KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

Am selben Morgen, als Laura Armstrong verschwand, spazierte Felicity Calvert, nachdem sie James in den Schulbus gesetzt hatte, von der Haltestelle zurück nach Hause und versuchte, die Nachricht zu verarbeiten, dass Peter eine Affäre mit Lily Marsh gehabt hatte. Vermutlich hätte sie sich jetzt betrogen fühlen sollen. Nicht von Peter natürlich – welches Recht hatte sie schon, ihm Vorwürfe zu machen? Aber von Samuel. Felicity war überzeugt, dass Samuel von der Affäre gewusst hatte. Wahrscheinlich hatten die Männer, die an dem Abend, als James die Leiche entdeckte, zu Besuch gewesen waren, alle davon gewusst. Peter hatte doch sicherlich mit seiner Eroberung geprahlt. Es war völlig undenkbar, dass er so etwas lange für sich behielt, und Samuel vertraute er ohnehin alles an. Vielleicht war Samuel ja deshalb in letzter Zeit so merkwürdig gewesen, so nervös und angespannt.

Peter hatte ihr gleich nach der Rückkehr vom Polizeirevier von der Sache mit Lily erzählt. Er war mit dem Taxi nach Hause gekommen und wirkte mitgenommen und äußerst dünnhäutig. James war bereits im Bett. Er hatte die Behauptung, die Polizei brauche seinen Vater als fachkundigen Zeugen, widerspruchslos akzeptiert und war ohne großes Theater auf sein Zimmer gegangen. Es war ungewohnt still im Haus, während Felicity auf Peter gewartet hatte. Sonst hatte sie häufig das Radio an oder hörte Musik, doch an diesem Abend war ihr weder nach dem einen noch dem anderen. Sie hatte die Fenster geöffnet, hörte das Rauschen des Mühlbachs in der Ferne.

Schließlich hatte sie Peter aus dem Taxi steigen sehen und war ihm nach draußen entgegengekommen. Er hatte sie bei der Hand genommen, als wären sie beide noch Anfang zwanzig, und war mit ihr ins Haus zurückgegangen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und entkorkte sie. Sein Schweigen war so untypisch, dass Felicity es mit der Angst zu tun bekam. Eigentlich hätte er doch wutentbrannt gegen die Ungerechtigkeit dieser Festnahme wettern müssen, gegen die bodenlose Frechheit der Polizei, die ihn einfach so aufs Revier beordert hatte. Fast rechnete sie schon damit, dass er ihr gleich den Mord gestehen würde. Aber er war ja auf freiem Fuß. Das konnte es also kaum sein.

Peter schenkte Wein in zwei Gläser und setzte sich an den Küchentisch. Die Küche war Felicitys Reich, er saß abends nur selten dort. Meist zog er das gemütliche Wohnzimmer oder sein abgeschiedenes Arbeitszimmer vor. Allein die Tatsache, dass er hier bei ihr saß, kam einem Schuldbekenntnis gleich.

«Hast du Hunger?», fragte sie ihn. «Soll ich dir etwas zu essen machen?»

«Später vielleicht.» Er trank einen Schluck Wein, sah ihr in die Augen. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann sagte er: «Ich hatte eine Affäre mit Lily Marsh.»

Felicity sagte ihm nicht, dass sie darauf auch selbst schon gekommen war. Es gab eine drängendere Frage. «Hast du sie umgebracht?»

«Nein!» Er war blank entsetzt. Dann beugte er sich über den Tisch und nahm ihre Hände. Felicity fand diese unerwartete Berührung irgendwie aufregend und elektrisierend. In ihrem Alltagsleben – zu Hause, als Familie, selbst beim Sex – schienen sie beide vor echten Begegnungen zurückzuschrecken. Diese Berührung war so aufgeladen wie die eines Fremden.

«Sie war wirklich schön», sagte sie. «Ich kann verstehen, wie du in Versuchung geraten konntest.»

«Ich habe mich geschmeichelt gefühlt.» Er schwieg, trank wieder von seinem Wein. «Möchtest du, dass ich dir davon erzähle?»

Felicity überlegte. Wollte sie wirklich Einzelheiten hören? Wie sie sich kennengelernt hatten? Wo sie miteinander geschlafen hatten? Womöglich fand sie das dann noch erregend. «Nein», sagte sie. «Das ist deine Sache.»

«Möchtest du, dass ich ausziehe?»

«Ich glaube nicht. Nein. Das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen.»

«Viele Frauen würden das aber wollen.» Offenbar verwirrte es ihn, dass sie sein Geständnis so gelassen aufnahm. War er vielleicht sogar enttäuscht, dass sie nicht explodierte? «Zumindest als erste Reaktion.»

«Vielleicht erscheint mir eine Affäre angesichts zweier Morde ja nicht mehr so bedeutend.»

«Ich habe sie nicht umgebracht.»

Und sie hatte ihm über den Handrücken gestrichen. «Das glaube ich dir.»

Während sie jetzt im Schatten der Holunderhecken von der Bushaltestelle zurück zum Haus ging, dachte sie sich, dass sie bei diesem kurzen, knappen Wortwechsel so intensiv miteinander gesprochen hatten wie schon seit Jahren nicht mehr. Plötzlich stand ihr eine Überschrift vor Augen, wie aus einer der Frauenzeitschriften, die sie manchmal beim Arzt oder beim Friseur las: Mein Mann stand unter Mordverdacht – das hat unsere Ehe gerettet!

Selbst am Abend zuvor, als sie ihm noch gegenübersaß, hatte sie das Gespräch schon als melodramatisch und ein wenig absurd empfunden.

«Es war vorbei», hatte er gesagt. «Schon ewig. Ich hatte sie seit längerem nicht mehr gesehen.»

«Wer hat es beendet?» Noch so ein Satz aus der Frauenzeitschrift.

«Ich. Lily war sehr labil. Eigentlich hätte ich mir auch denken können, dass sich keine normale junge Frau in mich verliebt.» Womöglich war da der Ansatz einer Pause gewesen, damit sie Gelegenheit hatte, zu protestieren. Doch Felicity schwieg. Jetzt, wo er der treulose Ehemann war, musste sie ihm zumindest nichts mehr vorspielen. «Sie war regelrecht besessen von der Geschichte. Sie kam zu mir ins Büro, hat mich ständig angerufen.»

«Ich glaube, sie hat auch hier angerufen», sagte Felicity. «Es kam häufig vor, dass ich ans Telefon ging und am anderen Ende aufgelegt wurde.» Dann fielen ihr die Rosen im Gartenhaus wieder ein, die Schritte unten in der Diele. «Möglicherweise war sie sogar hier.»

«Sie glaubte offenbar, ich würde dich verlassen und sie heiraten. Dabei habe ich ihr nie etwas Derartiges versprochen. Ich habe ihr überhaupt nichts versprochen.» Peter stand auf, um den Wein wieder aus dem Kühlschrank zu holen, und schenkte erst ihr nach, dann sich selbst. «Der Polizei habe ich erzählt, wir hätten uns einvernehmlich getrennt. Ich wollte nicht, dass sie denken, ich hätte ein Motiv gehabt, sie zu töten. Aber das stimmt nicht. Es war ein Albtraum. Sie hat mich regelrecht verfolgt. Ich wusste nie, wo sie als Nächstes auftaucht. Wahrscheinlich hat sie sich sogar vorsätzlich um ein Praktikum an der Schule in Hepworth bemüht, um über James an mich ranzukommen. Und dann noch diese Farce, hier aufzutauchen und zu behaupten, sie wolle das Gartenhaus mieten.»

«Ich glaube nicht», sagte Felicity, «dass du jetzt Mitleid von mir erwarten kannst.»

Er wurde wieder verlegen. «Nein, nein, natürlich nicht.» Und plötzlich fand Felicity es ebenso beschämend wie aufregend, dass ihr eigenes Geheimnis weiterhin gewahrt blieb. Sollte sie auch gestehen? Ihm von Samuel erzählen? Sie war richtiggehend süchtig nach dieser emotionalen, intensiven Stimmung zwischen ihr und ihrem Mann. Plötzlich fühlte sie sich wieder wie früher als Studentin, wenn sie spätabends mit ihren Freunden in einem nur von Kerzen erhellten Zimmer hockte, zu den düsteren Klängen des Plattenspielers. Damals war jede Diskussion so eindringlich wie eine Beichte gewesen. Doch jetzt besann sie sich und erkannte messerscharf, dass sie es ausnutzen musste, solange das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschoben war. Sie konnte beispielsweise darauf pochen, dass James auf ein Gymnasium hier in der Nähe kam und nicht in die Schule in Newcastle gesteckt wurde, die Peter so verkorkst hatte. In dieser reumütigen Stimmung würde er vermutlich allem zustimmen. Außerdem konnte sie Peter auch nicht einfach so von ihrer Affäre erzählen, Samuel würde es nicht ertragen, wenn jemand davon erfuhr. Es würde ihn umbringen.

Später am Abend hatten sie dann miteinander geschlafen, bei offenem Fenster, sodass Felicity immer noch das Wasser draußen rauschen hörte. Hinterher standen sie nebeneinander am Fenster und schauten zum Leuchtturm hinüber. Ich werde das mit Samuel beenden, dachte sie. Dann braucht kein Mensch je davon zu erfahren. Es wird so sein, als wäre es nie passiert.

Am nächsten Morgen waren sie wie gewohnt aufgestanden, und Peter war früh zur Arbeit aufgebrochen, während James noch am Frühstückstisch saß. Der Kleine konnte gar nicht genug hören von der Polizei und der Spurensicherung. Peter hatte geduldig auf seine Fragen geantwortet und Felicity über James’ Kopf hinweg mit einem ironischen Lächeln bedacht. Vor dem Aufbruch hatte er sie auf den Mund geküsst. Die Sommerferien fingen bald an, und so war Felicity mit James zum Schulbus gegangen. Im nächsten Schuljahr, das wusste sie, würde James darauf beharren, immer allein zu gehen.

Sie erreichte das Haus und schloss die Tür auf. Sie hatte schlecht geschlafen, fühlte sich unruhig und gereizt. Der Spaziergang hatte auch nichts geholfen. Wenn Samuel sich zwischen mir und Peter entscheiden muss, dachte sie, wird er immer zu Peter halten. Deshalb hatte er ihr auch nichts von Lily erzählt, sie nicht gewarnt.

Sie machte sich einen Kaffee und trank ihn an der offenen Küchentür. Vor der Tür des Gartenhäuschens hing immer noch das blau-weiße Absperrband, und während Felicity noch dort stand, kam ein Wagen die Auffahrt hinauf. Es war einer der Spurensicherungsbeamten vom Tag zuvor. Er winkte ihr kurz zu, streifte dann seinen Spurenschutzanzug über und machte sich auf den Weg über die Wiese.

Drinnen, im kühlen Haus, rief sie Samuel an. Es war erst Viertel nach acht, sie vermutete, dass er noch zu Hause sein würde. Er wohnte ja nur zehn Minuten von der Bibliothek entfernt. Als sie seine Nummer wählte, wusste sie beim besten Willen nicht, was sie zu ihm sagen sollte, und war dann fast erleichtert, als der Anrufbeantworter ansprang. Wahrscheinlich hätte sie sich doch nur lächerlich gemacht, wenn sie eine Erklärung von ihm verlangt hätte. Ist dir eigentlich nie in den Sinn gekommen, dass ich es wissen sollte, wenn mein Mann mit einer Frau ins Bett geht, die jünger ist als unsere Töchter? Er hätte ja problemlos kontern können: Du gehst schließlich mit dem besten Freund deines Mannes ins Bett. Außerdem hatte sie nie Forderungen an Samuel gestellt. Das war die Vereinbarung zwischen ihnen. Und so legte sie wieder auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Dann entschloss sie sich spontan, den Tag in Morpeth zu verbringen. Sie wollte Menschen um sich haben, ein bisschen shoppen, einen Kaffee trinken gehen und dann ein schönes Mittagessen mit einem Glas Wein dazu. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzuziehen oder noch einmal zu schminken, suchte nur Autoschlüssel und Handtasche zusammen und verließ fast fluchtartig das Haus. Als sie die Tür hinter sich abschloss, hörte sie drinnen das Telefon klingeln. Einen Moment lang zögerte sie, ging dann aber doch nicht wieder hinein. Vielleicht würde sie ja später in der Bibliothek vorbeischauen und Samuel besuchen; doch erst brauchte sie Zeit, um sich zu überlegen, was sie ihm sagen wollte.