KAPITEL EINUNDVIERZIG 

Gary Wright hielt ein Sandwich in der Hand, als er öffnete, und Vera dachte sich, dass sie eigentlich halb verhungert sein müsste. Komischerweise war sie das aber nicht. Allein von dem Gedanken an Essen wurde ihr fast übel.

«Was soll das eigentlich alles?» Er trat einen Schritt zur Seite, um sie in die Wohnung zu lassen. «Heute früh war schon einer von Ihren Leuten hier, der mir aber nicht sagen wollte, was los ist.» Im Hintergrund lief Musik. Vera hatte nicht viel für Musik übrig. Hin und wieder hatte sie mal ein Lied im Kopf, das machte sie dann ganz sentimental. Meistens war es irgendeine Melodie aus ihrer Kindheit. Aber die meiste Zeit empfand sie Musik nur als unwillkommene Ablenkung.

«Könnten Sie das vielleicht ausschalten?»

Gary drehte an einem Knopf, und die Musik verstummte. Sie standen beide mitten im Zimmer. «Möchten Sie einen Kaffee?», fragte er. Dann schien ihm ihr letzter Besuch wieder einzufallen. «Oder ein Bier?»

«Sie haben also nichts von Julie gehört?»

«Heute noch nicht.» Er schwieg einen Moment. «Aber letzte Nacht war sie hier.»

«Ja, das hat sie mir erzählt.» Vera setzte sich. «Dann wissen Sie das mit ihrer Tochter also noch gar nicht?»

«Laura? Was ist denn passiert?» Er hatte sich gerade den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund geschoben, und sie wartete mit ihrer Antwort, bis er fertig gekaut hatte.

«Kennen Sie sie näher?»

«Ich habe sie nur einmal gesehen, als ich in Seaton vorbeigeschaut habe.»

«Was halten Sie von ihr?»

«Nichts. Ich meine, keine Ahnung. Wir haben kaum miteinander geredet.»

«Sie ist ein attraktives junges Mädchen.» Vera deutete mit dem Kopf auf das Foto von Emily. «Und offenbar mögen Sie es ja eher mager.»

«Mein Gott, ich bitte Sie! Sie ist doch erst vierzehn!» Doch Vera glaubte, nicht nur Entrüstung in diesem Ton zu hören. Ein Schuldgefühl? Anscheinend war ihm das Mädchen doch nicht ganz gleichgültig. «Sie hat mir leidgetan. Schließlich war sie ja im Haus, als ihr Bruder ermordet wurde. Erst vor ein paar Tagen habe ich noch zu Clive gesagt …»

Vera fiel ihm ins Wort. «Sie ist verschwunden. Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich kurz mal hier umschaue.»

«Wieso sollte sie denn hier sein? Sie weiß doch gar nicht, wo ich wohne!»

«Lassen Sie mir doch die Freude, Herzchen.»

Vera stemmte sich vom Sofa hoch, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie Laura hier nicht finden würde. Falls Gary sie tatsächlich entführt hatte, war er sicher nicht so dumm, sie hierher in seine Wohnung zu bringen, und Vera konnte sich das ohnehin nicht recht vorstellen. Aber wo sie nun schon mal da war, konnte sie auch tun, was sie sich vorgenommen hatte. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Das Bett war ordentlich gemacht, das Zimmer aufgeräumt.

«Wann ist sie denn verschwunden?», fragte Gary hinter ihr.

«So gegen halb neun. Auf dem Weg zum Schulbus.»

«Da war ich hier, zusammen mit Julie.»

«Die, nach ihrer eigenen Aussage, ihren Rausch ausgeschlafen hat, weil sie zu viel Wein getrunken hatte. Den hatte sie ja wohl von Ihnen.» Vera öffnete energisch die Badezimmertür. Auf der Fensterbank standen diverse Duschgels und Aftershaves. Mehr Duftwässerchen, als sie in ihrem ganzen Leben besessen hatte. Und keine Spur von Laura.

«Sie wollte sich unbedingt betrinken. Ich hätte sie nur schwer davon abhalten können, selbst wenn ich das gewollt hätte. Aber wozu hätte ich das tun sollen? Sie wollte zumindest mal einen Abend lang nicht an Luke denken.»

Vera warf einen Blick in die Küche und schaute durch die Glastür hinaus auf den Balkon. Nichts. «Das weiß ich doch, Herzchen. Ich mache Ihnen ja gar keinen Vorwurf.» Sie blieb stocksteif mitten im Zimmer stehen. «Aber Sie können sich doch wohl vorstellen, wie ihr gerade zumute ist. Sind Sie ganz sicher, dass Sie mir nichts erzählen können? Über Luke oder Lily Marsh vielleicht? Oder sonst etwas über diesen ganzen Schlamassel? Haben Sie vielleicht irgendwas von Clive, Peter oder Samuel gehört?»

Gary zögerte eine Sekunde lang. War er etwa in Versuchung, ihr von Peter Calverts Affäre mit Lily zu erzählen? Hatte er davon gewusst? Am Ende siegte doch die männliche Solidarität, und er schüttelte den Kopf.

«Tut mir leid, Inspector. Das war alles nur ein schrecklicher Zufall. Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen.»

Da reichte es Vera mit ihm, und sie ging grußlos aus der Wohnung. Schon an der Treppe hörte sie von drinnen wieder die Musik.

Im Wagen wählte sie ihre eigene Büronummer, nachdem sie einen Augenblick gebraucht hatte, um sie sich in Erinnerung zu rufen. Joe Ashworth meldete sich sofort. «Apparat Inspector Stanhope.»

«Und?»

«Nichts Neues von dem Mädchen. Da hätte ich Sie doch gleich angerufen.»

«Und was ist mit der Geschichte?»

«Ich bin erst auf der Hälfte, ich wollte ja vorne anfangen. Aber faszinierend ist das schon, nicht? So viele Ähnlichkeiten.»

«Und ich dachte schon, ich spinne», sagte Vera. «Das passiert ja manchmal, wenn man besessen von etwas ist. Ich werde jetzt mal sehen, ob ich Parr finden kann.» Sie beendete das Gespräch, ohne seine Antwort abzuwarten. Dann warf sie das Handy auf den Beifahrersitz. Sie würde es wohl nie schaffen, sich ein Headset zuzulegen.

Als sie in Morpeth ankam, war es bereits früher Abend. In der ruhigen Straße, wo Samuel Parr wohnte, war seine nicht mehr ganz junge Nachbarin damit beschäftigt, die welken Blüten aus dem Rosenbeet in ihrem Vorgarten zu entfernen. Ein paar Häuser weiter tobten Kinder in einem Planschbecken, kicherten und kreischten vor Freude. Die Frau gab sich Mühe, nicht hinüberzuschauen, als Vera aus dem Wagen stieg und bei Parr klopfte. Wahrscheinlich fand sie es unhöflich, zu auffällig hinzustarren, und wollte nicht den Eindruck erwecken, neugierig zu sein. Vera dachte sich, dass Samuel Parr eigentlich zu Hause sein musste. Es war die richtige Zeit, um das Abendessen vorzubereiten, sich das erste Glas Wein zu genehmigen. Doch niemand öffnete.

Vera ging zu dem Mäuerchen hinüber, das die beiden Häuser voneinander trennte. Die Nachbarin schien drauf und dran, sich ins Haus zu flüchten.

«Sie wissen nicht zufällig, wo Mr Parr sein könnte, oder?»

«Nein, tut mir leid.» Sie presste die Lippen zusammen, als wäre jedes weitere Wort zu viel.

«Keine Sorge, Herzchen. Ich will Ihnen nichts verkaufen.» Vera zückte ihren Polizeiausweis und lächelte freudlos. «Ich bin auf der Suche nach Mr Parr. Es ist dringend.»

Die Frau schaute nach rechts und nach links die Straße entlang. «Am besten kommen Sie kurz rein.»

Vom Wohnzimmer aus schaute man auf einen makellosen Garten. Jetzt, wo sie niemand mehr beobachten konnte, schien die Frau auch lockerer zu werden. «Es tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Wir sind ja schon seit langem Nachbarn, aber man kann wirklich nicht behaupten, dass wir befreundet wären.»

«Haben Sie Mrs Parr noch gekannt?»

«Claire, ja, natürlich. Was für eine furchtbare Tragödie. Dabei wirkte sie eigentlich immer ganz aufgeräumt. Allenfalls ein bisschen übernervös. Wir waren alle zutiefst geschockt, als es passiert ist.»

«Und es stand nie zur Debatte, dass es vielleicht kein Selbstmord war?»

«Aber nein, natürlich nicht. Samuel war am Boden zerstört. Ich bin mir sicher, dass er sich schwere Vorwürfe gemacht hat.»

«Weshalb hätte er das denn tun sollen?»

«Nun, das ist doch eine ganz normale Reaktion in einer solchen Situation», sagte die Frau. «Schuldgefühle.»

«Sie glauben also nicht, dass er ihr einen Anlass zum Selbstmord gegeben hat? Weil er beispielsweise eine andere Frau hatte?»

«Um Himmels willen, nein!» Die Frau war entsetzt. «Samuel ist doch Bibliothekar!» Als ob sich bei diesem Beruf allein der Gedanke an eine Affäre verböte.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann fragte die Nachbarin: «Weshalb wollen Sie das denn alles wissen?»

«Ich ermittele gerade in einem anderen Fall», sagte Vera, «und Mr Parr ist ein wichtiger Zeuge. Der Selbstmord seiner Frau spielt wahrscheinlich keine Rolle dabei. Aber ich bin doch etwas in Sorge um ihn.»

«Natürlich!», rief die Nachbarin. «Heute ist ja Claires Todestag! Mein Mann hat es heute Morgen noch erwähnt, als ihm beim Zeitunglesen auffiel, welches Datum wir heute haben.» Sie schwieg einen Augenblick. «Sie glauben doch nicht etwa, dass Samuel sich etwas antun könnte? Dass er ohne sie vielleicht nicht weiterleben will?»

«Nein», antwortete Vera. «Ich glaube nicht, dass es so etwas ist. Aber falls Sie mitbekommen sollten, dass er nach Hause kommt, dann sagen Sie ihm doch bitte, dass er mich zurückruft.»

Zurück im Wagen, stellte Vera fest, dass sie ihr Handy auf dem Beifahrersitz liegengelassen hatte, während sie sich mit der Nachbarin unterhielt. Zwei verpasste Anrufe, beide von Joe Ashworth. Sie rief ihn gleich zurück.

«Ich bin mit der Geschichte durch», sagte er.

«Und?»

«Am besten kommen Sie gleich her.»