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Kapitel 4

Wenn ich recht hatte und das Ding von Valeries Wagen stammte, dann hatte sich jemand an dem Rad zu schaffen gemacht, während sie sich im Häuschen aufgehalten hatte. Ich griff nach meinem Handy, um den Sheriff anzurufen, als mir einfiel, dass das Telefon dem Flusswasser zum Opfer gefallen war und ich es zu Hause gelassen hatte. Jordy würde alles andere als glücklich darüber sein, wenn der Sheriff gleich zwei Mal am selben Tag im Fox and Hound aufkreuzte. Vor allem falls sich herausstellen sollte, dass das Teil, das ich gefunden hatte, von einem Rasenmäher stammte. Was immer es sein mochte, ich ließ es, wo ich es entdeckt hatte, und ging zurück zum Haus.

Eine junge, rothaarige Frau mit mürrischem Gesichtsausdruck kam auf die hintere Terrasse und schmetterte die Tür hinter sich zu. Sie murmelte etwas, bevor sie mich bemerkte und ihr klar wurde, dass ich sie beobachtet hatte. Ihr Gesicht wurde dunkelrot.

»Guten Tag, Miss.« Sie hatte den typisch singenden Tonfall Irlands in der Stimme. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein, danke. Ich bin auf dem Weg zu Mr. Jordan.«

»Ich glaube, er ist in seinem Büro«, sagte sie. »Entschuldigen Sie bitte wegen der Tür, aber es war ein langer Tag.« Sie holte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Handtasche und kramte herum, bis sie ein Streichholzbriefchen gefunden hatte.

»Natürlich. Sie arbeiten hier?«

»Ja.«

»Ich nehme an, dass Sie hier waren, als der Sheriff kam?«

»So ein Trubel!« Sie kam näher und zog eine Zigarette aus dem Päckchen. »Alle waren in heller Aufregung. Besonders Miss Grace und Mr. Jordy.«

Ich brauchte sie nicht sonderlich anzustupsen. Sie tat sich wichtig mit dem, was sie wusste.

»Das muss unangenehm gewesen sein.« Ich bemühte mich um einen freundlichen und unverbindlichen Tonfall. »Haben Sie mit einem der Beamten gesprochen?«

Sie zündete die Zigarette an, warf das Streichholz auf die Erde und stieß den Rauch aus. »Nein, sie haben nur mit den Mädchen geredet, die sich um das Cornwall Cottage kümmern.« Ihr selbstgefälliges Lächeln ließ ihre grünen Augen aufleuchten. »Keiner hat mich gefragt, drum hab’ ich auch nichts gesagt. Wollte ihm keine Scherereien bereiten, weil er doch so ein prima Kerl ist und so. Gibt mir ordentliches Trinkgeld, wenn ich mich um einen ihrer Gäste kümmere.«

»Wem keine Scherereien bereiten? Und um welche Gäste?«

Sie betrachtete ihre Zigarette, und ich wusste, dass ich zu sehr gedrängt hatte. »Ach. Na ja, niemand. Ich sollte nicht so viel quatschen.«

Ich ließ meine Handtasche von der Schulter gleiten und nahm einen Zwanzig-Dollar-Schein aus der Brieftasche. »Ich wüsste es wirklich zu gerne. Meinen Sie nicht, Sie könnten es mir sagen?«

Sie schaute sich das Geld kaum näher an. Keinerlei Kampf mit ihrem Gewissen, bevor sie es nahm und in den BH stopfte. Halb hatte ich schon damit gerechnet, dass sie mehr verlangen würde.

»Dr. Dawson«, sagte sie. »Seine Schule schickt hier ständig Gäste her, und er kommt oft vorbei.«

»Letzte Nacht war er hier?«

Sie nickte. »Mit Miss Boo-wes. Ich hatte das Geschirr vom Abendessen weggeräumt und bin mal für eine kurze Kippe nach draußen gegangen. Sah seinen Wagen, als er an mir vorbei zum Cornwall Cottage fuhr.«

»Wann war das?«

»Ungefähr um elf. Direkt nachdem sie gekommen war.«

»Hat er Sie gesehen?«

Sie errötete erneut. »Die Terrassenbeleuchtung war nicht an, deshalb glaube ich nicht, dass er mich bemerkt hat.«

»Haben Sie ihn wegfahren sehen?«

»Nein, aber er blieb eine Weile.« Ich wartete, und sie fügte hinzu: »Ich habe ein paar Beamten zugehört, die auf einen Kaffee ins Speisezimmer kamen. Sie fanden … Nun, er hatte Vorsichtsmaßnahmen getroffen, verstehen Sie?«

Mick hatte recht gehabt. Immer noch ein Liebespaar. »Ein Kondom?«

Sie zog an ihrer Zigarette. »Mehrere.«

»Oh!« Jetzt war es an mir zu erröten. »Wie heißen Sie?«

»Bridget. Warum?«

»Sie müssen dem Sheriff erzählen, dass Sie Dr. Dawson gesehen haben, Bridget.«

»Der Herr sei mir gnädig, nein! Das kann ich nicht!« Sie ließ die Zigarette fallen und trat sie mit ihrem schweren Schuh aus. »Dann krieg ich Schwierigkeiten. Während der Arbeit darf ich nicht rauchen. Und Mr. Jordy wird denken, ich hätte den Gästen nachspioniert.«

Es hatte keinen Zweck zu bestätigen, dass Mr. Jordy damit wohl recht hatte.

»Es tut mir leid, aber Sie müssen es tun. Sie werden keine Schwierigkeiten bekommen. Ich regle das mit Mr. Jordy. Kommen Sie!«

»Nein. Wirklich, ich kann nicht.«

Ich hielt ihr einen weiteren Zwanziger hin. »Bitte!«

Sie zuckte die Achseln und nahm das Geld, dann hob sie den Zigarettenstummel und das Streichholz auf. Ich hätte fast nicht bemerkt, mit welcher Fingerfertigkeit sie beides hinter einen Rhododendronbusch neben dem Haus schnipste. Sicher nicht zum ersten Mal.

Ich klingelte an der Tür, während Bridget sich neben mich quetschte und sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund schob. Irgendwie schien es nicht ihre Bestimmung zu sein, ihre Anstellung im Fox and Hound langfristig zu behalten.

Nachdem ich alles erläutert hatte, gab Jordy mir das Telefon und warf Bridget einen Blick zu. Ich rief Bobby Noland an, den ich schon seit meiner Kindheit kannte. Er war Kriminalbeamter beim Loudoun County Sheriff’s Department und hatte nach der Highschool eine 180-Grad-Wende gemacht, als er im Büro des Chefs angefangen hatte. Sein Entschluss, sich für Gesetzesvollstreckung stark zu machen, hatte jeden überrascht, mit Ausnahme seiner Mutter. Sie behauptete, dies sei der unwiderlegbare Beweis, dass Gott Gebeten Gehör schenke.

Bobby erschien kurze Zeit darauf in einem Zivilfahrzeug und trug Jeans sowie ein schwarzes Polohemd mit dem gestickten Logo des Sheriff’s Department auf der Brusttasche. Er gab Jordy und Bridget die Hand und nickte mir zu. Wir begaben uns in den Salon, wo Grace Tee und Gebäck servierte und Bridget einen finsteren Blick zuwarf, bevor sie den Raum verließ.

Bobby nahm ein Plätzchen, verzichtete aber auf den Tee. Danach kam er sofort zur Sache. »Um das gesamte Haus ist ein Absperrband gespannt, Lucie. Was hattest du da zu suchen? Ich könnte dich festnehmen, weil du in einem Bereich herumschnüffelst, in dem du dich nicht aufhalten darfst.«

Hätte es sich um jemand anderen als Bobby gehandelt, hätten mich die Worte sicher beeindruckt. Doch dazu hatten wir eine viel zu lange gemeinsame Geschichte, waren zusammen aufgewachsen. Ich kannte seine Schwachpunkte, und er kannte meine.

»Ich war nicht drinnen«, sagte ich.

»Du hättest dich trotzdem fernhalten müssen«, sagte er. »Und du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Valerie Beauvais war auf dem Weg zu mir und wollte mich treffen, als ihr Wagen in den Fluss stürzte«, sagte ich. »Sie wollte mit mir über einen Wein sprechen, der für unsere Auktion gespendet wurde.«

»Was hat es damit auf sich?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb bin ich ja hergekommen – für den Fall, dass sie irgendetwas hiergelassen hat. Als ich heute Morgen den Wagen im Fluss fand, dachte ich, ihr Unfall sei ein echter Unfall gewesen. Woher sollte ich denn wissen, dass ihr Absperrbänder für die Spurensicherung aufspannt?«

»Nun, wir haben es getan. Und deine erste Schlussfolgerung hätte doch wohl sein müssen, dass es verbotenes Terrain ist.«

»Ich habe eine Radmutter gefunden.«

»Du hast was?«

»Ich habe eine Radmutter gefunden. Zumindest glaube ich, dass es eine ist. In der Nähe des Cornwall Cottage.« Um ihn zufriedenzustellen, fügte ich hinzu: »Ich habe sie nicht angefasst.«

»Dann sollten wir uns das mal anschauen.« Er klang nicht gerade glücklich.

»Bevor wir gehen, solltest du noch etwas anderes erfahren.« Ich warf Bridget einen Blick zu. »Los, erzählen Sie es ihm. Er wird schon nicht beißen.«

Ihre dreiste Selbstsicherheit war verschwunden, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Miss Boo-Wes hatte gestern Abend einen Besucher. Ich sah, wie Dr. Dawsons Auto zu ihrem Cottage fuhr.«

Wenn sie Kondome gefunden hatten, wusste Bobby bereits, dass Valerie mit einem Mann zusammengewesen war. Schwer zu sagen, ob die Identifizierung ihres Besuchers eine Neuigkeit war oder nicht. Unsere Blicke trafen sich, doch ich konnte nichts in seinen Augen lesen. Dann schaute er Bridget an. »Wann war das?«

Sie sagte es ihm. Er stellte noch ein paar weitere Fragen und sagte dann zu mir: »Zeig mir jetzt bitte die Radmutter. Jordy, Bridget, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«

Ich stellte mein Geschirr auf das Silbertablett und nickte Bridget zu. Jordy begleitete Bobby und mich nach draußen.

»Ich habe Bridget versprochen, dass sie keine Schwierigkeiten bekommt, wenn sie die Wahrheit erzählt«, sagte ich. »Ich habe ihr mein Wort gegeben.«

Jordy seufzte. »In Ordnung.«

»Danke!«

Als Bobby und ich zum Cornwall Cottage kamen, zeigte ich ihm meinen Fund. Wie sich herausstellte, handelte es sich tatsächlich um eine Radmutter, obgleich Bobby zu bedenken gab, dass sie nicht zwangsläufig von Valeries Wagen stammen müsse. Dennoch machte er Fotos mit einer Digitalkamera und steckte die Radmutter in eine Tüte.

»Ich gehe jede Wette ein, dass sie von ihrem Rad stammt«, sagte ich. »Was ist mit den anderen Muttern, habt ihr sie gefunden?«

»Du weißt doch, dass ich nichts sagen darf.«

»Ihr habt sie nicht gefunden, stimmt’s? Das macht diese umso wichtiger.«

»Kein Kommentar.«

Wir gingen zurück zum Parkplatz. »Joe hat nicht an Valeries Wagen herumhantiert, Bobby.«

»Was hat er gestern Abend hier gemacht, wenn er mit deiner Kusine verlobt ist?«

»Die Verlobung ist aufgelöst.«

Er rieb sich mit einer Hand die Stirn und schloss die Augen, als habe er Kopfschmerzen. »Stimmt das? Weißt du irgendetwas über Joes Beziehung zu Valerie Beauvais? War es eine sexuelle Beziehung oder nicht?«

Ich beschloss, nicht zu erwähnen, was Bridget mir über die Kondome erzählt hatte. »Ich habe sie gestern Abend zusammen bei Valeries Vortrag auf Mount Vernon getroffen. Sie haben sich mehrfach geküsst, aber das ist alles, was ich gesehen habe.«

Er hielt noch immer den Beutel mit der Radmutter zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich frage mich, ob er der einzige Besucher war, den sie hatte«, sagte er. »Ich schätze, ich muss mit dem Exverlobten deiner Cousine reden.«

Ich nickte. Mehr als nur ein Liebhaber – daran hatte ich noch nicht gedacht. Wie auch immer, für Joe sah es gar nicht gut aus.

Mein Anrufbeantworter piepte, als ich um kurz nach sechs die Eingangstür meines Hauses öffnete. Drei Nachrichten. Alle von Katherine Eastman, deren Stimme zunehmend wütender klang.

Kit kannte ich, wie Bobby, bereits aus dem Sandkasten. Während der zwölf Schuljahre waren wir die dicksten Freundinnen gewesen, danach aber hatten sich unsere Wege durch den Besuch unterschiedlicher Colleges getrennt – sie studierte Journalismus in North Carolina, und ich ging nach Williamsburg, wo ich Geschichte und Französisch belegte. Nach dem Examen trafen wir uns wieder, da wir beide einen Job in Washington, D. C. bekamen. Sie arbeitete in der Nachrichtenredaktion der Washington Tribune, welche sie als ›Haifischbecken‹ zu bezeichnen pflegte. Ich fand eine Anstellung bei einer Umweltgruppe, die politische Entscheidungsträger davon zu überzeugen versuchte, dass Wissenschaftler sich die globale Erwärmung nicht ausgedacht hatten, um die Öffentlichkeit zu verängstigen oder mehr Geld zu bekommen.

Vor drei Jahren hatte Kits Mutter einen Schlaganfall erlitten, und ein paar Wochen später war das Auto, in dem ich saß und das von meinem damaligen Freund gefahren wurde, gegen die Mauer an der Einfahrt zu unserem Grundstück gerast, als er mich während eines Unwetters nach Hause brachte. Kit kehrte nach Atoka zurück, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein, indem sie um eine Versetzung in die Loudoun-Redaktion der Washington Tribune bat. Ich verbrachte mehrere Monate im Catoctin General Hospital und musste wieder gehen lernen, bevor ich in ein Haus an der Côte d’Azur umzog, das der Familie meiner französischen Mutter immer noch gehörte. Dort lebte ich zwei Jahre und gewöhnte mich an ein Leben mit der Krücke.

Die Zeitangaben auf dem Anrufbeantworter besagten, dass Kit während der letzten drei Stunden angerufen hatte. Ich hörte ihre letzte Nachricht ab. »Verdammt, warum bist du nicht auf deinem Handy zu erreichen? Deshalb habe ich es hier versucht. Vier Mal. Wo zum Teufel steckst du? Ruf mich an, sonst passiert was!«

Ich nahm noch mehr Ibuprofen und rief zurück. »Es waren nur drei Anrufe. Sonst passiert was?«

»Weiß ich nicht. Dann rufe ich dich noch mal an, und dann sind es vier. Wo bist du nur gewesen?«

»Da und dort. Mein Handy hat nach einem Bad im Goose Creek den Geist aufgegeben.« Ich nahm es vom Konsolentisch in der Eingangshalle. Endgültig kaputt. »Sieht so aus, als ob ich mir ein neues anschaffen muss. Was ist so dringend?«

»Was meinst du mit ›Was ist so dringend‹? Du hast schließlich diese Frau aus dem Fluss gezogen. Ich schreibe an der Geschichte. Wie steht’s mit ein bisschen Kooperation?«

»Wie steht’s mit einem Abendessen? Und du zahlst, wenn du mit mir reden willst.«

»Die Tribune ist kein Goldesel. Schau dir nur mal mein Gehalt an.«

»Heißt das nun ja oder nein?«

»Wir treffen uns um sieben im Goose Creek Inn. Und es wäre besser, wenn du viel zu berichten hast. Die Unkosten tun mir jetzt schon leid.«

Das Goose Creek Inn, das während der letzten vierzig Jahre bereits jede große Auszeichnung für sein Essen und ›die romantischste Kulisse‹ in der Gegend um Washington bekommen hatte, war eine weiß getünchte Auberge an einer schön gelegenen Landstraße etwas außerhalb von Middleburg. Wie immer war der Parkplatz voll, doch ich fand noch ein Fleckchen, das gerade groß genug für den Mini war, und stellte ihn ab. In den Bäumen funkelten zauberhafte Lichter, und die Luft roch nach brennendem Holz.

In dem großen Eingangsbereich mit seinen Wänden voller primitiver Ölgemälde und klassischer Poster mit Reklame für französischen Alkohol, Zigaretten und Reiseziele tummelten sich etliche Gästegruppen, die darauf warteten, dass ihr Tisch an einem betriebsamen Freitagabend frei wurde. Hier erschienen die Leute noch in feiner Kleidung zum Abendessen, und die Männer wurden gebeten, ein Jackett zu tragen. Jeans waren verpönt.

Provenzalisches Porzellan und antike Kupfertöpfe standen auf einem Sideboard neben einer Ausgabe des Goose Creek Cookbook. Wie üblich gab das aufgeschlagene Kochbuch den Blick auf das Rezept für den berühmten Schokoladenkäsekuchen frei, den mein verstorbener Patenonkel, der dieses Restaurant eröffnete, kreiert hatte. Ich wollte gar nicht wissen, welche obszönen Mengen Butter, Bitterschokolade und Rahmkäse in Fitz’s Käsekuchen gelangten, doch das Rezept sorgte für den Verkauf vieler Kochbücher.

Kit war vor mir eingetroffen und unterhielt sich in der Nähe des Oberkellners mit Dominique. Meine Cousine entdeckte mich durch die Menge hindurch und gab mir ein Zeichen, zu ihnen zu kommen. Das war einer der Vorteile, mit der Eigentümerin verwandt zu sein. Wir würden sofort einen Platz bekommen, vermutlich an ihrem Tisch.

Normalerweise strahlte Dominique die pulsierende Energie einer Supernova aus, wobei sie sowohl das Restaurant als auch das Gooose-Creek-Catering-Unternehmen mit einem dürftigen Samthandschuh über der eisernen Faust leitete. Doch an diesem Abend wirkte sie, als habe man sie durch ein Astloch gezogen. Wir beide hatten den Ehrgeiz unserer Mütter geerbt, die Schwestern gewesen waren. Doch anders als bei mir gab es bei Dominique keinen Schalter zum Ausknipsen. Außerdem benahm sie sich, als habe sie gerade eine Aufforderung erhalten, die Heilige Dreifaltigkeit mit ihrer Wenigkeit zu einem Quartett zu erweitern. Wenn es mal wieder so weit kam, versuchten ihre Mitarbeiter gewöhnlich, ihr aus dem Weg zu gehen. An diesem Nachmittag hatte Joe angedeutet, dass ihre Arbeitswut ihm schließlich den Rest gegeben hatte.

Meine Cousine wirkte elegant in ihrem schwarzen Pullover aus Kaschmirwolle, den schwarzen Hosen und einer schweren goldenen Halskette. Doch ihr Atem roch stark nach Zigarettenqualm, als sie mich nach französischer Sitte auf beide Wangen küsste. Sie hatte wieder begonnen, Kette zu rauchen.

Kit warf mir einen Schmatzer zu, wodurch sie verhinderte, das Marilyn-Monroe-Rot ihres Lippenstifts zu ruinieren. Sie trug einen engen, grünen Minirock mit Druckknöpfen an der Vorderseite und ein khakifarbenes Top, das aussah, als habe es zu lange Zeit im Wäschetrockner verbracht. Ihre Kleider sahen alle so aus. Seit der Highschool hatte sie zwanzig Kilo zugenommen, doch sie redete sich immer noch ein, dass es nur zehn seien.

»Wir sprachen gerade über den Unfall«, sagte Kit. »Du siehst schlecht aus. Ich hörte, du wärst irgendwo aufgeschlagen.«

»Einige Kratzer auf dem Rücken und ein paar Blutergüsse. In ein oder zwei Tagen ist alles wieder in Ordnung.«

»Ein paar der Romeos haben sich hier vorhin auf einen Cocktail getroffen«, sagte Dominique. »Dadurch habe ich davon gehört. Mon Dieu, das muss ja schrecklich gewesen sein.« Sie schnappte sich zwei Speisekarten. »Irgendjemand sagte, Joe sei gestern Abend mit der Frau, die umgekommen ist, auf Mount Vernon gewesen. Ist das wahr?«

Vermutlich würde sie noch früh genug erfahren, dass der Abend für die beiden nicht auf Mount Vernon geendet hatte, doch ich brachte es nicht übers Herz, es ihr in diesem Moment zu sagen. »Ja.«

»Ihr sitzt an meinem Tisch. Ich begleite euch.« Sie drehte sich so abrupt um, dass sie beinahe mit einem Kellner zusammengeprallt wäre. Ich bemerkte zwei hellrosa Flecken auf ihren Wangen, als sie sich entschuldigte.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, holte Kit Spiralblock und Stift hervor und legte beides auf den Tisch. »Worum ging es bei der ganzen Geschichte?«

Ich drehte die kleine Vase mit einer einzelnen roten Rose so herum, dass die Blüte in unsere Richtung zeigte. »Sie und Joe haben die Verlobung aufgelöst.«

Kits Augen wurden schmal. Sie hatte wie üblich mit dem Make-up übertrieben, sodass es jetzt aussah, als hätte sie ihre Augen geschwärzt wie beim American Football. »Hat sie es dir erzählt, oder war er es?«

»Er.«

Sie schlug den Notizblock auf und drückte auf den Knopf des Kugelschreibers. »Sie waren länger verlobt, als manche Ehen halten. Was ist vorgefallen?«

»Ich weiß es nicht. Er hat sich nicht näher dazu geäußert, und sie hat es noch nicht erwähnt.«

»Schade.« Sie klickte noch mehrfach mit dem Druckknopf. »Dann erzähl mir, wie du den Wagen von dieser Beauvais gefunden hast.«

Kit war Bobby Nolands Freundin. Doch sie hatte mir einmal erzählt, dass er ihr klargemacht hatte, Bettgeflüster würde ihm vom Sheriff einen gehörigen Tritt in den Hintern einbringen, und sie müsse sich schon der gleichen Kanäle wie alle anderen Vertreter der Presse bedienen, um an Informationen zu kommen. Ich lieferte ihr einen Kurzbericht der Ereignisse und wartete auf ihre Fragen.

Eine Kellnerin brachte zwei Gläser chilenischen Cabernet Sauvignon sowie einen Brotkorb mit warmen petit pains und nahm unsere Bestellung entgegen. Kit stieß mit mir an. »Ich hörte, dass an dem Wagen möglicherweise herumhantiert worden ist«, sagte sie.

»Das Hinterrad an der Fahrerseite hat sich gelöst.«

»Verstehe.« Sie musterte mich. »Du weißt etwas.«

»Damit kannst du nichts anfangen.«

»Ach, komm schon …«

»Tut mir leid.« Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

»Schon gut. Was ist es?«

»Ich habe neben ihrem Häuschen im Fox and Hound eine Radmutter gefunden. Bobby kam vorbei und hat sie mitgenommen.«

Kit setzte ihr Weinglas auf dem Tisch ab. Ihr roter Lippenstift hinterließ am Rand einen perfekten Abdruck. »Was hast du denn im Fox and Hound gemacht?«

»Das ist auch nichts für deine Story. Wahrscheinlich ist es sogar völlig belanglos für das, was geschehen ist.«

»Erzähl schon.«

»Es hat mit Ryans heutiger Kolumne zu tun. Ich nehme an, du hast sie gelesen.«

»Nicht nötig. Er liest sie mir selbst vor, da sein Büro direkt neben meinem liegt. Manchmal würde ich ihn am liebsten mit dem Kabel seines Laptops erdrosseln.« Sie musterte mich kritisch. »Erzähl weiter.«

»Clay Avery war hier neulich mit Valerie zum Essen und zeigte ihr die Kolumne. Gestern sagte Valerie – im Beisein von Ryan –, dass Clay sie gebeten habe, für die Tribune zu schreiben. Sie meinte, Ryan solle schon mal seinen Lebenslauf aus der Mottenkiste holen.«

Kit zog die Serviette vom Brotkorb und bediente sich. »Das ist neu für mich.«

»Wirklich?«, fragte ich. »Dann erwischte mich Valerie gerade noch, als wir Mount Vernon verlassen wollten, und meinte, sie wisse etwas über die Provenienz des Weins, den Jack gestiftet hat. Aber sie müsse bei mir vorbeikommen und ihn sehen, bevor sie mir sagen könnte, was es ist.«

»Du meinst die Flasche, die Jefferson für Washington gekauft hat?«

»Sie fragte, wie ich es geschafft hätte, sie zu ergattern – als hätte ich erst mit Jack schlafen müssen oder dergleichen.«

»Jesses, das hat sie gefragt?« Kit verzog das Gesicht. »Das ist ja widerlich. Provenienz, was? Glaubst du, sie wollte andeuten, dass die Flasche möglicherweise gestohlen ist?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich habe Angst, dass sie mir sagen wollte, es sei eine Fälschung.«

»Gefälschter Wein?«

»Natürlich. Das passiert ständig. Man verschneidet mehrere gute Weine so, dass sie wie ein Weltklasse-Wein schmecken, oder man klebt falsche Etiketten auf mittelmäßigen Wein – etwas in der Art. Sammler kaufen diese Flaschen dann und lagern sie. Und es dauert Jahre, bevor sie feststellen, dass sie hereingelegt worden sind.«

Unser Essen kam – Cassoulet für Kit, ein Ragout aus Herbstgemüse mit Orzo für mich. Als Wein hatten wir eine Flasche Swedenburg Estate Cabernet bestellt. Der Kellner öffnete sie und schenkte mir etwas ein, um zu probieren. Ich nickte, und er füllte unsere Gläser.

»Wie willst du herausfinden, ob es eine Fälschung ist oder nicht?«, fragte Kit.

»Keine Ahnung. Und weißt du was? Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihr hätte glauben sollen. Ryan sagte, sie habe Teile ihres Buches abgeschrieben. Sie war also nicht gerade ehrlich.«

Kit legte ihre Gabel ab. »Du meinst, sie könnte diese ganze Geschichte erfunden haben?«

Ich seufzte und starrte in mein Weinglas. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht wollte sie einfach nur Unruhe stiften.«

»Hört sich an, als wäre sie jemand gewesen, der wusste, wie man das anstellt. Vielleicht war es das, was ihr den Tod gebracht hat.«

»Ryan konnte sie nicht ausstehen.«

»Ryan ist temperamentvoll und hat ein starkes Ego«, sagte sie, »aber ich glaube nicht, dass er zu so drastischen Mitteln greifen würde. Du redest von Totschlag.«

»Im Zorn oder als Reaktion auf eine extreme Provokation«, sagte ich. »Du weißt doch, was Bobby sagt. Unter den richtigen Umständen – oder den falschen – ist jeder zu allem imstande. Selbst zu etwas, was gar nicht seinem Charakter zu entsprechen scheint.«

»Da hast du deine Antwort. Vielleicht hat er es getan, vielleicht auch nicht.«

»Irgendjemand hat es getan.« Ich wollte nicht Joe und die Tatsache, dass vermutlich er und Valerie in flagranti erwischt werden konnten, während jemand draußen an ihrem Auto herumhantierte, ins Spiel bringen. »Tut mir leid, wenn ich nicht viel zu deiner Story beitragen konnte.«

»Vergiss es.«

Es sah Kit gar nicht ähnlich, mich so einfach davonkommen zu lassen. Ich schaute auf ihren Teller. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles in Ordnung.« Sie blickte nicht hoch.

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Bist du … warte mal. Bist du schwanger?«

Ihre Wangen wurden scharlachrot. »Himmel, Lucie! Das ist doch lächerlich. Wie kommst du denn darauf?«

Ich wartete.

»Na gut«, sagte sie. »Da ist etwas, aber nicht das. Mir wurde ein Job angeboten, in Moskau. Als zweite Korrespondentin.«

»Moskau, in Russland?«

»In Moscow, Idaho haben wir kein Büro.«

»O mein Gott, du meinst es ernst. Überlegst du, ob du annehmen sollst?«

»Würdest du bitte aufhören, mich anzustarren, als wollte man mich mit einer Rakete in den Weltraum schießen? Ich habe in der Auslandsredaktion gearbeitet, bevor ich nach Loudoun kam, falls du das vergessen haben solltest.«

»Ich weiß. Aber es ist so … weit weg. Ich dachte, du müsstest wegen deiner Mutter hierbleiben.«

»Meine Mutter meint, ich solle mein eigenes Leben leben und es nicht an ihres ketten.« Sie brach ein Stück von einem Brötchen ab und tunkte es in die Soße ihres Cassoulet. »Ich habe mein ganzes Leben lang noch keinen Reisepass besessen. Es wäre das erste Mal, dass ich wirklich etwas von der Welt sehe. All diese Orte mit ihren komischen Namen.« Aus ihrer Stimme klang Sehnsucht.

»Bist du sicher, dass du einen so radikalen Schritt tun willst?«

»Es bedeutet gleichzeitig eine riesige große Gehaltserhöhung.«

»Weil es ein besserer Posten ist?«

»Weil es ein Knochenjob ist und sie keine Leute haben, die sich darum reißen.«

»Was sagt Bobby dazu?«

»Ich hab’s ihm noch nicht erzählt.«

»Es klingt, als seiest du entschlossen zuzusagen.«

Sie zuckte die Achseln. »Bis Ende des Monats muss ich mich entschieden haben. Der Sprachkurs beginnt nach Weihnachten. Vor Juni ginge es nicht los.«

»Kurz nachdem in Russland der Schnee schmilzt?«

»Ha, ha. Möchtest du einen Nachtisch?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dieser Schokoladenmousse sieht überirdisch aus«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich sie bitten, mein Cassoulet einzupacken, dann kann ich es zusammen mit einem Dessert mitnehmen. Ich muss zurück ins Büro.«

Sie bat um die Rechnung, und wir tranken den Rest des Weins.

»Ich werde dich vermissen, falls du den Job annimmst«, sagte ich.

»Ich werde dich auch vermissen.« Sie unterschrieb die Rechnung, während der Kellner einen Styroporbehälter brachte. »Ich weiß noch nicht, was ich machen soll. Mal will ich gehen, und im nächsten Moment will ich wieder nicht.«

Als wir in die Eingangshalle kamen, stand Dominique immer noch neben dem Podest des Oberkellners und sprach mit irgendwelchen Gästen. Kit winkte ihr zum Abschied zu, doch ich blieb und wartete, bis sie frei war.

»Wie war das Essen?«

»Hervorragend. Es ist immer hervorragend. Das weißt du doch«, sagte ich.

Sie lächelte, doch ihre Augen wirkten traurig. Ich hatte keine Lust, die Fassade weiter aufrechtzuerhalten. »Joe hat es mir erzählt, Dominique. Es tut mir leid. Wirst du damit fertig?«

Sie hob eine Hand, als wolle sie meine Worte physisch abwehren. »Natürlich. Im Übrigen habe ich damit gerechnet. Man braucht kein Zukunftsgucker zu sein, um zu verstehen, warum wir uns getrennt haben.«

Wenn sich Dominique aufregte, gingen ihr Englisch und vor allem die Redewendungen häufig buchstäblich mit ihr durch.

»Möchtest du darüber reden?«

»Da gibt es nichts zu reden. Und du brauchst auch nicht auf Samthandschuhen um mich herumzutanzen.«

Ich nahm sie in die Arme und drückte sie an mich. Sie fühlte sich zerbrechlich wie ein Vögelchen an. Sie hatte bereits so abgenommen, dass es nach Magersucht aussah. »Ruf mich an, falls du es dir überlegst.«

»Ich komme schon zurecht.«

Ich verabschiedete mich und ging nach draußen. Sie lag falsch. Sobald es sich herumsprechen sollte, dass Joe die Nacht vor Valeries Tod mit dieser verbracht hatte und dass er demzufolge bei dem Cottage gewesen war, wo die Radmutter gefunden worden war, würde es eine Menge zu bereden geben.

Und nichts davon würde angenehm sein.