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Kapitel 9

Ich sagte Frankie, sie solle früher Schluss machen und den restlichen Nachmittag freinehmen.

»Wo ist Quinn?«, fragte sie. »Er hat sich hier den ganzen Tag nicht blicken lassen.«

»Er hatte Fieber, deshalb ist er zu Hause geblieben.«

Sie runzelte die Stirn. »Und hat sich nicht an der Weinlese beteiligt? Was hat er denn? Die Beulenpest?«

»Ich weiß es nicht. Jetzt sollte ich mich aber lieber aufmachen. Das Flugzeug meines Großvaters landet um halb fünf auf dem Dulles Airport, und Sie wissen ja, was für ein Verkehrschaos da herrscht.«

Sie nickte. »Ihre Nase wächst, Pinocchio. Tschüss, bis morgen!«

Ich hatte immer noch einen hochroten Kopf. Vermutlich würde sie auf dem Weg nach Hause bei Quinn vorbeischauen, um zu sehen, ob er von seiner mysteriösen Krankheit geheilt war, und dann würde sie es erfahren. Mir war nicht klar, weshalb ich ihr diese Lüge aufgetischt und nicht gleich die Wahrheit gesagt hatte – vielleicht wusste ich es aber doch.

Es war kurz nach drei. Schlief Quinn seinen Rausch immer noch aus, oder konnte man ihn für den Rest des Tages abschreiben? Auf der Fahrt zum Flughafen machte ich einen Umweg zu seinem Haus.

Den El Camino hatte er seltsam quer vor seiner Veranda abgestellt. Die Jalousien der vorderen Fenster waren herabgelassen. Wahrscheinlich schlief er noch. Manolo hatte mir vorhin versprochen, abends zusammen mit einigen Männern den Tresterhut unterzustoßen, daher spielte es keine Rolle, ob Quinn heute noch im Weinkeller erschien oder nicht.

Das Unterstoßen des Tresterhuts war eine Routinearbeit, die so lange dauerte, wie der Wein noch gärte, und sie zählte nicht gerade zu den beliebtesten Aufgaben. Der Tresterhut war eine fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter dicke Schicht von Traubenschalen und Fruchtmark, die in den Gärfässern nach oben trieb und zu einer nassen, festen violetten Masse gerann. Er war das Ergebnis des chemischen Prozesses, zu dem es kam, wenn die Hefe, die dem Traubensaft hinzugefügt wurde, den Fruchtzucker in Alkohol verwandelte – und so brodelte alles wie in dem Hexengebräu in Macbeth.

Zwei Mal täglich mussten wir die matschige Masse auflockern und unterrühren, um dem Wein seine Gerbsäure, den Geschmack und die Farbe zu verleihen. Die größeren Weingüter betrieben dies mechanisch, doch wir bedienten uns immer noch der altmodischen Methode, indem wir Rührstangen sowie Elis alten Baseballschläger benutzten – und unsere Hände. Jedes Fass enthielt eine Tonne Wein, daher war es eine körperlich anstrengende Arbeit, die von einem verlangte, sich bis zur Achselhöhle in den Wein hineinzuwühlen und den festen purpurroten Block auseinanderzubrechen, der nicht nachgeben wollte. Meine Schultern fühlten sich danach an, als hätte ich sie mir ausgerenkt, und meine Fingernägel blieben wochenlang schmutzig. Heute war ich um diesen Job herumgekommen, da ich zum Flughafen musste, doch ich würde früh genug wieder an der Reihe sein.

Pépés Flugzeug aus Paris war pünktlich. Ich wartete im abgesperrten Bereich des internationalen Ankunftsterminals und beobachtete die Anzeigetafel, auf der mitgeteilt wurde, welches Flugzeug gelandet war. Schließlich trat mein Großvater aus der sich automatisch öffnenden Doppeltür, schob einen Gepäckwagen vor sich her, starrte geradeaus und hatte einen leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht, als habe eine spleenige Eigenart unseres Landes bereits seine Fantasie gekitzelt, kaum dass er einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte.

Ich rief ihn und winkte ihm hinter der niedrigen Metallabsperrung zu. Sein schön geschnittenes Gesicht hellte sich auf, und er winkte zurück. Als wir einander erreichten, küsste er mich drei Mal und murmelte meinen Namen. Ich schloss ihn in die Arme und roch seine Boyards sowie einen Hauch seines vertrauten, altmodischen Eau de Cologne. Doch was mir am Stärksten in die Nase stieg, waren die im Gedächtnis verhafteten Gerüche jener Dinge, die ich an Paris liebte – und vermisste. Vor Jahren hatte mir meine Mutter gesagt, ich sei die Namenscousine meines Großvaters – sein Vorname war Luc –, und in der Familie war es ein offenes Geheimnis, dass ich seine Lieblingsenkelin war.

Er ließ nicht zu, dass ich seinen Gepäckwagen schob, und ich bemühte mich erst gar nicht, deswegen zu diskutieren. Mein Großvater stammte aus einer Generation, in der Ritterlichkeit und Galanterie so selbstverständlich waren wie das Atmen. Zum Glück hatte ich in der Nähe des Terminals parken können, daher brauchten wir nicht weit zu laufen. Er bestand darauf, seinen Koffer selbst im Mini zu verstauen, und lehnte jede Hilfe ab, obwohl er danach, als er neben mir im Wagen saß, ziemlich außer Atem zu sein schien.

»Tu vas bien?«, fragte ich.

»Oui, oui.« Er schnipste mit den Fingern, um meine Besorgnis wegzuwischen. »Un peu fatigué, cèst tout

»Sobald wir zu Hause sind, kannst du etwas schlafen«, sagte ich.

»Mais non. Heute Abend sind wir zum Abendessen bei Dominique im Goose Creek Inn.« An seinen Augen zeigten sich kleine Lachfalten. »Du siehst also, ich habe deine Kusine angerufen.«

»Du alter, schlauer Fuchs. Ich wusste doch, dass du es dir überlegen würdest.«

»Ma belle«, sagte er mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck. »Ganz bestimmt nicht ›alt‹.«

Ich lachte. »Sicher nicht. Du hast immer noch nicht den Grund deines Besuchs genannt. Obwohl du natürlich keinen brauchst.«

Er faltete die Hände im Schoß. »Eh, bien, ein Treffen. Les vieux amis. Meine Kollegen aus der Nachkriegszeit.«

Er meinte den Zweiten Weltkrieg.

»Die Kollegen, mit denen du am Marshallplan gearbeitet hast?«, fragte ich.

Der Plan war 1947 die Idee von Außenminister George C. Marshall gewesen und als umfassendes humanitäres Hilfsprojekt gedacht, um einem am Boden liegenden Europa zu ermöglichen, nach den Verwüstungen des Krieges wieder auf die Beine zu kommen. Die Bedingung für die Hilfsleistungen war jedoch, dass die europäischen Länder einen gemeinsamen Plan entwerfen mussten, wie sie das Geld einsetzen wollten – indem sie als ökonomische Einheit handelten und nicht als einzelne Nationen. Pépé war Vorsitzender der französischen Delegation gewesen und einer der wichtigsten europäischen Architekten bei der Schaffung einer Union, wie sie den Amerikanern vorgeschwebt hatte. Von Mitte der 40er bis Mitte der 50er Jahre hatte er mehr als zehn Jahre als Rechtsberater an der Französischen Botschaft in Washington verbracht.

»Wir treffen uns nach wie vor ein Mal im Jahr«, sagte er, »normalerweise in Paris zu einem Abendessen und einem Vortrag in der Amerikanischen Botschaft. Aber hin und wieder kommen wir auch nach Washington zurück, wo alles begann.«

»Ich finde es unglaublich, dass ihr euch nach all den Jahren immer noch besucht«, sagte ich.

»Ach, das war auch eine unglaubliche Zeit, als ein Freund dem anderen half. Amerika hat sich mit seinem großzügigen Geldsegen und offenen Herzen große Gunst in der Welt erworben. Eine wohlgelittene Nation, der die ganze Welt einmal nacheiferte.« Er machte eine Pause. »Seitdem hat sich vieles geändert.«

Ich hatte das Gefühl, er habe das ›seitdem‹ ganz leicht betont. Wir fuhren auf der Route 28 durch landwirtschaftlich genutztes Gebiet, bis hochmoderne Geschäftsgebäude auftauchten und die Landschaft in einen betriebsamen industriellen Korridor in Flughafennähe verwandelten. Am Mast vor einem mit Spiegelglas verkleideten Unternehmensgebäude, das Computerprogramme für die Rüstungsindustrie entwarf, wehte eine große amerikanische Flagge. Ich bemerkte, wie Pépés Augen der Flagge im Vorbeifahren folgten.

»Ich schätze, die Welt ist heute sehr viel komplizierter geworden«, sagte ich.

In seinen Augen war kein Lachen mehr zu finden. »Das ist sie wohl.«

Ich hatte gehofft, ihn davon überzeugen zu können, vor dem Abendessen noch etwas zu schlafen, sobald wir Highland House erreicht hatten. Doch er wollte nichts davon wissen. Stattdessen bestand er auf einem Rundgang durchs Haus, das er nicht mehr gesehen hatte, seit ich es nach dem Brand restauriert hatte. Ich zeigte ihm das Mobiliar, das ich gerettet hatte – eine Habe, die er und meine Großmutter meiner Mutter aus dem kleinen Schloss mitgegeben hatten, das sie außerhalb von Paris besaßen. So hatte sie für ihr neues Leben in Virginia wenigstens Möbel aus der Heimat gehabt. Doch er bewunderte auch die neuen Dinge, die ich als Ersatz für die zerstörten Stücke gewählt hatte – die handkolorierten Stiche der Wildblumen von Virginia, die Shaker-Stühle und handgewebten Teppiche aus Georgia.

»Jetzt besitzt das Haus deinen Charme und trägt deinen Stempel, ma belle. Chantal wäre stolz darauf, was du hier geschaffen hast, vor allem wie du das Weingut in Schuss hältst.«

Pépé sprach nicht oft von meiner Mutter, seit sie vor sieben Jahren gestorben war, als ihr Pferd Orion sie während eines gemeinsamen Ritts mit meiner Schwester Mia beim Sprung über eine der niedrigen Steinmauern auf unserer Farm abgeworfen hatte. Ich wusste, dass er immer noch sehr um sie trauerte.

»Wir können sie besuchen, wenn du gerne möchtest«, sagte ich. Das Grab meiner Mutter lag neben dem von Leland auf unserem Familienfriedhof. An der Stelle, wo sie zu Tode gekommen war, hatte ich auch ein kleines Kreuz aufgestellt.

Er legte mir eine Hand auf die Schulter, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft spürte ich seine Müdigkeit. »Ich möchte gerne dorthin«, sagte er.

Wir sprachen nicht mehr über sie, doch später, als er sicherlich glaubte, ich würde es nicht bemerken, sah ich ihn ein schneeweißes Taschentuch aus der Tasche ziehen und damit seine Augen betupfen. Mein Herz krampfte sich zusammen.

Auf dem Weg zum Abendessen im Goose Creek Inn erzählte ich ihm, dass Joe und Dominique ihre Verlobung gelöst hatten, denn ich hätte wetten können, dass meine Cousine es nicht erwähnt hatte. Er schaute mich erstaunt an. Sie hatte es tatsächlich nicht.

»Sie waren so lange verlobt«, sagte er. »Was ist vorgefallen?«

»Ich schätze, ihre Arbeitswut ist ihm schließlich auf die Nerven gegangen«, sagte ich. »Aber ich vermute auch, dass mehr dahintersteckt, denn Joe hat sich sofort mit einer anderen Frau eingelassen. Vor ein paar Tagen ist das Auto seiner neuen Freundin in den Goose Creek gestürzt, und sie ist dabei umgekommen. Jemand hat die Radmuttern an einem der Räder entfernt, sodass sie offenbar die Kontrolle über den Wagen verloren hat. Der Sheriff untersucht den Fall, doch bislang wurde niemand verhaftet.«

»Verdächtigt man Dominique?«, fragte Pépé.

»Um Gottes willen, nein! Ich habe noch nicht mal daran gedacht. Aber ich weiß, dass sie Joe ausquetschen. Er, eh, hat die Nacht mit dieser Frau verbracht – Valerie Beauvais. Danach wurde sie umgebracht.«

»Wie wird deine Cousine denn mit der ganzen Geschichte fertig?«

»Nicht sehr gut«, sagte ich. »Und um ehrlich zu sein, ich bin noch nicht mal sicher, ob sie schon weiß, dass Joe bei Valerie war.«

»Dann müssen wir sie beschützen«, sagte er.

»Und du musst so tun, als wüsstest du von nichts, bis sie es dir erzählt.«

»Ma puce«, sagte er, »ich habe mein ganzes Berufsleben im diplomatischen Dienst verbracht. Wenn erforderlich, habe ich vor Königen, Generälen und Diktatoren Unwissenheit vorgetäuscht. Mit deiner Cousine kann ich schon umgehen.«

Ich lächelte. »Natürlich kannst du das.«

Doch wie nicht anders zu erwarten, wirkte er verärgert, als Dominique bei unserer Ankunft am Restaurant gleich einen Riesenrummel um ihn machte. Sie zeigte sich besorgt, er sähe zu müde aus, um noch so spät auszugehen, und sie würde dafür sorgen, dass uns sofort etwas zu essen serviert würde, damit er schnell nach Hause und ins Bett käme. Ohne dass sie es sehen konnte, rollte er die Augen und zwinkerte mir zu. Und kaum hatte sie uns zu ihrem Tisch geführt und sich gesetzt, als sie auch schon wieder davonpreschte, um ein Problem in der Küche zu lösen.

»Sie muss Urlaub machen«, sagte Pépé zu mir. »Sie bringt sich noch um, wenn sie nicht mal abschaltet. Ich finde, dass sie überhaupt nicht gut aussieht.«

»Sie ist Kettenraucherin. Ich glaube, sie hat wieder angefangen, als es mit ihr und Joe zu Ende ging.«

Wir gaben die Bestellung auf, nachdem sie an den Tisch zurückgekehrt war. Dominique reichte unserem Großvater die Weinkarte.

»Entscheidest du dich für einen Burgunder, Pépé?«, fragte sie lächelnd.

In den 30er Jahren hatten zwei Franzosen aus Nuits-Saint-Georges im Burgund eine Gesellschaft namens Confrérie des Chevaliers du Tastevin gegründet – die Bruderschaft der Ritter der Weinprüfer. Ihr Ziel war es, den Weinen dieser Region in einer ökonomischen Krise überleben zu helfen. Nach dem Krieg war mein Großvater Mitglied dieser elitären Gruppe geworden, und er kannte seine Weine.

»Ich denke, zum Hauptgericht nehmen wir einen Clos de Vougeot«, sagte er, nachdem er sich mit uns über unsere Wahl beraten hatte. »Und als Aperitif une coupe de champagne.« Er schaute Dominique über den Rand seiner Brille hinweg an. »Das Abendessen geht auf mich.«

»Dies ist mein Restaurant …«, sagte Dominique.

»Ich weiß. Aber ich habe euch beide zum Essen eingeladen.«

»Du kannst doch nicht …«

Ich stieß sie unter dem Tisch an. »Danke!«, sagte ich. »Das ist sehr lieb von dir. Wir nehmen es gerne an.«

Er strahlte. »Keine Ursache. Mir bleibt nicht mehr oft die Gelegenheit, mit meinen hübschen Enkelinnen zu dinieren.«

Ryan Worth tauchte auf, als der Sommelier kam, um die Flasche zu entkorken.

»Guten Abend allerseits«, sagte er. »Wird hier etwas gefeiert? Ausgezeichnete Wahl, dieser Wein.«

Dominique stellte Pépé vor, der aufstand und Ryan die Hand gab. »Mein Großvater, Luc Delaunay«, sagte sie. »Zu Besuch aus Paris.«

»Bei einem Familientreffen möchte ich nicht stören«, sagte Ryan. »Ich bin hier, um mit Shane Cunningham und dieser zauberhaft aussehenden Weineinkäuferin, mit der er verabredet ist, zu Abend zu essen.«

»Ich habe sie gesehen, als sie mit Shane hereinkam«, sagte Dominique. »Sie ist umwerfend.«

Ich schaute von Dominique zu Ryan. »Meinen Sie etwa Nicole Martin?« Meine Stimme wurde lauter, und das Paar am Nachbartisch unterbrach die Unterhaltung und starrte uns an. Dominique legte einen Finger auf die Lippen und runzelte die Stirn. Ich senkte die Stimme. »Sie ist Weineinkäuferin?«

»Da Sie sie zu kennen scheinen, erstaunt es mich, dass Sie das nicht wissen«, sagte Ryan. »Sie ist hier, um die Washington-Flasche zu kaufen.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Mein voller Ernst.« Er wirkte irritiert. »Ich kann nicht glauben, dass sie es Ihnen nicht erzählt hat. Sie ist private Einkäuferin für stinkreiche Sammler, vorwiegend aus Kalifornien. Irgendein Kunde mit Taschen voller Geld hat ihr gesagt, sie solle es nicht wagen, ohne diese Flasche von der Auktion nach Hause zu kommen. Sie hat das Verhalten eines Barrakudas, wenn sie hinter etwas her ist, habe ich gehört.« Er strich seine Krawatte glatt und wirkte plötzlich gehemmt. »Shane meinte, sie wolle sich von mir über diese Flasche schlau machen lassen.«

»Das glaube ich gerne, dass sie das will«, sagte ich.

»Tut mir leid, dass ich aufbrechen muss, aber sie warten auf mich. Entschuldigt mich bitte, Leute!« Er wechselte ins Französische und sagte zu Pépé: »Sie scheinen einen ausgezeichneten Geschmack für Weine zu haben, mein Herr, daher interessiert es Sie vielleicht, dass ich der Weinkritiker der Washington Tribune bin. Es ist eine der bekannteren amerikanischen Zeitungen. Meine Kolumne wird an mehr als zweihundert Zeitungen im ganzen Land verkauft. Ein Connaisseur wie Sie dürfte vielleicht Interesse an einigen meiner Kritiken haben.«

Ich vermied es, Augenkontakt mit meinem Großvater aufzunehmen. Dominique bekam einen kurzen Hustenanfall.

»Ich bin sicher, noch viel von Ihnen lernen zu können, Mr. Worth«, sagte Pépé. »Ich werde meine Enkelinnen bitten, mir einige Ihrer Kritiken zu besorgen, sodass ich sie hier während meines Aufenthalts lesen kann.«

»Sparen Sie sich die Mühe. Ich werde ein paar der letzten Ausgaben zusammenklauben und Lucie für Sie geben.«, sagte er. »Auch auf die Gefahr hin, unbescheiden zu wirken, aber sie sind ziemlich gut.«

Er ging, und Dominique und ich grinsten. »Du warst sehr höflich«, sagte Dominique. »Vermutlich hast du mehr über Weine vergessen, als er weiß.«

»Ich hoffe nur, dass seine Kritiken besser sind als sein Französisch«, sagte Pépé. »Il parle français comme une vache espagnole.« Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mein Lachen über diese unverwechselbare französische Beleidigung zu verbergen. Er hatte gesagt, dass Ryan Französisch spräche wie eine spanische Kuh. »Was dich betrifft, ma chère Dominique, seit ich hier bin, bist du zu beschäftigt, um es länger als ein paar Minuten an unserem Tisch auszuhalten, und du siehst erschöpft aus. Ich werde dir beweisen, dass der alte Mann nichts vergessen hat. Und du, Lucie, was hat das mit dem Washington-Wein auf sich? Und welche Auktion? Du hast mir nichts darüber erzählt.«

Er hob eine Augenbraue und wartete auf eine Erklärung. Diktatoren gegenüber mochte unser Großvater höfliche Unwissenheit vorgetäuscht haben, sein eigen Fleisch und Blut ließ er nicht so leicht davonkommen.

»Ich mache den Anfang«, sagte ich zu Dominique, um sie nicht unnötig an unseren Tisch zu fesseln.

Die Auktion machte ihn neugierig, insbesondere Jacks Spende des Margaux. Ich vermied es, in Dominiques Gegenwart Valeries Bemerkung über die Provenienz der Flasche zu wiederholen, da ich Joe nicht hineinziehen wollte. Das würde ich Pépé später berichten. Doch ich erwähnte, dass Jack keine Ahnung hatte, woher die Flasche stammte.

»Jack Greenfield sagt, er habe sie nach dem Tod seines Vaters in dem Weinkeller gefunden, der zum Import-Export-Handel seiner Familie gehörte«, sagte ich. »In Freiburg. Er meinte, die Flasche befände sich in derart schlechtem Zustand, weil sich der vorherige Besitzer nicht um sie gekümmert hat.«

Pépé zuckte die Achseln. »Das halte ich für durchaus plausibel. Bis vor kurzem haben viele Wein produzierende Châteaus kein Buch darüber geführt, wohin ihre Weine verkauft wurden, und sie haben auch nicht ihre Arbeitsweise modernisiert wie ihr Amerikaner. Vergiss nicht, bis in die 50er Jahre haben einige Weingüter zum Pflügen noch Rinder eingesetzt.«

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.

»Woher auch immer die Flasche stammen mag«, sagte er, »es ist eine außergewöhnliche Spende, selbst wenn der Wein umgekippt sein sollte. Derjenige, der sie ersteht, wird eine Erinnerungsflasche besitzen, die in Verbindung mit zwei eurer berühmtesten Gründungsväter steht. Ihr Wert ist unschätzbar.«

»Eine Erinnerungsflasche«, sagte ich. »Den Ausdruck habe ich noch nie gehört.«

»Seit dem Jahr, in dem wir geheiratet haben, tranken deine Großmutter und ich an jedem Hochzeitstag eine Flasche Clos du Vougeot. Den gab es damals bei unserem Hochzeitsempfang. Wir nannten es unsere Erinnerungsflasche.«

»Das hast du uns nie erzählt«, sagte Dominique.

»Ich finde es sehr romantisch«, sagte ich.

»Das war es.« Pépé lächelte. »Und natürlich gibt es eine starke Verbindung zwischen Wein und Erinnerungen. Ich bin sicher, ihr beide wisst das. Der größte Teil dessen, was der Mensch im Wein zu schmecken glaubt, ist in Wirklichkeit das, was er riecht. Weil Geruch der stärkste unserer fünf Sinne ist, kann er eine Erinnerung auslösen, die wir auf andere Weise kaum erleben würden.« Er hob sein Weinglas. »Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen werden, mes enfants? Ich finde, wir sollten heute Abend unsere eigene Erinnerungsflasche trinken.«

Wir stießen miteinander an. Ich trank, doch ich hatte einen Kloß im Hals. Dominique wischte etwas aus ihrem Augenwinkel. Obwohl er gesund und munter schien, wusste ich, dass dies die vornehme Art meines Großvaters gewesen war, uns daran zu erinnern, dass er nicht immer bei uns bleiben würde.

Ich schloss die Augen und atmete den Geruch meines Weins in dem Wunsch ein, mir eine besondere Erinnerung an diesen Abend zu verschaffen. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass Dominique dasselbe tat. Unsere Blicke trafen sich.

Aus ihrem sprachen genau wie aus meinem Nostalgie und Melancholie.

Als wir nach Hause kamen, ging Pépé sofort ins Bett. Ich hatte ihm das Zimmer gegeben, in dem Dominique gewohnt hatte, als sie sich nach dem Tod meiner Mutter um Mia gekümmert hatte. Nach dem Brand hatte ich die Rechauds mit den Ausmaßen eines Swimmingpools, die Kaffeemaschinen für sechzig Tassen und die türgroßen Servierplatten entfernt, die Dominique dort für ihr Catering-Unternehmen gelagert hatte, und den Raum in ein richtiges Gästezimmer verwandelt.

Das Jefferson-Tagebuch lag offen auf meinem Nachttisch neben Valeries Buch. Ich nahm es und blätterte durch das Vorwort, das sich mit Jeffersons Reise zu Weingütern in Frankreich, Italien und Deutschland beschäftigte sowie einem kurzen Ausflug nach Holland, wobei erklärt wurde, dass seine Reise sowohl dazu diente, seine unersättliche Neugier gegenüber allem zu befriedigen, als auch seiner lebenslangen Leidenschaft für Wein nachzugehen.

Das Tagebuch selbst war eine nahezu enzyklopädische Aufreihung all dessen, was Jefferson sah und tat. Ich wechselte zu dem Abschnitt über Bordeaux. Vom 24. bis 28. Mai 1787 hatte er fünf Tage in der Region verbracht, nachdem er zuvor durch Italien gereist war. Mittlerweile war er auf dem Rückweg nach Paris und fasste die erste seiner beiden Reisen zusammen.

Jefferson schrieb über die Landschaft in Bordeaux und nannte vier Weingüter der Region, die seiner Meinung nach erstklassig waren – Château Haut-Brion, Château Latour, Château Lafite und Château Margaux. Mehr als zweihundert Jahre später war klar, dass Jefferson sein Metier kannte. 1855 führten die Franzosen auf Drängen von Napoleon III. ein Klassifizierungssystem für französischen Wein ein, das noch heute benutzt wird. Die vier Weingüter, die Jefferson in seinem Tagebuch auflistete, wurden mit dem Status eines Premier cru ausgezeichnet, was sie zu Frankreichs Topweinen machte.

Jeffersons letzter Eintrag über Bordeaux handelte von Weinhändlern. Nachdem er die führenden englischen und französischen Händler aufgezählt hatte, schrieb er:

Desgrands, ein Wein-Zwischenhändler, erzählt mir, dass sie Weine erster Qualität nie mischen, doch dass sie die minderwertigen mischen, um sie zu veredeln.

Er sprach über Verschneiden – eine Praktik, von Fälschern angewandt, die Weine aus unterschiedlichen Regionen und sogar verschiedenen Ländern mischten und dabei mitunter ein wenig Portwein hinzugaben, um einen Cocktail zu bereiten, der den Leuten vorgaukeln konnte, sie tränken einen Spitzenwein. Sämtliche Weine, die Jack gespendet hatte, waren Spitzenweine, mit Ausnahme des Dorgon. War dieser verschnitten worden, wie Jefferson es angedeutet hatte? Wenn dies der Fall war, wie sollte ich es je erfahren?

Valerie hatte durchblicken lassen, dass das, was sie wusste, von großer Bedeutung war. Ob dieser Dorgon nun ein Mischmasch von mehreren minderwertigen Weinen war oder nicht, erschien mir nicht weltbewegend. Ich legte das Tagebuch auf den Nachttisch zurück.

Wieder schlief ich schlecht. Mein Schlafanzug scheuerte an den Schnittwunden auf meinem Rücken, meine Haut fühlte sich an, als sei sie straff über meine Knochen gespannt worden, und die Blutergüsse, jetzt dunkelrot und grün, bildeten eine grelle Erinnerung an Valeries Tod.

Irgendetwas von dem, was Jefferson in seinem Tagebuch geschrieben hatte, beunruhigte mich, doch ich konnte es nicht fassen.

Und die einzigen beiden Menschen, die mir hätten helfen können – Thomas Jefferson und Valerie Beauvais –, waren tot.