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Kapitel 8

Er war verheiratet.

Wie war es ihm gelungen, dies geheim zu halten? Sie geheim zu halten?

»Was hat sie mit Shane zu schaffen«, fragte ich, »wenn sie mit Ihnen verheiratet ist?«

»Exfrau, meinte ich.« Er war kurz angebunden. »Wir sind geschieden.«

Ich beobachtete, wie Shane und die Brünette die Straße überquerten, und ich sah ein Wiedererkennen in ihren Augen. Sie geriet ins Straucheln, und Shane, der nichts vom blitzartigen Funkenschlag zwischen seiner Freundin und meinem Winzer mitbekommen hatte, legte ihr einen Arm um die schlanke Taille.

Quinns Blick ließ ihr Gesicht nicht los.

Als sie uns erreicht hatten, sagte er: »Hallo, Nicole. Lange her, dass wir uns gesehen haben.«

Es war offensichtlich, dass sie sich nicht freundschaftlich getrennt hatten. Und dass sie ihm immer noch an die Nieren ging. Schwer zu sagen, was sich in ihrem Kopf abspielte neben dem Schock, ihm plötzlich wieder zu begegnen.

Sie trug ein rostbraunes Kostüm, das ihr dunkles Haar, die schwarzen Augen und ihre honigfarbene Haut zur Geltung brachte. Kurzer, locker sitzender Rock und weite Jacke. Die Seidenbluse gerade so weit aufgeknöpft, dass es aufreizend wirkte. Der Spitzen-BH schimmerte durch den durchsichtigen Stoff. Das Kostüm stammte entweder von Armani oder Versace. Der absolute Kontrast zum klassischen Outfit, das ich trug: Levis Jeans und ein T-Shirt von Gap. Zerrissen, verdreckt und besudelt.

»Quinn …« Sie sprach seinen Namen wie eine Liebkosung aus. »Was für eine Überraschung! Was machst du denn hier?«

»Ich lebe hier. Und was ist mit dir, Nic?« Seine Stimme war kalt wie Eis.

»Ihr beide kennt euch?« Shanes Blick wanderte zwischen Nicole und Quinn hin und her. Obwohl Shane immer freundlich zu mir war, hatte ich den Eindruck, als sei irgendetwas an ihm zu schön und zu stolz. Es war, was die Franzosen m’as-tu vu? nennen – ›Hast du mich gesehen?‹ Ich hatte Geschichten gehört, dass er von der Highschool geflogen und in einem knallharten Viertel von Baltimore aufgewachsen war. Doch er hatte seine Vergangenheit abgeschüttelt – einschließlich seines Baltimore-Murlin-Akzents –, und zwar so gründlich, dass jeder, der es nicht besser wusste, glauben musste, der Herr Papa habe ihm ein beträchtliches Aktienpaket überlassen, nachdem er sein Examen an einer Ostküsten-Universität bestanden hatte. Mit seinen teuren Autos, ständig wechselnden Frauen und Trips ins Spielerparadies Las Vegas führte er ein Leben, als habe er einen reichen Verwandten.

»Wir kennen uns«, sagte Quinn, »nicht wahr, Nicole?«

Sie errötete. Ich bemerkte, wie sie sich bei Shane einhakte und seine Finger umschlang. »Quinn ist mein … das heißt, wir waren mal verheiratet. Vor langer Zeit.«

Shane zog Nicole dichter an sich heran und küsste ihr Haar, während er Quinn nicht aus den Augen ließ. »Dann seid ihr also geschieden. Nikki und ich sind uns vor ein paar Monaten in Vegas begegnet. Seitdem sind wir zusammen.« Er schien immer noch bestürzt über die Neuigkeit zu sein.

»Wie schön für euch.« Ich hörte aus Quinns Stimme das Fahrt-zur-Hölle heraus. Anscheinend hatte Nicole es auch vernommen, denn ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Bis später dann mal.«

Quinn legte mir eine Hand auf die Schulter und begann, mich über die Straße zu treiben.

»Willst du mir nicht deine Freundin vorstellen?«, rief uns Nicole nach. Es klang spöttisch.

Quinn blieb stehen, und wir drehten uns beide um. »Lucie Montgomery und Nicole … welchen Namen benutzt du inzwischen, Schätzchen? Eine Zeit lang war es schwer, den Überblick zu behalten.«

»Meinen Mädchennamen.« Ihre Augen funkelten. »Martin.« Dann schaute sie mich an, meine Krücke und die Gehbehinderung. »Wo habe ich schon mal von Ihnen gehört?«

»Keine Ahnung.« Je schneller wir von hier wegkamen, desto besser. Sie starrte mich weiter an, als versuche sie, sich irgendein verschollenes Stück Information ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich bin sicher, dass wir uns nie begegnet sind«, sagte ich mit Nachdruck.

»Lassen Sie uns gehen.« Quinn führte mich zum El Camino, öffnete mir die Tür und hielt sie auf, während ich einstieg. Auf der anderen Straßenseite sah ich, wie Shane irgendetwas in Nicole Martins perfektes Ohr flüsterte. Sie blickte zu uns herüber und nickte. Vermutlich hatte er ihr erklärt, was mit mir war. Oder wer ich war.

Quinn trat aufs Gaspedal. »Rammen Sie ja nicht den Porsche«, sagte ich. »Mir ist egal, wie sehr Sie ihn hassen, weil er mit Ihrer Exfrau zusammen ist.«

»Ich hasse ihn nicht«, sagte er. »Meinetwegen kann er sie haben.«

Wir fuhren schweigend zum Weingut zurück, und das Schweigen schuf Echos. Er schaute mich nur ein Mal an – mit einem Gesicht wie Granit, die Augen dunkel wie Obsidian. Da wusste ich, dass das Wiedersehen mit ihr eine Wunde in ihm aufgerissen hatte, die nie verheilt war. Jetzt geisterte sie ihm im Kopf herum.

Er war gekränkt, verletzt, wütend. Und er liebte seine Exfrau immer noch.

Als wir das Weingut erreichten, setzte er mich bei mir zu Hause ab und sagte: »Ich gehe eine Weile in die Felder. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen des Unterstoßens des Tresterhuts heute Abend. Ich kümmere mich darum.«

Ich nickte. »In Ordnung. Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

Ich wusste, dass es besser war, ihm nicht mein Mitgefühl zu zeigen, geschweige denn Mitleid. Er hätte es mir umgehend ins Gesicht zurückgeschleudert. Daher ließ ich ihn gehen, ohne etwas zu sagen, und versuchte, nicht über seinen Blick nachzudenken, als er geäußert hatte, er wolle in den Feldern allein sein.

Gegen neun Uhr abends klingelte das Telefon. Ich war im Wohnzimmer und kämpfte mich durch Europareisen mit Thomas Jeffersons Geist. Das nächste Telefon stand in der Halle. Ich griff nach der Krücke und rannte fast, um es zu erreichen, und dabei hoffte ich, es wäre Quinn. Als ich den Hörer schließlich in der Hand hielt, sprang der Anrufbeantworter an.

»Lucie, ma chère!« Die lieb gewordene Stimme am anderen Ende klang leicht gedämpft – zweifellos gefiltert durch den Rauch einer übel riechenden Boyard und einen Schluck Armagnac, bevor sie in meinem Anrufbeantworter landete. In Paris war es drei Uhr morgens oder nachts. Für meinen zweiundachtzigjährigen Großvater würde es noch ungefähr eine Stunde dauern, bis er den Tag für beendet erklären und zu Bett gehen würde. »Désolé que tu n’est pas là …«

»Ich bin hier, Pépé«, sagte ich auf Französisch. »Wie geht es dir? Es tut gut, deine Stimme zu hören.«

Das Ende meines Satzes hallte wie ein schlechtes Echo durch die zweistöckige Vorhalle wider, und ich bedauerte es, das Telefon nicht früher erreicht zu haben, da ich jetzt das gesamte Gespräch in Stereo hören musste.

»Mir geht’s gut«, sagte er. »Sehr gut sogar. Ich bin gerade aus China zurückgekommen.«

Oft hoffte ich, ich hätte Glück gehabt und den größten Teil meiner DNA von der Familie meiner Mutter geerbt statt irgendwelcher zügellosen, willensschwachen Gene, die mir mein Vater vermacht haben mochte. Pépé hatte eine Postkarte von der Großen Mauer geschickt und geschrieben, dass er und ein paar Freunde ein Teilstück darauf gewandert seien. Außerdem waren sie über die Seidenstraße bis nach Kirgisistan gereist.

»Ich hoffe, du lässt es nach diesem Trip langsam angehen. Es klang ziemlich strapaziös«, sagte ich.

Ich hörte das Ratschen eines Streichholzes. Vermutlich zündete er seine Zigarette ein weiteres Mal an. Die Boyards, vor Jahren wegen ihrer Giftstoffe durch die EU verboten, wurden aus schwarzem Tabak und Maispapier hergestellt. Die einzige mir bekannte Zigarette, die ständig von selbst ausging. Pépé erlaubte sich täglich eine oder zwei aus seinem schrumpfenden Vorrat.

»Ich lasse es ganz bestimmt langsam angehen. Meine nächste Reise führt mich nach Washington.«

»Hierher? Wirklich? Wann?«

Er machte eine Pause. »Es tut mir leid, dass ich dich im letzten Moment damit überfalle, mon ange, aber ich komme schon morgen an.« Wieder eine Pause. »Ich habe eine Hotel-Reservierung im Marriott in der Nähe des Dulles Airport, aber ich hoffe, wir sehen uns und du erlaubst es mir, dich wenigstens ein Mal zum Abendessen einzuladen, während ich dort bin.«

Pépé hatte als Diplomat gearbeitet. Er war ungemein höflich. Ich hütete mich, verletzt zu sein, dass er nicht gefragt hatte, ob er bei mir bleiben dürfe, da er befürchtete, sich mir aufzudrängen. Wahrscheinlich hatte er nach der China-Reise noch nicht einmal seine Koffer ausgepackt, geschweige denn den Jetlag überwunden. Ich dachte an den Refrain eines Liedes, das Leland häufig sang, wenn er meine Mutter aufziehen wollte. Darin beschwerte er sich, wie schwer es sei, sie auf der Farm unter Kontrolle zu halten, nachdem sie ein Mal Paris gesehen hatten. Meinen Großvater hielt es nicht einmal in Paris.

»Als Erstes kannst du deine Buchung im Marriott stornieren«, sagte ich. »Du kommst zu mir und übernachtest hier. Und zweitens, wann kommt dein Flugzeug an? Ich hole dich ab.«

»Absolument pas«, sagte er. »Ich miete mir ein Auto. Mach dir keine Umstände, ich fahre selbst zu dir.«

Ich wusste gar nicht, dass er sich immer noch ans Steuer setzte. Ich bewunderte Pépé, aber er fuhr wie ein wild entschlossener Formel-1-Pilot auf der Jagd nach der Pole Position. Die meisten anderen Familienmitglieder – vorneweg Dominique – weigerten sich rundweg, sich zu ihm ins Auto zu setzen.

»Ich glaube nicht, dass das eine sonderlich gute Idee ist«, sagte ich. »Hier in Virginia hat man die Strafen für Verkehrsvergehen drastisch erhöht. Tausend Dollar für rücksichtsloses Wechseln der Fahrspur. Manche Bußgelder liegen sogar noch höher. Ich fahre dich, wohin du willst.«

Ich erwähnte gar nicht erst die Strafen, die nur für Autofahrer mit Virginia-Führerschein galten. Oder dass unsere Legislative die übertrieben hohen Strafen in der Hoffnung beschlossen hatten, die lieben Staatsbürger – von denen manch einer auch wie der Henker fuhr – zu veranlassen, sich gesitteter hinter dem Steuer zu verhalten.

»Ich möchte nicht zur Last fallen«, sagte er. »Die Weinlese ist für dich so ziemlich die anstrengendste Zeit des Jahres. Ich treffe mich mit les vieux amis – meinen alten Freunden –, außerdem habe ich einige Abendessen geplant. Da ist es schon besser, wenn ich mein eigenes Fahrzeug habe.«

»Natürlich. Du kommst auf die Umgehungsstraße und meinst, du wärst auf der Autoroute du Soleil«, sagte ich. »Es wäre besser, du lässt Dominique oder mich fahren, als dass wir dich gegen Kaution aus dem Knast holen müssen.«

»Ich fahre wie jeder andere Franzose.« Er klang verschnupft.

»Genau. Also, nimm dir kein Auto. Wann kommt dein Flugzeug?«

Er sagte es mir, und ich notierte es.

»Hast du Dominique schon gesagt, dass du kommst?«, fragte ich.

Er seufzte. »Noch nicht. Du weißt doch, wie viel Wirbel sie um mich macht und dass sie mich behandelt, als wäre ich ein alter Mann. Ich bin nicht so alt, wie sie mich gerne hätte, musst du wissen.«

»Trotzdem musst du sie anrufen. Sie sollte die Nachricht, dass du kommst, unbedingt von dir selbst hören. Du willst sie doch nicht verletzen, oder?«

»Mais non«, sagte er. »Natürlich nicht.«

»Dann ruf sie an. Und mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden, wenn du erst mal hier bist. Wir werden eine schöne Zeit miteinander verbringen.«

»Mon trésor«, sagte er. »Ich wusste gar nicht mehr, wie sehr ich dich vermisse. Erst jetzt, da ich mit dir spreche, wird es mir bewusst. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.« Erneutes Seufzen und wieder das Geräusch eines angezündeten Streichholzes. »Und deine Cousine.«

Ich legte auf, und einen Moment später piepte der Anrufbeantworter. Morgen war Weinlese, und das hieß früh aufstehen, doch ich war zu unruhig, um ins Bett zu gehen. Ich drückte auf den Knopf und löschte das Gespräch.

Vielleicht war Quinn ins Sommerhaus gegangen. Ich zog mir eine Jacke über und verließ das Haus. Die Adirondack-Sessel standen noch an derselben Stelle, wo wir sie am Vorabend hingestellt hatten.

Wo war er? Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Wir telefonierten oft spätabends miteinander, vor allem während der Erntezeit, wenn im Weinkeller noch Arbeit zu verrichten war. Doch hier ging es nicht um Arbeit, und wir hatten die Grenzlinie zur Privatsphäre des anderen noch nie so weit überschritten. Diese Nacht war nicht geeignet für einen Anfang.

Ich kehrte wieder ins Haus zurück, warf die Jacke auf den Sessel neben dem Telefon und ging in die Bibliothek. Sie war Lelands mit Büchern gesäumtes Büro gewesen, bis ein Feuer den größten Teil des Raums zerstörte, zusammen mit Teilen des Erdgeschosses. Im Zuge der Renovierung hatte ich die Bücherregale aus Kirschholz wieder so nachbauen lassen, wie sie vorher gewesen waren. Doch die Regalbretter, die zuvor in doppelten Reihen mit Lelands unfangreicher Sammlung von Büchern über und von Thomas Jefferson gefüllt waren, waren nun nahezu leer. Immer noch versetzte es mir einen Stich, wenn ich die leeren Flächen sah.

Eine Kopie des Tagebuchs von Jefferson über seine Reise durch die europäischen Weingüter, nachgedruckt anlässlich des zweihundertsten Jahrestages seiner Reise, war eines der wenigen Bücher, die das Feuer überstanden hatten. Vor Pépés Anruf hatte ich versucht, Valeries Machwerk zu lesen. Die schlechten Kritiken waren gerechtfertigt.

Die Chance war nicht groß, dass Jeffersons Tagebuch, vor mehr als zweihundert Jahren geschrieben, einen Schlüssel zu dem liefern würde, worauf Valerie bezüglich der Provenienz des Washington-Weins angespielt hatte, doch ich nahm es trotzdem aus dem Regal. Ein schmaler Band, nur etwas mehr als hundert Seiten. Ich wischte den Staub vom Deckel. Thomas Jefferson’s European Travel Diaries. Jefferson’s Own Account of His Journeys Through the Countryside and Wine Regions of the Continent, 1787–1788.

Ich nahm es mit noch oben und begann, im Bett zu lesen.

Worte für Weise

vom Verfasser von Amerikaner auf Auslandsreise

Wenn Sie Zweifel hegen, ob eine Sache die Mühen wert ist, nur um sie gesehen zu haben, dann rufen Sie sich ins Bewusstsein zurück, dass Sie ihr nie wieder so nahe sein werden und dass Sie die Tatsache, sie nicht gesehen zu haben, möglicherweise bereuen werden.

Was hatte Valerie in Bordeaux gesehen? Was auch immer es sein mochte, jetzt war ich diejenige, die ›sie nicht gesehen zu haben‹ bereute. Und was war mit Jack Greenfield? Ein Fall von ›es nicht gesagt haben‹. Die Behauptung, nicht zu wissen, wie so eine sagenhafte Flasche in den Besitz seiner Familie gekommen war, erschien unglaubwürdig. Ich klappte das Buch zu und löschte das Licht. In ein paar Stunden würde es wieder hell werden. Zweiter Tag der Cabernet-Lese.

Am Morgen würde ich Quinn sehen.

Er erschien, noch bevor die Arbeiter kamen, mit unsicheren Schritten und in derselben Kleidung, die er am Tag zuvor getragen hatte. Mit blutunterlaufenen Augen, zerzaustem Haar und unrasiert sah er erbärmlich aus. Als er etwas dichter herankam, glaubte ich, den leichten Geruch von Parfüm an seinem Hemd wahrzunehmen. Schwer zu sagen, da er sich mit Quinns Körpergeruch und dem Dunst von Schnaps und abgestandenem Tabakrauch mischte. Mein Gott, was hatte der Mann letzte Nacht gemacht? Wo war er gewesen, und mit wem hatte er sich herumgetrieben?

Fast hätte ich ihn gefragt, ob er eine Sauftour gemacht und jemanden – alles, was ihm in die Quere kam – abgeschleppt habe, um sich zu trösten, nachdem er Nicole mit Shane getroffen hatte. Doch es ging mich nichts an. Allerdings ging mich etwas an, dass in zwanzig Minuten die Arbeiter aufkreuzen und ihren Chef in einem Zustand antreffen würden, als habe er im Alleingang das gesamte County Loudoun innerhalb einer Nacht trockengelegt.

Wir arbeiteten mit gefährlichen Gerätschaften. In dieser Verfassung konnte ich ihn hier nicht bleiben lassen.

»Gehen Sie nach Hause!« Meine Stimme war heiser vor Ärger und Enttäuschung. »Sie sind betrunken, Sie stinken, und Sie sehen einfach furchtbar aus. Ich will nicht, dass irgendjemand Sie so sieht. Es ist eine gottverdammte Frechheit, hier in diesem Zustand aufzukreuzen. Vor allem heute, wo so viel für uns auf dem Spiel steht.«

»Guten Morgen auch, Susie Sunshine. Sind mal wieder mit dem falschen Fuß aufgestanden, was, Schätzchen?« Er lallte immer noch. Ich hätte ihn erwürgen können.

»Machen Sie, dass Sie rauskommen! Gehen Sie nach Hause, und schlafen Sie Ihren Rausch aus. Ich will Sie erst wieder sehen, wenn Sie nüchtern sind.«

Er streckte sich. »Ich fühle mich ausgezeichnet.« Er schielte, als er seinen Blick auf mich zu konzentrieren versuchte, und schwankte leicht.

»Sie sind immer noch betrunken. Und Sie werden nicht hier sein, wenn die Arbeiter kommen!« Meine Stimme zitterte, genau wie meine Hände. »Das ist in einer Viertelstunde. Gehen Sie. Bitte!«

»Wem sagen Sie, dass er verschwinden soll?« Er taumelte auf mich zu.

Einen Moment lang dachte ich, er würde mir vor die Füße fallen. Ich wollte weg von ihm und dieser pathetischen Szene, doch ich biss die Zähne aufeinander und sagte: »Meinem Angestellten.«

Er sah mich an, als habe ich ihn gerade geohrfeigt. Ich drehte mich um, und halb ging, halb rannte ich in den Weinkeller, wobei ich mich wie eine alte Frau auf meine Krücke stützte. Meine Beine fühlten sich wie Pudding an, als ich die Tür zuknallte, ohne noch einmal zu sehen, ob er mir gefolgt war. Ich brauchte so lange für das Einschalten der Ventilatoren, die das über Nacht gebildete Kohlendioxyd im Raum verteilen sollten, dass mir durch das Gas bereits schwindlig wurde.

Ich hoffte, er hätte nicht bemerkt, wie stark ich gezittert hatte. Obwohl er in seinem Zustand wahrscheinlich noch nicht einmal gemerkt hätte, wenn Manolo ihn mit seinem Lastwagen überfahren hätte. Gott sei ihm gnädig, falls er immer noch dort sein sollte, wenn die Arbeiter kamen. Doch als ich zehn Minuten später nach draußen ging, war er verschwunden.

Als Manolo erschien, sagte ich ihm, Quinn sei krank. Und während ich das Erstaunen in seinen Augen ignorierte, machte ich ihm klar, dass wir beide den Laden schmeißen würden. Manolo war jung, sah gut aus und kannte die Kneipen ebenfalls. Vielleicht war er Quinn über den Weg gelaufen, doch er sagte nichts.

»Lucie«, sagte Manolo, »fühlen Sie sich gut? Ich habe Sie gerade zwei Mal angesprochen, und Sie haben nicht reagiert. Sie sehen nicht gerade gut aus. Vielleicht haben Sie dasselbe wie Queen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass das, was Quinn hat, nicht ansteckend ist«, sagte ich. »Entschuldige, ich war abgelenkt. Lass uns an die Arbeit gehen.«

Die Tatsache, dass wir eine Person weniger hatten, die mithalf – und zufällig war es jene, die normalerweise die Fäden in der Hand hielt –, hielt mich viel zu sehr in Atem, als dass ich über die Ich-trete-Ihnen-in-Ihren-blöden-Arsch-Gardinenpredigt nachdenken konnte, die ich ihm halten wollte, sobald er wieder nüchtern genug war, um sie sich anzuhören. Heute war weniger zu ernten, aber wir mussten uns auch noch um eine Lieferung Petit Verdot kümmern. Quinn hatte ihn bei einem Weingut in Culpeper bestellt, das zwar Wein anbaute, jedoch selbst keine Weine herstellte. Ich hatte es schon ganz vergessen, bis plötzlich der Lastwagen neben der Weinpresse auftauchte.

Das Telefon klingelte, als ich im Labor gerade die abschließenden Tests machte. Frankie meldete sich aus der Villa. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe, Lucie. Hier ist jemand, der Sie sehen möchte.«

»Wer ist es?«

Das geflissentliche Schweigen auf der anderen Seite war der vereinbarte Code für jemanden, der ein bisschen zu viel Wein probiert und dadurch die Kontrolle über sich verloren hatte.

»Ich werde Manolo bitten, mich zu begleiten«, sagte ich.

»Diese Gäste haben aber ausdrücklich nach Ihnen verlangt.«

Ich wunderte mich, weshalb sie wollte, dass ich allein kam. »Ich bin gleich da. Höchst persönlich.«

»Prima.« Es klang bissig.

Den gutgekleideten Mann und die Frau, die auf einem der Sofas saßen, die rund um den offenen Kamin in der Mitte des Probierraums standen, kannte ich nicht. Frankie war die einzige andere Person im Raum. Sie saß hinter der Bar und las.

Als ich eintrat, ging sie zu dem Pärchen. »Lucie, dies hier sind Ihre neuen Nachbarn, Claudia und Stuart Orlando. Mr. und Mrs. Orlando, darf ich Ihnen Lucie Montgomery vorstellen?«

Bevor Frankie jemanden nicht mochte, musste er schon mindestens drei der Zehn Gebote gebrochen haben. Die Orlandos konnte sie ganz offensichtlich nicht ausstehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück zur Bar, um sich einen Gartenkatalog zu holen.

»Ich bin draußen auf der Terrasse. Rufen Sie mich bitte, falls Sie mich brauchen«, sagte sie zu mir.

Claudia Orlando war ein hübscher Rotschopf mit Haut wie Porzellan. Sie sah aus, als sei sie gerade aus einem Gemälde von Tizian getreten. Stuart war dick und bullig mit einem rot geäderten Gesicht, das auf einen ungesunden Lebenswandel hindeutete. Er war mindestens zehn Jahre älter als seine Frau, wenn nicht mehr. Sein Haar war gefärbt und war zu schwarz.

Ich hätte wetten können, dass sie gekommen waren, um über die Goose-Creek-Fuchsjagd zu reden, doch ich hielt es für besser, so lange zu warten, bis sie selbst damit anfingen. »Was kann ich für Sie tun, Mr. und Mrs. Orlando?« Ich setzte mich auf das Sofa ihnen gegenüber und lehnte meine Krücke an den Sitz.

»Nennen Sie uns doch bitte Claudia und Stuart, Verehrteste.« Ihre zarte Schönheit und der nasale Brooklyn-Akzent waren ein totaler Widerspruch. Ihren Namen sprach sie wie ›Clo-di-ar‹ aus.

Stuart zeigte mit einem Finger, der wie ein pralles Würstchen aussah, auf meine Krücke. »Jagdunfall?«, fragte er freundlich, doch ich wusste, dass er das Feld sondieren wollte.

Ich lächelte. »Nein.«

Er wartete auf den Rest meiner Erklärung. Als ich schwieg, kniff er die Augen zusammen und beugte sich nach vorn. »Kommen wir gleich zur Sache, Lucie. Claudia und ich haben beschlossen, dass unser Grundstück für diese Fuchsjäger, die behaupten, es sei Teil ihres so genannten Reviers, tabu ist. Wir sind fest davon überzeugt, dass das, was sie tun, unmenschlich ist. Nicht nur, was sie mit den Füchsen tun, sondern auch mit den armen Hunden.«

»Es ist grausam«, sagte Claudia. »Sie sind so hilflos.«

»Jagdhunde«, sagte ich.

»Wie bitte?«, fragte Stuart.

»Sie werden nicht einfach Hunde genannt. Man nennt sie Jagdhunde.«

»Jagdhunde!« Er wedelte mit der Hand, wie um etwas wegzuwischen. »Wir sind hier, um Sie zu bitten, sich uns anzuschließen. Wir können ihnen das Handwerk legen oder zumindest einschränken, was sie tun, wenn wir ihnen gemeinsam verbieten, auf unseren Grundstücken zu jagen.« Er lächelte. »Das wäre ein Anfang. Und danach können wir die nächste Stufe einleiten.«

»Die nächste Stufe?«

»Genau, Fuchsjagden insgesamt verbieten.« Claudia tippte mit einem Finger auf den gläsernen Couchtisch, und eine Handvoll drahtdünner, goldener Armreife klimperte wie ein Windspiel. »Stuart ist Rechtsanwalt. Ein guter Rechtsanwalt. Orlando & Thomason. Sie müssen von der Kanzlei gehört haben. Sie vertreten zahlreiche Tierschutzgruppen.«

Ich nickte. Allerdings gab es keinen Grund, ihnen zu sagen, dass ich es von der Schriftführerin des Goose-Creek-Jagdclubs gehört hatte. »Ich weiß.«

Stuart sah zufrieden aus. »Machen Sie mit, Lucie? Ich hoffe es doch.«

»Leider nicht«, sagte ich. »Der Goose-Creek-Jagdclub jagt seit mehr als hundert Jahren auf dem Grundstück unserer Familie. Solange ich hier etwas zu sagen habe, ist er immer willkommen.«

»Warum?« Claudia sah mich verdutzt und betrübt an. »Was diese Leute tun, ist barbarisch

»Das hier ist nicht England«, sagte ich. »Sie töten den Fuchs nur selten, und wenn sie es tun, dann weil das Tier alt und krank ist oder die Tollwut hat. Es ist eher eine Fuchshatz. In diesem Land ist es kein blutiger Sport.«

»Ich verstehe nicht, wie Sie das auch noch in Schutz nehmen können.« Stuart hatte seine Stimmlage gewechselt. Sie klang jetzt nach Gerichtssaal, und vermutlich pflegte er in ihr Zeugen auseinanderzunehmen.

Ich zuckte zusammen, und er sah es. Sofort legte er nach.

»Ich drohe nicht gerne.« Er lächelte auf eine Art, die ausdrückte, dass er es genoss. »Aber das Ganze könnte sich zu einer unangenehmen Situation auswachsen, und ich bin sicher, dass keiner von uns das will.«

Was heißen sollte, dass mir nicht daran gelegen sein konnte. Er schaute selbstgefällig drein, während Claudia immer noch entsetzt wirkte. Vielleicht hatte ich eine Chance, wenn ich es ihr zu erklären versuchte.

»George Washington ging in diesem Tal auf die Fuchsjagd.« Ich schaute ihr in die Augen und ignorierte Stuart. »Genauso wie Lord Fairfax. Die Fuchsjagd nahm in den frühen Tagen unseres Landes genau hier ihren Anfang. Im tiefsten Grunde unseres Herzens sind wir eine Gemeinschaft von Farmern. Die Natur nimmt ihren Lauf, und die Jagd ist ein Teil davon. Mir ist klar, dass es Ihnen völlig absurd erscheinen muss, wenn Sie aus Manhattan kommen, doch Jagd und Pferderennen sind fester Bestandteil des Lebens und der Kultur unserer Region. Sie sind gerade erst frisch zugezogen. Warum nehmen Sie sich nicht ein wenig Zeit, um etwas über Ihre Nachbarn in Erfahrung zu bringen, bevor Sie über sie urteilen und uns kritisieren?«

Stuart griff nach der Hand seiner Frau und beugte sich zu ihr hinüber, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Ich hörte, wie er sagte: »Ein hoffnungsloser Fall, Honigbienchen. Vergiss es.«

Ich nahm meine Krücke und stand auf. Claudia wirkte verärgert, und ich hatte Stuart gereizt. Der hässliche Ausdruck auf seinem Gesicht kündigte an, dass er sich bereits auf die nächste Runde vorbereitete. Die beiden standen ebenfalls auf.

»Bevor ich es vergesse«, sagte ich, »ich jage nicht.«

»Das werden Sie noch bereuen, Mrs. Montgomery«, sagte er. »Das verspreche ich Ihnen.«

Wir bedienten uns wieder unserer Nachnamen. »Das bezweifle ich sehr«, sagte ich. »Und es heißt Miss!«

Claudia schaute mich bedauernd an. »Das erklärt vieles«, sagte sie. »Wir finden allein hinaus.«

Frankie kam herein, als die Eingangstür zur Villa hinter den Orlandos zuknallte. Mein Gesicht glühte. Die Bemerkung über die alte Jungfer hatte mich schmerzlich getroffen.

Ich drehte mich ruckartig zu Frankie um. »Sie haben heimlich gelauscht.«

»Da können Sie Gift drauf nehmen, dass ich das getan habe«, sagte sie. »Der Kerl ist widerwärtig. Unglücklicherweise wird sie alles tun, was er ihr sagt.«

»Er hat mir gedroht«, sagte ich. »Das gefällt mir nicht.«

»Ich glaube nicht, dass er Ihnen gedroht hat«, sagte Frankie. »Ich denke, er hat Ihnen nur den Krieg erklärt.«