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Kapitel 22

Hören Sie«, sagte Quinn, als es klingelte, »wir ziehen das als guter Cop, böser Cop durch. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte ich. »Was bin ich?«

»Machen Sie die Tür auf.«

Kyras Modegeschmack – und ihre Einstellung – hatten sich nicht geändert, seit ich sie beim Point-to-Point-Rennen gesehen hatte. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, trug jede Menge Metall, brauchte dringend ein Bad und eine Dosis Flohpulver.

Ich führte sie und Amanda ins Wohnzimmer, wo Quinn wartete, und bat sie, sich zu setzen. Amanda nahm auf dem Sofa Platz, Kyra blieb stehen.

»Du wurdest aufgefordert, dich zu setzen«, sagte Quinn zu Kyra. »Tu es!«

Seit ich ihn kannte, hatte ich ihn nur ein paar Mal in diesem Ton reden hören. Sie setzte sich. Quinn lehnte an der Kamineinfassung und starrte sie an. Ich setzte mich in den Ohrensessel ihnen gegenüber, mit den Händen im Schoß.

Kyra nahm wieder ihre finstere, feindselige Haltung ein, während ich sie zu dem befragte, was sie getan hatte. Schließlich sagte Quinn, der zunehmend ärgerlicher geworden war: »Weißt du, weshalb du hier bist?«

»Ja. Weil sie mir den Sheriff auf den Hals gehetzt hätte, wenn ich nicht gekommen wäre.«

»Wirklich?« An Quinns Kiefer zuckte ein Muskel. »Die richtige Antwort, mein Schätzchen, wäre gewesen, dass du gekommen bist, um uns zu erklären, warum du das getan hast – und dich zu entschuldigen.«

»Sorry.«

Quinn sah aus, als würde er ihr am liebsten eine Ohrfeige geben. Ich warf ihm einen Blick zu. So kamen wir mit ihr nicht voran.

»Kyra!«, sagte Amanda warnend.

»Ich habe doch ›sorry‹ gesagt.«

»Spiel uns hier nichts vor«, sagte Quinn. »Ich glaube nicht, dass du dazu Talent hast.«

Ich warf ihm erneut einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf.

»Ist dir klar, in welche Schwierigkeiten du gekommen wärst, wenn ein Pferd über das Hindernis gesprungen wäre, das du beschädigt hast, und wenn der Reiter dabei gestürzt wäre?«, fragte ich. »Vor acht Jahren hat irgendetwas das Pferd meiner Mutter verängstigt, sodass es sie bei einem Sprung abgeworfen hat. Sie hat sich das Genick gebrochen und starb im Krankenwagen.«

Das drang zu ihr durch. Ihre Augen, die bei all dem Eyeliner und der Wimperntusche an einen Waschbären erinnerten, weiteten sich, und zum ersten Mal zeigte sie Angst.

»Hast du noch an einem anderen Sprung manipuliert, ohne dass deine Mutter es bemerkt hat?«, fragte ich. »Oder sonst etwas getan, das wir wissen müssen?«

»Nein«, sagte sie.

Quinn wies mit einem Finger auf sie. »Wenn du gelogen hast, Kleine …« Er beendete den Satz nicht.

»Ich lüge nicht. Ich habe nichts weiter gemacht. Ehrenwort!« Die Worte sprudelten aus ihr heraus.

»Also gut«, sagte ich. »Ich glaube dir.«

Sie nickte, und ich sah, wie sie sich langsam entspannte.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte ich. »Ich erwarte von dir, dass du die Säulen und die Mauer saubermachst. Anschließend haben sie so auszusehen wie vorher, bevor du sie mit Farbe beschmiert hast.«

»Woher kriege ich das Wasser?«, fragte sie.

»Ich bin sicher, dass dir etwas einfallen wird«, sagte ich.

»Das dauert ja ewig.«

»Nein. Aber einige Zeit wirst du brauchen.«

»Warum hast du das getan?«, fragte Quinn.

Kyra schaute ihn vorsichtig an. »Weiß nicht. Ich kann Fuchsjagden nicht leiden, schätze ich.« Sie warf einen Blick zu ihrer Mutter hinüber und sagte: »Ich finde es blöde. Leute, die das machen, sind blöde.«

Amanda machte den Eindruck, als hätte sie sich ständig auf die Zunge gebissen, seit sie den Raum betreten hatte. Jetzt lief ihr Gesicht rot an.

»Jetzt reicht’s aber, Kyra! Es ist höchste Zeit, dass wir gehen.« Wenn sich Amandas Worte in einer Sprechblase über ihrem Kopf befunden hätten, wären sie von Eis umhüllt gewesen.

»Ich gehe nicht auf die Fuchsjagd«, sagte ich.

»Nein, aber Sie erlauben es den anderen.« Kyra warf den Kopf mit einem Ruck in Richtung Amanda zurück. »Ihre Farm ist Teil von deren Jagdgebiet.«

»Sie ist eine von mehreren Farmen. Warum hast du mich ausgewählt?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hab gehört, wie meine Eltern über die Frau geredet haben, die umgekommen ist, als ihr Auto in den Goose Creek geflogen ist. Und dass Sie etwas herauszukriegen versuchen, das die Frau Ihnen erzählen wollte«, sagte sie. »Ich hab mir gedacht, Sie würden vielleicht Angst haben, dass jemand hinter Ihnen her ist. Und dann hätten Sie so viel Angst, dass Sie die Jagd abblasen.«

Quinn und ich warfen uns einen Blick zu. Ich räusperte mich. »Ich verstehe.«

Amandas Miene war eine Mischung aus Ärger und Fassungslosigkeit. »Ich kläre das mit ihr zu Hause«, sagte sie zu uns.

»Und wir erwarten sie morgen hier«, sagte Quinn. Er schaute Kyra an. »Richtig?«

Sie nickte, wenn auch mürrisch.

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird vorbeikommen, sobald die Schule aus ist«, sagte Amanda.

»Ausgezeichnet!«, sagte ich. »Dann ist unser Gespräch wohl beendet.«

Quinn und ich begleiteten die beiden zu Amandas Range Rover.

»Ganz fertig sind wir noch nicht«, sagte Quinn. Er ging zum Kutschenschuppen und öffnete die Tür. Als er zurückkam, trug er den Plastiksack mit Freddies Resten darin. »Das gehört dir. Und das hier auch.«

Er reichte dem Mädchen den Sack und das Halsband.

Kyra nahm beides schweigend und mit niedergeschlagenen Augen entgegen. Das Halsband hielt sie, als habe es ein enormes Gewicht. Ich wusste, dass ihr klar geworden war, wodurch sie sich verraten hatte.

»Dieses ausgestopfte Tier war das letzte Geschenk, das du von deinem Großvater bekommen hast, bevor er starb, Ky«, sagte Amanda. »Leg den Sack in den Kofferraum und warte im Auto.«

Sie gehorchte, immer noch wortlos.

»Ich möchte mich noch einmal für meine Tochter entschuldigen«, sagte Amanda. »Wie gesagt, ihr Vater und ich werden sie ins Gebet nehmen.«

»Ich denke, sie ist schon gestraft genug«, entgegnete ich. »Ich bin sicher, dass es nicht wieder geschieht. Sehen wir dich morgen bei der Jagd?«

Sie nickte. »Danke!«

»Morgen früh werde ich als Erstes die südliche Absperrung öffnen«, sagte Quinn. »Dann brauchen Sie und die anderen Teilnehmer nicht durch den Haupteingang zu kommen, wenn Sie nicht wollen.«

»Niemand außer uns weiß von Freddie«, sagte ich. »Und was die Farbe an der Einfahrt betrifft, falls da jemand Fragen stellen sollte, dann war es vermutlich ein vorgezogener Halloween-Streich.«

»Das ist nicht nötig, aber ich bin natürlich dankbar dafür.«

Sie stieg in den Wagen und fuhr davon.

»Ich fürchte, das wird zu einem Riss in unserer Freundschaft führen, der nicht zu kitten ist«, sagte ich.

»Nun, sie sollte lieber zusehen, dass sie die Situation in den Griff bekommt«, sagte Quinn. »Mit diesem Gör hat sie alle Hände voll zu tun.«

»Ich weiß. He, Sie waren gut als böser Cop. Sie haben mir richtig Angst gemacht.«

Er machte einen zufriedenen Eindruck. »Das war doch gar nichts«, sagte er. »Ich war noch nicht mal warmgelaufen.«

Pépé erschien am nächsten Morgen um acht Uhr, als ich mich gerade in die Weinkellerei aufmachen wollte. Wir begegneten uns in der Halle. Er sah ein bisschen mitgenommen aus, die Fliege war charmant verrutscht, und er duftete nach Cognac, Tabak und schwerem altmodischen Parfüm, das jemand anderes aufgelegt hatte. Gott sei Dank war er nicht gefahren.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee? Ich habe die Maschine gerade erst ausgeschaltet, er ist also noch ziemlich heiß«, sagte ich und küsste ihn auf die Wange. »Wie war es?«

»Formidable«, sagte er. »Aber ich bin ein wenig müde.«

»Vielleicht solltest du ins Bett gehen.«

Er nickte. »Ich denke, das werde ich tun.«

»Nachmittags komme ich und hole dich ab«, sagte ich. »Sagen wir so gegen drei oder vier? Außer wenn du länger schlafen möchtest, dann können wir auch morgen zum Friedhof gehen.«

»Nein, nein«, sagte er. »Ich möchte heute gehen. Wenn es dir immer noch recht ist.«

»Natürlich«, sagte ich. »Bis später dann.«

Ich beobachtete, wie er die Treppe hinaufstieg. Er brauchte einige Zeit dafür. Zweiundachtzig Jahre alt und die ganze Nacht durchgemacht, als wäre er achtundzwanzig. Ich warf ihm eine Kusshand zu, die er aber nicht sah, und fuhr zur Weinkellerei.

Ich war die Erste in der Villa. Quinn kam später, nachdem er die südliche Absperrung für den Goose-Creek-Jagdclub geöffnet hatte.

»Sind sie gekommen?«, fragte ich.

»Oh, ja. Mit dem Blasen des Fuchshorns und dem ganzen Klimbim, der dazugehört. Sie haben den südlichen Eingang genommen, wie wir es vermutet haben.«

»Viele Pferdeanhänger?«

»Ein paar. Die meisten kamen auf ihren Pferden. Mit Reitjacke.«

»Haben Sie Amanda gesehen?«

»Ja.«

»Shane?«

»Den auch. Mit der ganzen Meute, und die hat gekläfft wie verrückt. Er meinte, es würde ein guter Tag ohne Wind werden und ziemlich kühl. Der Geruch der Füchse würde sich dicht am Boden halten. Da kann die Meute ihnen leicht folgen.«

»Gut. Ist Mick auch dabei?«

Er stemmte die Arme in die Hüften. »Vielleicht hätte ich eine Liste machen sollen. Ja, Mick war auch da. Sunny, Ryan. Die üblichen Verdächtigen.«

»Ich habe doch nur gefragt.«

»Sie hätten sich gleich nach Mick erkundigen sollen. Obwohl ich angenommen hätte, dass er es Ihnen selbst erzählt. Zumal Sie wieder mit ihm schlafen.«

»Haben Sie nichts zu tun?«

»Nicht bevor ich eine Tasse Kaffee bekommen habe. Ist er schon aufgesetzt?«

»Ich hatte keine Zeit.«

»Mir scheint, ich muss hier alles selbst in die Hand nehmen, was?«

Ich folgte ihm in die Küche. »Woher wissen Sie das von Mick und mir?«

»Bin heute Morgen im Gemischtwarenladen gewesen. Thelma war zum Schwatzen aufgelegt.«

Ich war gerade dabei, Wasser in die Kaffeekanne laufen zu lassen. Ich drehte mich heftig um, und das Wasser klatschte auf den Boden. »Sollte Thelma mal nicht zum Schwatzen aufgelegt sein, dann hat ihr Puls zu schlagen aufgehört. Soll das etwa heißen, im Gemischtwarenladen macht die Runde, dass ich die Nacht in Micks Haus verbracht habe?«

»Sie haben dort geschlafen? Sie war sich nämlich nicht sicher, wer bei wem in der Koje gelegen hat.« Er nahm mir die Kanne ab und schüttete das Wasser in die Kaffeemaschine.

Ich wischte den Fußboden auf, während die Maschine zu gurgeln begann.

»Behalten Sie es bitte für sich, ja?«

Er holte einen Milchkarton aus dem Kühlschrank. »Dann sind Sie also wieder zusammen?«

»Nein. Und ich möchte auch nicht darüber reden.«

Er lehnte sich an die Theke und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na schön, in Ordnung.«

Ich griff nach dem Zuckertopf und bediente mich. »Haben Sie eine Ahnung, ob Nicole die Stadt schon verlassen hat?«

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich weiß es nicht. Sonntagmorgen hat sie angerufen und eine Nachricht hinterlassen, aber ich habe mich nicht bei ihr gemeldet. Bleibt da noch Platz für Kaffee, bei der Zuckermenge?«

»Huh? Oh! Sie machen starken Kaffee. Da braucht man etwas mehr Zucker.«

»Sie sind sauer, weil Mick Nicole engagiert hat.«

Ich griff nach der Milch. »Na gut, dann bin ich es eben. Wissen Sie was? Ich bin endlich dahintergekommen, dass es ihm immer nur ums Geschäft geht – selbst wenn es den Anschein macht, es wäre nicht so. Sein ganzes Leben dreht sich nur um Arbeit und zu gewinnen und das Beste von allem zu besitzen.« Ich rührte in meinem Kaffee, bis er die Farbe von flüssigem Karamell hatte. »Nicole hat einen guten Ruf, daher musste er sie natürlich engagieren. Das Dumme ist nur, dass er nie zufrieden oder glücklich zu sein scheint. Er ist immer ruhelos. Gelangweilt.«

Ich dachte an das, was Frankie mir jüngst über ihn gesagt hatte. Ihm ging es immer nur um den Nervenkitzel der Jagd.

»Das schließt auch Sie mit ein?«, fragte Quinn.

»Ja.« Ich blies in meinen Kaffee. »Wie kommt’s, dass Sie sich nicht mehr bei Nicole gemeldet haben?«

Er nahm seinen Becher und hielt mir die Schwingtür auf. »Ich weiß es nicht.« Wir gingen beide in den Probierraum, während die Tür so stark hin- und herschwang, dass die Scharniere quietschten. »Ich denke, wir beide haben Dinge, über die wir nicht reden möchten«, sagte er.

Die Jagd, die es ermöglicht hatte, die jungen Hunde in die Meute zu integrieren und die jüngeren Pferde ernsthaft zu testen, endete kurz vor zwölf Uhr mittags. Noch handelte es sich um die eher zwanglose Jagdsaison, in der man von Cub Hunting sprach, und sie dauerte von September bis November. Selbst die Kleidung war leger, da die Teilnehmer leichte Tweedjacken statt der formellen schwarzen Jacketts trugen, die sie benutzten, sobald die reguläre Saison im November begann.

Amanda rief kurz nach zwölf an, um sich zu bedanken und mir mitzuteilen, dass sich alle nach einem kleinen Imbiss verabschiedet hätten.

»Schöne Hatzen gehabt?«, fragte ich.

»Sogar einige«, sagte sie. »Diesmal sind wir meistens im westlichen Tel deiner Farm geblieben. Jenseits des Weihers.«

»Das ist neu für euch, nicht wahr?«

»Shane wollte die Meute weit genug vom Grundstück der Orlandos fernhalten«, sagte sie. »Wir hatten ein paar widerspenstige junge Hunde dabei. Es macht keinen Sinn, das Schicksal herauszufordern.«

»Und war alles in Ordnung, als ihr da draußen unterwegs wart?«

»Alles bestens.« Ihre Stimme wurde frostig. »Kyra kommt natürlich nachher vorbei.«

»Danke! Schau, Amanda, ich hoffe, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Was mich betrifft, ist alles bereinigt.«

»Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?«, fragte sie, doch es war deutlich zu hören, dass etwas nicht stimmte.

Pépé saß angekleidet in der Bibliothek und las in alten Ausgaben der Washington Tribune, als ich gegen halb vier nach Hause kam.

»Ryan Worths Kolumnen?«, fragte ich und küsste ihn auf die Wange. Ryan hatte mir vor ein paar Tagen ein Paket geschickt. »Liest du sie jetzt endlich?«

»Eh, bien, ich habe es ihm versprochen.«

»Und wie findest du sie?«

Er legte sie auf den Tisch. »Er scheint eine Menge Wein zu trinken, der ›sexy‹ ist. Oder ›muskulös‹. Auch einen Wein, der einen an der Kehle packt und nicht loslässt.« Er schaute mich über die Brillengläser hinweg an und legte die Hände um seinen Hals, um eine Strangulierung vorzutäuschen.

Ich lachte. »Ich denke, er versucht Weine auf eine Art und Weise zu beschreiben, die die Leute nachempfinden können.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich gehöre zur alten Schule. Ich möchte etwas über den Geschmack, den Abgang, die Blume wissen. Und mich interessiert nicht, ob der Wein mit mir einen Ringkampf machen will.«

»Komm«, sagte ich. »Ich nehme dich jetzt mit. Bist du bereit, mit mir zum Friedhof zu fahren?«

»Ja. Aber vorher muss ich noch etwas holen. Es ist in der Küche.« Er kam mit einem Strauß Chrysanthemen, Margeriten und Sweetheart-Rosen in den rostbraunen und goldenen Farben des Herbstes zurück. »Ich habe sie im Wasser gelassen, bis du kommst.«

»Sie sind wunderschön! Wo hast du sie bekommen?«

»Deine Freundin Thelma hat sie arrangiert. Sie wurden ihr vor ein paar Stunden geliefert.«

»Thelma verkauft keine Blumen.«

»Oh …? Mir verkauft sie aber welche.«

»Ich glaube, jetzt hast du endgültig eine Freundin gefunden«, sagte ich.

Er bog seinen Kragen gerade und schien sehr zufrieden mit sich zu sein. »Wie heißt das noch mal auf Englisch? Ein ladyslayer?«

»Ladykiller.«

»C’est moi

»Komm, Casanova! Schnapp dir deinen Mantel, und dann geht’s los.«

Es war kühler geworden während der letzten Stunden, daher klappte ich das Verdeck des Minis wieder hoch, bevor ich meinen Großvater zum mit Backsteinen eingefassten Friedhof fuhr, auf dem meine Vorfahren seit über zweihundert Jahren begraben worden waren. Meine Mutter war immer gerne zum Malen hierhergekommen, wegen des atemberaubenden Blicks auf die Blue Ridge Mountains und des Lichts, das magisch war, wie sie sagte. Als kleines Mädchen hatte ich sie oft begleitet und zwischen den Grabsteinen gespielt. Nach ihrem Tod hatte ich häufig neben ihrem Grabmahl gesessen und mit ihr geredet. Nachdem ich die Leitung des Weinguts übernommen hatte, fanden diese Gespräche ziemlich regelmäßig statt. Doch seit der Weinlese war ich wegen der vielen Arbeit nicht mehr so oft hier gewesen.

Pépé hielt mir das schmiedeeiserne Tor auf. Die Blumen, die ich am Labor Day zu den Gräbern meiner Eltern gebracht hatte, waren verfault, und die Vasen waren umgekippt. Ich nahm die Blumen, warf sie über die Mauer und wünschte, ich hätte dies bereits getan, bevor ich meinen Großvater hierher führte. Er nahm eine Rose aus dem für meine Mutter bestimmten Strauß und legte die übrigen Blumen auf die Rasenfläche, unter der sie begraben war. Wenn ich ihn richtig kannte, dann hatte er versucht, sie an jene Stelle zu legen, wo er ihr Herz vermutete. Danach legte er die Rose auf Lelands Grab. Ich bewunderte ihn dafür, dass er es tat. Er hatte gewusst, dass mein Vater meiner Mutter während ihrer Ehe das Leben schwer gemacht hatte, indem er ständig hinter fremden Frauen hergewesen war und seiner Neigung für Glücksspiel und schlechten Geschäften freien Lauf gelassen hatte, und ich wusste, dass meinen Großvater dies immer noch schmerzte.

Ich ließ ihn am Grab meiner Mutter zurück, ging zwischen den Grabsteinen der Montgomerys herum, fegte herabgefallene Blätter weg und rupfte Unkraut. Vielleicht konnte ich Eli in den nächsten Tagen dazu überreden, mit mir hierherzukommen und die Gräber zu säubern. Allerheiligen und Allerseelen standen bevor. Dann würden wir für jeden Blumen bringen – und am Tag der Veteranen Flaggen für alle, die in den Kriegen gekämpft hatten.

Pépé kam zu mir, und ich hörte auf, Laub aufzusammeln, das auf dem Grabstein von Hugh Montgomery lag, der zusammen mit Mosby während des Bürgerkriegs gekämpft hatte.

»Ich würde noch gerne ihr Kreuz besuchen«, sagte er.

Ich hatte ein kleines Kreuz an der Stelle errichtet, wo meine Mutter auf einer Wiese hinter den alten Weinstöcken an der Südseite der Farm zu Tode gekommen war. Im Frühling hatten wir in der Nähe neue Sorten gepflanzt, sodass jetzt dieser Bereich, der früher ziemlich isoliert gelegen hatte, mit Fahrzeugen erreicht werden konnte. Quinn hatte dafür gesorgt, dass die Fläche um das Kreuz ursprünglich und unberührt blieb, daher sah sie noch so aus wie damals, als meine Mutter dort geritten war, mit Ausnahme jenes Pfades, den wir im Laufe der Jahre durch unsere Besuche getreten hatten.

Ich fuhr den Zufahrtsweg hinab und bog am Ende des Feldes in der Nähe des Kreuzes ab. Der Wind hatte in der letzten halben Stunde zugenommen, und das Licht war gegen Ende des Tages milchig geworden. Die Serenaden der Grillen hatten sich beruhigt, übertönt nur durch den vereinzelten Schrei eines Vogels und das beständige Rauschen des Windes in unseren Ohren. Mehrere Truthahngeier zogen über uns ihre Kreise und hatten vermutlich den Kadaver eines Rehs im Visier.

Ich hakte mich bei meinem Großvater unter und ging mit ihm zur Gedenkstätte. Er trug eine langstielige gelbe Rose vor sich her, wie bei einer Prozession. Als wir am Kreuz angelangt waren, legte Pépé die Rose nieder, und seine Lippen bewegten sich. Ich drückte seinen Arm und überließ ihn seinem Gebet.

Über uns kreisten die Geier und stürzten herab und beschwerten sich kreischend, dass wir sie mit unserer Anwesenheit bei ihrem Mahl störten. Ich ging ein Stück weiter, um zu sehen, was es war. Manchmal – nicht oft – warfen Leute, die zu unserer Plantage kamen und dort Äpfel pflückten, einen Sack mit Picknickabfällen durch das Wagenfenster in den Wald, weil sie zu faul waren, ihn mit nach Hause zu nehmen und dort zu entsorgen. Quinn hatte geschworen, falls er jemals Leute dabei erwischen sollte, dann würde er dafür sorgen, dass sie den Inhalt der Säcke essen müssten, während er zuschaute.

Wenn wir den Müll nicht beseitigten, würden Geier und anderes Getier den Abfall zerstreuen, und es gäbe bald eine große Sauerei durch unverdauliche Pappe, Plastik und Papier. Als ich näherkam, schlug mir der Gestank von etwas Verwesendem wie eine Woge entgegen. Menschliches Fleisch. Bobby Noland hatte mir den Geruch einmal in unvergesslicher Weise beschrieben. Ich zog mir den Jackenaufschlag über die Nase und machte noch ein paar Schritte.

Von dort, wo ich stand, konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, doch ich erkannte das hinreißende rostbraune Kostüm, das Nicole Martin an dem Tag getragen hatte, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war.