschen. Plötzlich ruckte das Fahrgestell fürchterlich, und ich ließ es in Panik los. War es auf dem Ast eines Baums oder etwas anderem gelandet, das ihm nur wenig Halt gab? Was immer es sein mochte, ich musste Valerie da herausholen – sie aus ihrem Sicherheitsgurt befreien und ans Flussufer bringen.

Ich hängte meine Krücke an den Seitenspiegel und unterdrückte den Drang, mich zu übergeben, während ich an der Fahrerseite durch das Fenster schaute. Valeries Gesicht und Haare waren blutig, und es sah aus, als habe sie an der linken Seite ihres Oberkörpers Verletzungen erlitten. Ihre Augen waren geschlossen, und sie schien nicht zu atmen. Ich versuchte, ihre Halsschlagader zu finden, und meine Hand kam blutverschmiert wieder zum Vorschein.

Sie war tot.

»Oh, mein Gott, Valerie«, sagte ich zu ihr. »Es tut mir so leid. Ich hole dich hier raus, Schätzchen. Man soll dich nicht wie einen aufgehängten Fisch finden.«

Das eingedrückte Dach hatte beide Vordertüren so verklemmt, dass es unmöglich war, sie zu öffnen. Die hinteren Türen waren verschlossen. Ich fand den Knopf, um sie zu öffnen, und hörte, wie die Verriegelung aller vier Türen aufsprang.

Sobald ich Valeries Sicherheitsgurt lösen würde, würde sie wie ein Stein ins Wasser fallen. Ich musste sie also vorher zu fassen kriegen und dann versuchen, sie aus dem Wagen zu ziehen. Sie war größer als ich und wog vermutlich fünf Kilo mehr – vielleicht an die sechzig Kilo, grob geschätzt. Hoffentlich war ich in der Lage, sie zu tragen, und das, ohne meine Krücke benutzen zu können. Falls es ganz schlimm kommen sollte, würde ich sie eben durchs Wasser ziehen müssen.

Jetzt spielte es auch keine Rolle mehr, wenn noch weitere Verletzungen hinzukamen.

Die einzige Möglichkeit, in den Wagen zu gelangen, war durch eine der beiden hinteren Türen. Der Rahmen zwischen den Türen an der Fahrerseite war ebenfalls verbogen, doch nicht so stark, dass ich die hintere Tür nicht hätte öffnen können. Ich riss mit aller Kraft am Griff, und der Wagen begann wieder, gefährlich zu schwanken.

»O mein Gott!«, sagte ich atemlos. »Bitte bleib, wo du bist!« Ich zog die Tür mit einem Ruck auf, und durch die Bewegung bekam meine Krücke einen Stoß und rutschte vom Außenspiegel. Sie plumpste in den Fluss, wurde sofort von der Strömung erfasst und trieb davon. Ich machte noch einen Versuch, sie zu schnappen, dann ließ ich es. Es hatte keinen Zweck.

Inzwischen hatte das Wasser im Auto eine dunklere rosa Färbung angenommen, schon fast kirschrot. Ich quetschte mich zwischen die beiden Vordersitze. Wenn es mir gelang, die Rückenlehne von Valeries Sitz ganz nach unten zu bringen, würde ich sie direkt auf die Rückbank ziehen können, sobald ich den Sicherheitsgurt geöffnet hatte. Dazu musste ich allerdings beides nahezu synchron durchführen und dabei in dem beengten Raum auch noch irgendwie die Balance halten.

Ich wand meine Hand zwischen ihrem Sitz und der Tür, bis ich den Hebel gefunden hatte. Der Sitz ächzte unter ihrem Gewicht, doch ich zog weiter daran, sodass die Rückenlehne schließlich fast horizontal lag. Valeries Gesicht befand sich plötzlich direkt neben meinem, blutig und zerschmettert. Ich holte tief Luft.

»Also dann«, sagte ich zu ihr, »bei drei geht’s los.« Ich zählte und drückte auf den Auslöser des Sicherheitsgurts. Der Gurt blieb an einem Knopf ihrer Jacke hängen, und als ich diesen zu befreien versuchte, fiel sie auf mich, und ich wurde in den Rücksitz geschleudert. Mein kaputter Fuß gab nach, und ich verlor das Gleichgewicht. Wenigstens schluckte ich kein Wasser.

Ich kroch rückwärts aus dem Auto und stieg ins Wasser, wobei ich über irgendetwas strauchelte. Valerie wurde mitgerissen, und zusammen stürzten wir ins Wasser. Mein Kopf drohte zu zerspringen, und mein Rücken fühlte sich an, als habe ihn jemand mit dem Rasiermesser aufgeschnitten. Diesmal schluckte ich Wasser, und es schmeckte wie saures Metall. Ich hustete und spuckte. Allmächtiger Gott, was schütteten die Leute bloß in den Goose Creek?

Bis ich uns beide zum Ufer geschleppt hatte, war Valeries Blut in meine Kleidung gedrungen, und ich zitterte vor Kälte und Schmerzen. Mein Rücken schien in Flammen zu stehen. Ich hatte gesehen, worüber ich gefallen war. Äste.

Ich griff in meine Tasche und holte das Handy heraus. Voll Wasser und hinüber. Keine Chance, mich erneut beim Notruf zu melden oder jemand anderen anzurufen.

Als die ersten Feuerwehr- und Rettungswagen eintrafen, lag ich auf der Seite, Valerie neben mir. Ich hörte jemanden rufen, es gebe zwei Opfer, und dann kniete sich ein Mann im Feuerwehranzug neben mich.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Sie ist mit dem Wagen von der Straße abgekommen und in den Fluss gestürzt. Ich habe sie rausgeholt, aber ich glaube, es war zu spät.«

»Wir bringen Sie ins Krankenhaus, Miss«, sagte er.

Ich versuchte, mich hinzusetzen. Es fühlte sich an, als sei mein Kopf in einen Schraubstock gespannt, und der Rücken hämmerte.

»Ich war nicht im Auto«, sagte ich. »Ich bin über einen Ast im Fluss gestolpert, als ich sie herausgezogen habe. Ich habe mich am Rücken geschnitten und vielleicht ein paar Beulen, aber das ist alles.«

Ein Sanitäter kam zu uns. »Sie müssen ins Krankenhaus.«

Er meinte das Catoctin General drüben in Leesburg. Dort hatte ich vor drei Jahren nach meinem Unfall Monate verbracht und wieder gehen gelernt. Ich wollte nicht erneut in dieses Krankenhaus, und schon gar nicht wegen einiger Schrammen. Selbst jemanden dort zu besuchen rief in mir Erinnerungen wach, die ich lieber vergessen wollte.

»Danke, ich verzichte«, sagte ich. »Ich muss nicht ins Krankenhaus.«

Der Sanitäter war jung und hatte kurzes Stoppelhaar, ein gesundes, quadratisches Gesicht und freundliche Augen. Überrascht riss er die Augen auf, und ich erwartete schon, dass er mir widersprechen würde. Stattdessen sagte er: »Lassen Sie mich einen Blick auf Ihren Rücken werfen.«

Dafür musste er meine Bluse aufschneiden. »Sieht aus, als hätte da jemand saubere Kreuzstiche gemacht. Wie haben Sie das bewerkstelligt?«

»Bevor ich gefallen bin, habe ich die Äste in Reihen geordnet.«

»Sehr schön«, sagte er. »Also, ich werde die Schnittwunden reinigen, eine antibakteriell wirkende Salbe auftragen und sie dann verbinden. Sticht vielleicht ein bisschen.«

»Jetzt sticht es.«

Über die tiefsten Schnitte klebte er Mullbandagen. Ich biss auf die Zähne und stöhnte nur ein einziges Mal, während er das tat.

»Ganz ruhig«, sagte er. »Wir sind gleich fertig.«

»Danke!«

»Ich hoffe, Sie können ein paar Tage auf dem Bauch schlafen«, sagte er. »Die Verbände müssen Sie regelmäßig wechseln – das heißt, jemand muss es für Sie tun. Sobald sich Schorf auf den Wunden bildet, sollten Sie sie unbedeckt lassen. Dann heilen sie besser.«

»Bleiben Narben zurück?« Ich sagte nicht, dass ich keinen ›Jemand‹ hatte, der das für mich tun konnte.

»Vielleicht. Und Sie wollen ganz sicher nicht ins Krankenhaus?« Er wickelte mir eine Decke um die Schultern, da meine Bluse nur noch aus Fetzen bestand. Ich schaute zur anderen Seite und sah, dass Valeries Körper mit irgendeinem Stoff zugedeckt worden war.

»Ganz sicher.«

»Ich muss ein paar Formulare ausfüllen, die bestätigen, dass Sie eine weitere ärztliche Behandlung ablehnen. Und irgendjemand muss kommen und Sie abholen, nachdem Sie hier nicht mehr gebraucht werden«, sagte er. »Sie sind nicht in der Lage, selbst zu fahren.«

Eine Beamtin des Sheriff’s Department kauerte sich neben uns. »Ich würde gerne mit Ihnen reden, Miss Montgomery, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte sie. Auf ihrem Aufnäher stand: G. Hernandez.

»Bitte.« Weitere Rettungswagen waren gekommen und blockierten die Straße. Valeries Auto lag immer noch im Fluss, doch jetzt war es umringt von einem halben Dutzend Polizeibeamten und Feuerwehrleuten mit Gummistiefeln.

»Was ist geschehen?« Sie schlug einen Spiralblock auf.

»Als ich hier ankam, lag der Geländewagen im Fluss. Ich nehme an, dass sie aus der Kurve geflogen ist.«

Hernandez schlug mit dem Stift auf die Kante ihres Notizblocks. Ich folgte Ihrem Blick von der Straße zu der Flugbahn, die Valeries Auto in den Goose Creek genommen haben konnte. »Wir wissen erst mehr, wenn wir den Wagen herausgehoben haben und die CRU ihn untersucht hat.«

»CRU

»Crash Reconstruction Unit. Sind sie einem anderen Fahrzeug begegnet, bevor Sie hier eingetroffen sind?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Sie sind also einfach so die Straße entlanggefahren und sahen sie?«

»Eigentlich habe ich sie gesucht.«

Hernandez streckte sich. »Wie kommt es, dass Sie sie gesucht haben?«

»Sie wollte heute Morgen zu meinem Weingut kommen. Wir waren verabredet. Danach wollte sie vor einer Gruppe von Schülerinnen der Middleburg Academy einen kleinen Vortrag halten. Der Lehrer rief mich an, weil sie dort nicht erschienen war, und er erzählte mir, sie habe etwas weiter die Straße rauf im Fox and Hound übernachtet. Er bat mich, dort vorbeizuschauen und herauszufinden, weshalb sie sich verspätete.«

»Wie heißt sie?« Hernandez schrieb weiter, ohne aufzusehen.

»Valerie Beauvais.«

»Würden Sie das bitte buchstabieren? Den Nachnamen.«

Ich buchstabierte.

»Sind Sie mit ihr befreundet?«

»Nicht wirklich. Ich habe sie gestern Abend bei einem Abendessen auf Mount Vernon getroffen. Sie hielt dort einen Vortrag über ein Buch von ihr, das vor kurzem erschienen ist.«

»Hat sie auf Mount Vernon Schwierigkeiten mit dem Auto erwähnt? Vielleicht eine Reifenpanne?«

»Mir gegenüber nicht. Warum?«

Sie deutete auf den Geländewagen. »Haben Sie nicht bemerkt, dass ein Rad fehlt?«

Jetzt erst sah ich, dass an der Fahrerseite das Hinterrad fehlte. »Oh, mein Gott, das ist mir gar nicht aufgefallen.« Hernandez beobachtete mich. »Ich wollte sie so schnell wie möglich aus dem Auto holen.«

»Richtig.« Hernandez zeigte auf den Mini. »Ist das da drüben Ihr Wagen?«

»Ja.« Zwei Polizisten standen neben ihm. Ich sah, wie sich einer der beiden über die Windschutzscheibe beugte und etwas aufschrieb. Wahrscheinlich die Fahrgestell-Nummer.

»Entschuldigung, Sie glauben doch nicht etwa, dass ich …?« Ich starrte die Polizeibeamtin an. Sie erwiderte meinen Blick ohne jede Regung, doch mir war klar, dass meine fassungslose Reaktion sie immer noch beschäftigte.

»Ihnen ist sicher bewusst, dass wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen müssen«, sagte sie. »Erstens waren Sie am Unfallort. Zweitens kennen Sie die Tote.«

»Brauche ich einen Anwalt?«, fragte ich.

»Derzeit wird Ihnen nichts vorgeworfen. Sehe ich das richtig, dass Sie sich weigern, ins Krankenhaus zu gehen?«

Mein Sanitäter nickte. »Ich habe ihre Wunden verbunden. Den Rest des heutigen Tages sollte sie vorsichtig sein, aber es dürfte gehen. Und sie sollte nicht selbst fahren.«

»Ein Beamter wird Sie nach Hause bringen.« Hernandez stand auf. »Es kann aber noch eine Weile dauern. Außer Sie haben jemanden, den Sie anrufen können – vielleicht einen Verwandten?«

Mein voll Wasser gelaufenes Handy lag neben mir. »Würden Sie mir bitte Ihr Handy leihen?«

Sie gab es mir, und ich öffnete es, war aber plötzlich unsicher, wen ich anrufen sollte. Falls ich meinen Bruder Eli bat zu kommen, würde er nach seinem Eintreffen nur jammern, dass er es furchtbar eilig habe, noch ein paar Entwürfe für Häuser fertigzustellen, sonst würde sein Klient an die Decke gehen, und ich möge doch bitte keine Wasser- oder Blutspritzer auf den Ledersitzen seines kostbaren Jaguars hinterlassen. Meine Schwester Mia war auf dem College in Harrisonburg.

Ich begann, Micks Nummer einzutippen, löschte sie aber wieder. Hernandez beobachtete mich.

»Wir können Sie bringen …«

»Danke. Das ist nicht nötig.« Ich rief Quinn Santori an, meinen Winzer. Als er sich meldete, sagte ich: »Ich sitze hier irgendwie in der Patsche. Wäre es möglich, mich abzuholen? Eine Beamtin des Sheriff’s Department und ein Sanitäter sagen, ich könne nicht selbst fahren.«

Er nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. »Und ich dachte schon, mein Tag wäre im Eimer, weil die Pumpe Ärger macht. Wo sind Sie?«

Zehn Minuten später kam er mit seinem El Camino in Grünmetallic angerauscht und hielt hinter einem Kranwagen und einem Tieflader mit dem Logo des Loudoun County Sheriff’s Department darauf. Wie üblich trug er die Hose eines Kampfanzugs, ein altes Hawaiihemd und mehr Schmuck als die meisten Frauen.

Die Polizeibeamtin musterte Quinn. »Ist das der Mann, der Sie fährt?«

»Er ist es.«

Kurz bevor mein Vater im Jahr zuvor gestorben war, hatte er Quinn angeheuert, nachdem unser Winzer, den ich sehr verehrt hatte, wegen eines leichten Schlaganfalls nach Frankreich zurückgekehrt war. Quinn wäre nicht meine erste Wahl gewesen, vermutlich sogar nicht einmal meine letzte. Ich wusste, dass er dasselbe über mich sagen würde. Doch während der letzten Monate hatte er aufgehört, sich zu verhalten, als könne alles, was ich über die Herstellung von Wein wusste, innerhalb von maximal zehn Minuten gesagt werden. Und ich gewöhnte mich schließlich daran, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der das Verhalten von Dirty Harry an den Tag legte und den Kleidergeschmack eines Billigladen-Stammkunden hatte.

»Was ist passiert?« Zu meiner Überraschung war sein Gesicht unter der verschwindenden Sonnenbräune ganz weiß. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ich erzählte, was geschehen war.

»Sie sind wegen dieser Frau in den Fluss gestiegen?«, fragte er.

»Sie befand sich noch immer im Auto. Ich konnte sie doch nicht einfach dort lassen.«

»Sie sind ja von oben bis unten voller Blut. Wie ist denn das passiert?«

»Ich bin im Fluss ausgerutscht, und ein Ast war mir im Weg. Ich habe ein paar Kratzer auf dem Rücken. Können wir jetzt bitte verschwinden?«

»Setzen Sie sich aufrecht hin. Ich muss Sie tragen.«

»Ich brauche nicht getragen zu werden. Ich kann hervorragend gehen, wenn Sie mir aufhelfen. Und wenn ich mich vielleicht auf Ihren Arm stützen darf.«

»Wo ist Ihre Krücke?«

»Irgendwo zwischen hier und Leesburg, ganz wie es dem Fluss gefällt.«

Er half mir hoch. Mein kaputter Fuß gab nach, und sein Arm legte sich um meine Taille. »Hören Sie auf, die Märtyrerin zu spielen, und lassen Sie sich tragen.«

»Es geht schon.«

»Na klar, mit Pudding in den Beinen. Ich hätte nicht übel Lust, Sie mir einfach über die Schulter zu werfen.«

»Das würde ich Ihnen nicht raten.« An seinem Hemd haftete der leichte Geruch seiner favorisierten Swisher Sweet Zigarren. Ich atmete ihn wie beruhigenden Weihrauch ein und war froh, ausgerechnet Quinn angerufen zu haben. »Vielleicht kann Manolo oder jemand anderes von unseren Leuten den Mini holen.«

»Ich kümmere mich schon darum. Sehen wir erst mal zu, dass Sie nach Hause kommen.«

»Es gibt da noch etwas.«

»Ja?«

»Valeries Wagen hat ein Rad verloren. Das ist möglicherweise der Grund, weshalb sie in den Fluss gestürzt ist. Man beschuldigt mich nicht direkt, aber da ich sie kannte und man mich hier am Unfallort antraf …«

»Diese Polizistin glaubt, Sie hätten mit diesem Spielzeugauto so einen Klotz von Geländewagen von der Straße geräumt?« Er schaute zum Mini hinüber. Zumindest klang es so, als würde er nicht glauben, dass ich es getan hatte.

»Ich weiß es nicht.« Die Schnittwunden brannten, und mein Kopf schmerzte. »Sie untersuchen es.«

Quinn hielt mir die Tür des El Camino auf, und ich ließ mich vorsichtig auf dem Beifahrersitz nieder. »Jesus«, sagte er, »das ist schon übel, den Tag so zu beginnen.«

Ich wusch mir das Haar im Spülbecken und ersetzte ein reinigendes Bad durch eine Katzenwäsche mit dem Schwamm, damit die Verbände nicht nass wurden. Als ich schließlich fertig war und eine doppelte Dosis Ibuprofen geschluckt hatte, hatte Manolo, der Hectors alten Job übernommen hatte, in der Zwischenzeit den Mini vorbeigebracht.

Da ich schlecht in einem Zelt herumlaufen konnte, war es mir unmöglich, meine Verletzungen zu verbergen, zumal ich jetzt an Armen und Beinen einige aufsehenerregende Blutergüsse hatte. Ich durchstöberte meinen Kleiderschrank und entschied mich für ein langes schwarz-weißes Baumwollkleid mit Nackenträger und tief ausgeschnittenem Rückenteil, um jeden Druck auf die Wunden zu vermeiden, und einen schwarzen Pashmina-Schal, der die Verbände verdecken sollte.

Joe hatte sowohl in der Weinkellerei als auch bei mir zu Hause Nachrichten hinterlassen, und zweifellos ebenfalls auf meinem nicht mehr funktionierenden Handy. Ich beschloss, ihm Auge in Auge von Valerie zu berichten. Nachrichten wie diese durfte man nicht einfach am Telefon überbringen. Und um ehrlich zu sein, ich wollte auch wissen, welche Beziehung zwischen dem Verlobten meiner Cousine und der Verstorbenen bestanden hatte. Waren sie ein Liebespaar gewesen? Joe hatte sich gestern Abend wahrlich keine Mühe gegeben zu verbergen, dass sie mehr als nur gewöhnliche Freunde waren.

Ich musste mich ganz vorsichtig in den Mini zwängen, doch ich fühlte mich immerhin klar genug im Kopf, um selbst zu fahren. Und zur Sicherheit hatte ich noch das Ibuprofen dabei.

Die Middleburg Academy lag auf einem abgelegenen, zwanzig Hektar großen Gelände mit säuberlich gemähtem Rasen und gepflegten Gärten. Ich hatte die Blue Ridge High besucht, die örtliche staatliche Highschool, die den architektonischen Charme eines Hochsicherheitsgefängnisses besaß. Der schön anzusehende Campus der Academy mit seinen efeubewachsenen grauen Steingebäuden, Zinnen und Türmchen zeugte vom Einfluss altehrwürdigen Geldes und großer Tradition. Die Schülerinnen waren Töchter von Senatoren, Scheichs, Unternehmensbossen und Hollywoodgrößen. Neben dem normalen Schulbetrieb wurden die Mädchen von den Lehrern ermuntert, ihre eigenen Pferde mitzubringen und während des Schuljahrs auf dem Hof einzustellen – was die meisten von ihnen taten.

Ich fuhr die von Eichen gesäumte Privatstraße hinauf an einem Springbrunnen vorbei, der von einem Beet voller Herbst-Chrysanthemen in den Schulfarben Burgunderrot und Gold umgeben war. Im Frühling sorgten die Gärtner für Blumenarrangements, die die Initialen ›MA‹ zeigten. Sobald eine Pflanze vertrocknete und den perfekten Eindruck stören konnte, wurde sie unverzüglich ersetzt. Ich ließ den Mini auf dem Parkplatz nahe dem Hauptgebäude stehen. Joes roter Toyota Camry, leicht erkennbar an dem Aufkleber ›Virginia: First in Wine‹ an der Stoßstange, den ich ihm gegeben hatte, parkte ein paar Autos weiter.

Der Empfangsbereich der Schule mit seinen dunklen getäfelten Wänden, Samtsofas, abgetretenen orientalischen Teppichen, dem großen Kamin und Ölgemälden der Schulleiterinnen und bedeutender Spender erinnerte an das Foyer eines vornehmen englischen Hotels. Die Frau am Empfang trug einen gediegenen schwarzen Hosenanzug und eine einreihige Perlenkette.

»Kann ich Ihnen helfen?« Sie setzte ihre Hornbrille ab und betrachtete mich von oben bis unten.

Der Schal war mir von der Schulter gerutscht. Ihr Blick huschte von meinem Gesicht zur Schulter, und ich schaute ebenfalls dorthin. Die Frau starrte auf einen roten, übel aussehenden faustgroßen Bluterguss.

Ich zog den Schal auf seinen alten Platz und sagte: »Ich möchte Joe Dawson sprechen.«

»Dr. Dawson erteilt derzeit Unterricht.« Ihrer Stimme nach zu urteilen hatte ich keinen guten ersten Eindruck hinterlassen.

»Es handelt sich um einen Notfall, sonst wäre ich nicht hier.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wenn es sich um eine Privatangelegenheit handelt …«

Toll! Sie glaubte also, mein Freund habe mich verprügelt.

»Es hat einen Unfall gegeben, in den jemand verwickelt ist, den er kennt«, sagte ich. »Jemand anderes. Nicht ich. Bitte, es ist wichtig!«

»Oh.« Sie setzte ihre Brille wieder auf, und jetzt schaute sie mich genauer an. »Ich dachte, es beträfe Sie. Bitte nehmen Sie Platz. Ich werde ihn sofort informieren. Wen darf ich ihm melden?«

Ich sagte es ihr, und sie griff nach dem Telefonhörer.

Fünf Minuten später hörte ich Schritte auf der Marmortreppe um die Ecke, und Joe kam herangelaufen.

Als ich mich vom Sofa erhob, verrutschte mein Schal erneut. Joes Blick wanderte sofort, genau wie bei der Empfangsdame, zu meiner Schulter.

»Mein Gott, Lucie! Was ist passiert? Den ganzen Tag über habe ich versucht, dich zu erreichen.« Er durchquerte schnell die Halle und fasste mich an den Händen. In einer piekfeinen Schule wie dieser erwartete man vom Lehrkörper, dass man gepflegt und angemessen gekleidet erschien. Joe war an diesem Morgen offensichtlich nicht dazu gekommen, sich ordentlich zu rasieren. Auf seiner Krawatte prangte ein Fleck, und am Ärmel seines marineblauen Blazers klebten Reste von Radiergummi. Um die Augen hatte er dunkle Ringe. Hoffentlich hielten sich nicht gerade irgendwelche Schulinspektoren zu einer Konferenz in der Stadt auf.

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte ich.

»Natürlich, sicher.« Er wandte sich an die Empfangsdame. »Janice, ist irgendwer im Konferenzzimmer?«

Janice machte ein Gesicht, als könnten wir ihretwegen bleiben, wo wir waren, denn sie hätte nur zu gerne gewusst, um was es ging. »Oh, nein. Es ist frei. Sie können es benutzen.«

In dem kalten, stickigen Raum befanden sich weitere Gemälde von verstorbenen Schuldirektorinnen. Alle hatten ein leichtes Lächeln amüsierter Überlegenheit auf den Lippen und Augen, die einem überallhin zu folgen schienen. Joe schaltete das Licht ein und zog einen Mahagonisessel mit burgunderrotem Lederpolster vom Konferenztisch.

»Setz dich, Zuckerpüppchen!«

Er lächelte, doch seine Augen waren ernst. Zumindest hatte er seinen Lieblings-Spitznamen für mich benutzt. Ich setzte mich vorsichtig hin und lehnte die Metallkrücke, die ich damals nach meinem ersten Unfall im Krankenhaus bekommen hatte, an den Tisch.

Joe nahm den Sessel neben mir und schlug die Beine übereinander. Auch seine Socken passten nicht zusammen – einer blau, der andere braun.

»Was ist mit dir passiert? Soll ich dir etwas holen? Wasser?«, fragte er. »Wo ist Valerie?«

»Nein, danke!« Ich schüttelte den Kopf und nahm eine seiner Hände zwischen meine. »Es tut mir furchtbar leid, es dir sagen zu müssen, aber Valerie hatte heute Morgen einen Autounfall. Deshalb hast du nichts von ihr gehört.«

Joes jugendliches, gutes Aussehen mit den Grübchen, wenn er lachte, führte immer noch dazu, dass er sich ausweisen musste, wenn er Alkohol kaufen wollte, obwohl er bereits Mitte dreißig war. Sein Gesichtsausdruck versteinerte, und plötzlich wirkte er viel älter. »Liegt sie im Krankenhaus?«

»Nein«, sagte ich. »Ihr Wagen kam an dieser Haarnadelkurve zwischen dem Fox and Hound und meinem Weingut von der Straße ab. Irgendwie hat sich ein Rad gelöst, und sie stürzte in den Goose Creek. Sie hat den Unfall nicht überlebt. Ich dachte, ich sollte es dir persönlich mitteilen.«

Während ich sprach, hatte er genickt. Und er nickte immer noch, nachdem ich fertig war, als müsse er erst verarbeiten, was ich sagte, wäre aber noch nicht an dem Punkt angelangt, dass Valerie tot war.

»Es tut mir leid«, wiederholte ich.

Er hörte auf zu nicken, und der Glanz in seinen Augen erlosch. »Hast du dir dabei diese Blutergüsse zugezogen?«

»Ich habe sie aus dem Wagen geholt, der sich mit Wasser füllte. Als ich eintraf, war sie schon tot. Niemand hätte sie retten können.«

»Verstehe.« Er zog seine Hand zurück, fasste nach einem Ende meines Schals und rieb seine Finger so lange an den Fransen, dass ich schon glaubte, seine Hand müsste die Farbe des Schals annehmen. »Du hast ganz schöne Schläge abbekommen. Und du sitzt so komisch. Was hast du denn mit dir selbst angestellt?«

»Ich bin gestürzt, als ich sie aus dem Wagen gezogen habe. Es ist nichts Ernsthaftes.«

Er beugte sich zu mir herüber, und seine Hände umklammerten mich. »Wie konnte sich ein Rad von ihrem Auto lösen?« Seine Stimme war schwer vor Gram. »Wie konnte sie gleich tot sein?«

»Der Sheriff versucht, es herauszufinden.« Ich sagte ihm nicht, dass man auch untersuchte, ob ich etwas mit dem Unfall zu tun hatte. »Man wird den Unfallhergang rekonstruieren.«

Er barg sein Gesicht in meinem Haar. »Ich hätte sie heute Morgen hierher fahren sollen. Dann wäre es nicht passiert. Es ginge ihr gut.«

»Hör auf!«

Er ließ die Arme sinken, stand auf und starrte auf das Porträt einer dunkelhaarigen Schuldirektorin, die zur Fuchsjagd in Reithose, Stiefel, ein weißes Hemd mit Halsbinde und die rote Reitjacke gekleidet war, wie sie der Herrin über die Hundemeute gebührte. Ich fragte mich, ob er versuchte, nicht zu weinen.

»Sie war nicht nur eine alte Freundin aus Studienzeiten, wie du mir erzählt hast, nicht?«, sagte ich. »Ich habe euch gestern Abend gesehen. Ihr wart ineinander verliebt. Jedenfalls sah es danach aus.«

Er wendete den Blick vom Porträt ab und schaute mich an. Sein Gesichtsausdruck wurde härter, und ich wusste, dass ich eine Grenze überschritten hatte, hinter der ich seiner Meinung nach nichts zu suchen hatte. »Ich habe mich um sie gekümmert. Na und?«

»Was ist mit Dominique«, fragte ich, »deiner Verlobten?«

Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade eine Ohrfeige gegeben. »Jesses, Lucie! Wofür hältst du mich? Ich vermute, sie hat es dir nicht erzählt. Wahrscheinlich zu beschäftigt, um es zu erwähnen. Wir sind nicht mehr verlobt. Oder zumindest ist unsere Beziehung auf Eis gelegt. Wir brauchten beide ein wenig Abstand.«

»Das habe ich nicht gewusst.« Viel Zeit hatte er aber offenbar nicht verschwendet, um ihren Platz zu ersetzen.

Er stieß die Hände in die Hosentaschen. »Ich muss wieder zurück zu den Mädchen. Und danke, dass du gekommen bist, um mir das mit Valerie zu sagen.«

Er begleitete mich zum Haupteingang, und wir traten gemeinsam nach draußen in die Wärme des milden Nachmittags.

»Schöner Tag, was?« Seine Stimme troff vor Ironie. »Schätze, wir sollten sie genießen, solange wir können. Denn man weiß ja nie …«

»Nein«, sagte ich. »Das weiß man nie.«

»Ich werde dich gelegentlich anrufen, Zuckerpüppchen.«

Die geschnitzte Holztür mit ihrer kunstvollen eisernen Schneckenverzierung fiel mit einem lauten Knall hinter ihm zu. Diesmal lag in seinen Schritten nicht mehr jener Schwung, den sie gehabt hatten, als er die Treppe hinuntergekommen war, um mich zu begrüßen.

Ich bemühte mich um Mitleid mit ihm, doch es stellte sich nicht ein. Da war etwas merkwürdig an der überstürzten Beziehung mit Valerie. Und an dem Unfall war auch etwas seltsam.

Ich fuhr nach Hause und überlegte, was Valerie mir über den Washington-Wein hatte erzählen wollen, den Jack Greenfield gestiftet hatte, und weshalb sie so sicher gewesen war, dass ich nicht über dessen Provenienz informiert war. Noch vor der Auktion Ende des Monats musste ich das herausfinden – auch wenn vielleicht doch nichts weiter dahintersteckte.