KAPITEL SIEBZEHN

Julie war wieder nach Hause zurückgekehrt. Ihre Mutter öffnete Vera die Tür und zog sie umgehend beiseite, um ihr zuzuflüstern:

«Wir wollten, dass sie eine Zeit lang zu uns kommt, aber sie meinte, dann würde sie es nie mehr zurückschaffen. Deshalb bin ich jetzt hier, um sie ein Auge auf sie zu haben. Nur für ein, zwei Wochen.»

Vera nickte, trat ins Haus und antwortete ebenfalls mit leiser Stimme: «Was ist denn mit Laura, Mrs Richardson? Wie geht es ihr?»

«Ach, ich weiß wirklich nicht. Sie isst nichts. Zieht sich zurück. Ich habe sie gefragt, ob sie vielleicht ein paar Freundinnen hierhaben möchte, aber sie sagt nein.»

«Ist sie jetzt da?»

«Ja, oben in ihrem Zimmer.»

«Ich würde gern kurz mit ihr reden. Mit Julie unterhalte ich mich dann später, in Ordnung? Sagen Sie ihr, dass ich da bin?»

Laura lag auf dem Bett und hatte sich auf die Seite gerollt. Neben ihr war eine Zeitschrift aufgeblättert, in der sie aber offensichtlich nicht las. Das Fenster war geschlossen, es war heiß im Raum. Lauras Zimmer befand sich hinten im Haus, mit Blick auf eine Koppel, wo zwei Ponys träge auf dem dürren Gras herumkauten, und auf das Ackerland dahinter. Vera hatte geklopft und war dann eingetreten, ohne eine Antwort abzuwarten.

Das Mädchen schaute auf. «Was wollen Sie?» Sie war dünn und knochig. Vierzehn, aber noch keine nennenswerten Kurven. Das Haar kurz und stachlig. Zornige Augen. Die Sommersprossen auf der Nase ließen sie jünger wirken, als sie war. Bald, dachte Vera, würde sie sicher zu einer Schönheit heranwachsen. Aber für den Moment war sie mürrisch, unglücklich und allein. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Vera sich verzweifelt Kinder gewünscht. Die Sehnsucht hatte sie mit Ende dreißig ohne Vorwarnung überfallen, und sie war richtig erschrocken über die Intensität dieser Gefühle, die so viel stärker waren als alle Träume von Männern und Sex. Gut, dachte sie jetzt, dass es nie so weit gekommen ist. Mit so was würde ich doch nie im Leben klarkommen.

«Ich wollte mich kurz mit dir unterhalten», sagte sie zu Laura. «Inzwischen hast du ja wohl ein bisschen über alles nachgedacht.»

«Ich habe keine Ahnung, was in der Nacht passiert ist. Ich habe geschlafen.»

«Genau darüber will ich ja mit dir reden, Herzchen. Bist du ganz sicher, dass du nichts gehört hast? Ein Klopfen vielleicht, Stimmen, irgendwas. Vielleicht hast du ja etwas gehört und gedacht, dass Luke mit ein paar Kumpels rumblödelt. Falls ja, brauchst du deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben.»

«Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen.»

«Ich kann mir einfach nur nicht vorstellen, dass du das alles verschlafen haben sollst.»

«Ich schlafe wie ein Stein», sagte Laura. «Fragen Sie meine Mutter.»

Sie musterte Vera finster, die ihrerseits nicht wusste, was sie tun sollte. Jeden anderen Zeugen hätte sie etwas härter angefasst, aber das hier war ein junges Mädchen, das gerade seinen Bruder verloren hatte. «Nun ja», sagte sie. «Du kannst mir vielleicht trotzdem helfen. Ich muss mich mit Lukes Freunden unterhalten, um zu wissen, was er so getrieben hat, mit wem er zusammen war. Darüber weißt du vielleicht mehr als deine Mutter.»

«Nein, weiß ich nicht!» Laura klang richtig aggressiv. Als wäre es komplett absurd, dass Vera überhaupt auf so eine Idee kam.

«Dann hat er also nicht mit dir geredet?»

«Nein.» Wieder dieser Ton, den Teenager anschlugen, wenn sie einen so richtig auf die Palme bringen wollten. Dieser spöttische Ton, für den man sie am liebsten ohrfeigen würde. «Das wollte ich auch gar nicht.»

«Habt ihr euch denn nicht gut verstanden?»

Laura richtete sich etwas auf und stützte sich auf den Ellbogen. «Ich hab die ganzen Vorträge schon gehört, okay? Von Mum, von Oma und von den Lehrern in der Schule. Ich weiß, dass es nicht seine Schuld war, das mit den Lernschwierigkeiten. Ich weiß, dass ich gemein bin. Aber ich konnte das echt nicht aushalten. Dass alle immer auf mich zeigen, weil sie wissen, dass ich seine Schwester bin. Dass sie hinter meinem Rücken lachen, wenn er wieder mal was Blödes gemacht hat. Als ob ich was dafür könnte. Es ging gar nicht darum, ob wir uns gut verstehen. Ich wollte ihn einfach nur weghaben aus meinem Leben.»

Sie hatte es kaum ausgesprochen, als ihr auffiel, wie man das auch verstehen konnte, wollte es aber offenbar trotzdem nicht zurücknehmen. Stattdessen ließ sie sich wieder aufs Bett fallen und drehte Vera den Rücken zu. Vera verstand das Mädchen. Auch sie war in der Schule ausgelacht worden: Sie hatte schließlich ganz allein mit einem verrückten Vater gelebt. Und ohne Mutter. Sie hatte niemanden, der ihr die Schuluniform bügelte oder sich beim Schulfest zum Kuchenbacken meldete, niemanden, der sie mit zum Friseur genommen oder ihr erklärt hätte, was zu tun ist, wenn die Periode einsetzt. Sie hatte nur Hector, der seine ganze Freizeit damit verbrachte, in den Bergen nach Raubvogelnestern zu suchen, und sich viel mehr für seine vogeleiersammelnden Kumpels zu interessieren schien als für seine hässliche Tochter. Aber es würde nichts bringen, Laura davon zu erzählen. Junge Menschen betrachteten Erwachsene mittleren Alters als fremde Lebensform. Was konnte dieses unglückliche Mädchen da auf dem Bett schon mit Veras Erfahrungen anfangen?

Vorsichtig fasste sie Laura an der Schulter. «Na komm, Herzchen. Niemand macht dir Vorwürfe. Und vielleicht kannst du mir ja doch weiterhelfen, ohne dass du es ahnst.»

Laura drehte sich auf den Rücken, schaute zur Decke hinauf.

«Ich habe seine Freunde doch gar nicht gekannt.»

«Thomas Sharp auch nicht?»

«Der ist tot.»

Vera gab sich Mühe, ruhig zu klingen. Ihr Team in Kimmerston wäre sicher überrascht gewesen, wie viel Geduld sie plötzlich aufbringen konnte. «Aber du hast ihn doch sicher hin und wieder getroffen, wenn er hier war.»

«Ja, manchmal.»

«Wie fandest du ihn?»

Schweigen. Vera fragte sich, ob sie vielleicht zu weit gegangen war.

«Er war ganz okay», antwortete das Mädchen schließlich. «Zumindest besser als die anderen, mit denen Luke so rumzog. Er war witzig.»

Sie hat ihn gemocht, dachte Vera. Vielleicht war sie sogar ein bisschen in ihn verliebt. Ob etwas zwischen ihnen vorgefallen war? Heimliches Knutschen, wenn die Mutter nicht im Haus war? Was Luke wohl dazu gesagt hatte?

«Sein Tod war sicher ein großer Schock für dich.»

«Es war furchtbar.»

«Warst du bei der Beerdigung?»

Sie schüttelte den Kopf. «Mum wollte nicht, dass ich dafür die Schule ausfallen lasse. Sie sagt immer, ich bin die Einzige in der Familie, die was im Kopf hat, das soll ich gefälligst nutzen.» Sie hielt inne. «Aber ich war mit am Fluss, als sie die Blumen ins Wasser gestreut haben.»

«Hat Luke dir erzählt, wie Thomas ertrunken ist?»

«Er hat gesagt, er hätte ihn retten müssen.» Die Antwort kam laut und zornig.

«Glaubst du denn, er hätte ihn retten können?»

«Keine Ahnung. Vielleicht. Wenn er nicht so ’n begriffsstutziger Arsch gewesen wäre. Wenn er sich etwas mehr Mühe gegeben hätte.» Sie fing an zu weinen – offensichtlich aber nicht um ihren Bruder, sondern um seinen Freund.

«Kennst du eine Frau namens Lily Marsh?»

«Ich kenne keine alten Damen.»

«Wie kommst du denn darauf, dass es eine alte Dame ist?»

«Wegen Lily. So heißen doch nur alte Damen.»

So heißen vor allem Blumen, dachte Vera plötzlich, Lilien, und fragte sich, warum ihr dieser Gedanke bisher nicht gekommen war. Hatte das etwas zu bedeuten? Hatte Luke vielleicht einen Zweitnamen? Irgendwas mit Blumen? Gab es überhaupt Jungennamen, die auch Blumen bezeichneten?

Laura wurde unruhig und anscheinend ein bisschen neugierig. «Wer ist das denn jetzt?»

«Keine alte Dame», sagte Vera, «sondern eine Lehramtsstudentin. Hat sie mal bei euch an der Schule ein Praktikum gemacht?»

«Nee.» Laura griff nach der Zeitschrift und tat, als würde sie darin lesen.

Und Vera erkannte, dass sie heute wohl nichts weiter aus ihr herausbekommen würde. «Ich muss jetzt mit deiner Mutter reden», sagte sie. «Ruf mich an, falls dir noch irgendetwas einfällt. Ich lege dir meine Karte auf die Fensterbank.»

Julie saß im Wohnzimmer und sah fern. Irgendeine Samstagnachmittag-Spieleshow, blöde Prominente, die ganz normale Familien zu blöden Kunststückchen animierten. Trotz der Hitze draußen trug Julie eine Jogginghose und einen Pulli. Als sie Vera sah, sprang sie auf und schaltete den Fernseher aus, als wäre es ihr peinlich, bei so etwas Profanem ertappt zu werden. Das Zimmer war genauso groß wie das der Nachbarin Sal, aber sehr viel unordentlicher. Und überall Erinnerungen an Luke: Seine Kleider lagen sicher noch in dem Wäschekorb aus Plastik, der neben dem Bügelbrett stand, sein Lieblingsfilm in dem Stapel Videos auf dem Boden.

«Entschuldigen Sie das Chaos», sagte Julie. «Sie wissen ja …»

Vera nickte, vermutete allerdings, dass es hier immer so aussah. Wahrscheinlich sogar noch schlimmer als jetzt, wo Mrs Richardson da war und im Haushalt half. Julie war sicher keine ordentliche Hausfrau. Nicht so wie Kath in dem makellosen Reihenhaus in Wallsend.

Mrs Richardson erschien in der Tür. «Möchten Sie einen Tee, Inspector?»

«Das wäre toll.» Wenn ich noch mehr Tee trinke, dachte Vera, laufe ich wahrscheinlich über. Doch sie wollte nicht, dass die Mutter ihr Gespräch mit Julie mit anhörte. Sie setzte sich in einen Sessel mit einem braunroten Chenille-Überwurf und bedeutete Julie, sich auch wieder zu setzen.

«Es geht um Gary», sagte sie. «Gary Wright.»

Julie wandte ganz langsam den Kopf, bis sie Vera direkt ansah. «Was ist mit ihm?»

«Sie kennen ihn also?»

«Nicht gut.»

«Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?»

«In der Nacht, als Luke ermordet wurde, war ich mit ihm zusammen. Also, nicht zusammen in dem Sinn. Wir waren die ganze Zeit in einem Club. Aber wir haben zusammen getanzt, zusammen gelacht.» Sie presste die Lippen zusammen, als fände sie allein den Gedanken an Lachen obszön.

«Das war aber nicht das erste Mal, dass Sie ihn getroffen haben?»

«Nein. Vor ein paar Wochen war ich mit meinen Eltern im Harbour Bell. An einem Sonntagnachmittag, kurz bevor Luke aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Laura war den Tag über bei einer Freundin. Und mein Vater ist ein großer Musikfan. Wenn man ihn lässt, kaut er einem stundenlang das Ohr ab mit seinen Geschichten von den guten alten Zeiten. Die Animals. Die ganzen Clubs in der Stadt, wo er in den Sechzigern immer war. Im Bell gibt es sonntagnachmittags immer Live-Musik, und diesmal spielte eine Band, die er sehen wollte. Ich war zum Mittagessen bei ihnen gewesen und bin einfach nur aus Jux mitgekommen. Aber es war schön. Und Gary hat den Sound gemacht.» Julie schwieg, dann sah sie Vera direkt an. «Wissen Sie, das könnte auch Monate her sein. Oder Jahre. Irgendwie hat sich seitdem alles verändert. Ich erzähle von mir, aber es kommt mir vor, als würde ich von jemand ganz anderem reden.»

«Das verstehe ich», sagte Vera.

«Gary hat mich zum Lachen gebracht», fuhr Julie fort. «Anfangs merkte man schon, dass er nur angibt. All die Geschichten über seine Arbeit. All die Musiker, für die er schon den Sound gemacht hat. Man hat gemerkt, dass er das jedem erzählt. Oder zumindest jeder Frau zwischen fünfzehn und fünfzig.»

Auch mir?, fragte sich Vera.

«Aber dann hat es irgendwie gefunkt. Wir haben festgestellt, dass wir auf derselben Grundschule waren, und über die Leute geredet, an die wir uns noch erinnern. Am Ende musste meine Mutter mich sogar holen kommen. Sie hatte Sorge, dass wir die Besuchszeit im Krankenhaus verpassen. Sie wollte mich an dem Tag begleiten, um Luke zu besuchen.»

«Und dann haben Sie sich in der Stadt verabredet?», fragte Vera.

«Nein. Es war keine Verabredung. Zumindest keine feste.» Doch Vera merkte Julie an, dass diese Verabredung durchaus wichtig für sie gewesen war. Etwas Besonderes. «Er hat mich gefragt, ob ich manchmal in der Stadt bin, und ich sagte, nein, so gut wie nie. Aber dann ist mir Jans Geburtstag wieder eingefallen und dass die Mädels mich gefragt hatten, ob wir an dem Abend zusammen ausgehen. Also habe ich gesagt, ich würde kommen. An dem Abend.»

Vera konnte sich das alles genau vorstellen. Die Mutter daneben. Julie, die ihren Ton möglichst beiläufig hielt, aber doch dafür sorgte, dass er sich das Datum merkte und die Namen der Läden, die die Freundinnen normalerweise aufsuchten. Nein, ins Bigg Market gehen wir nie. Dafür sind wir schon ein bisschen alt. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Abend nach ihm Ausschau gehalten. Und er war gekommen. Sie musste sich gefühlt haben wie eine Sechzehnjährige, berauscht und siegessicher. Und dann war sie nach Hause gekommen und hatte ihren Sohn gefunden, erdrosselt, mit Blumen bestreut.

Mrs Richardson kam aus der Küche, in jeder Hand einen Becher Tee. Vera nahm den einen entgegen und leerte dann den Großteil des Inhalts in den Topf einer traurigen Zimmerpalme, während die Mutter Kekse holen ging. Julie hatte den Blick auf den ausgeschalteten Fernseher gerichtet und merkte nichts davon.

«Köstlich, der Tee», bemerkte Vera und schlürfte den Rest. «Den habe ich gebraucht.» Jetzt saßen ihr beide Frauen gegenüber und sahen sie an. Vielleicht spürten sie ja, dass sie noch mehr zu sagen hatte. «Es gab noch einen weiteren Mord. Eine junge Frau, Studentin. Sie hieß Lily Marsh. Sagt Ihnen der Name irgendetwas?»

Sie schüttelten beide den Kopf. Aber sie interessierten sich auch nicht für den Tod einer fremden jungen Frau. Ihnen ging es nur um Luke. Vera suchte einen Platz auf dem Couchtisch, um den Becher abzustellen. «Ich wollte einfach, dass Sie das vorher wissen», sagte sie. «Die Zeitungen werden darüber berichten. Und möglicherweise wird es dadurch leichter für uns, Lukes Mörder zu finden. Dann haben wir mehr Material.» Zumindest theoretisch. Sie stand auf. «Ich werde dann jetzt gehen, Mrs Richardson. Falls es etwas Neues gibt, melde ich mich sofort.»

Julie stand ebenfalls auf. «Warum haben Sie mich nach Gary gefragt?»

«Einfach so, Herzchen. Reine Routine.»

An der Tür drehte Vera sich noch einmal um. «Hatte Luke eigentlich einen Zweitnamen?»

«Geoffrey», sagte Julie. «So wie sein Vater.»

Also nichts mit Blumen. Keine Verbindung.

Als Vera die Straße entlangging, glaubte sie, die Blicke hinter den Gardinen zu spüren. Die Nachbarn würden warten, bis sie losgefahren war; erst dann würden sie zum Telefon greifen, um die neuesten Gerüchte miteinander zu besprechen.