Vera spürte, dass Diane Sharp sie im selben Moment einordnen konnte, als sie ihr die Tür aufmachte: Sie wusste zwar nicht, wer Vera war und was sie wollte, aber doch sehr genau, dass sie von der Polizei kam. Wahrscheinlich hatte sie dafür durch langjährige Übung einen sechsten Sinn entwickelt. Diane Sharp war eine rundliche Frau Mitte vierzig mit einem auffallend hübschen Gesicht, und ihr Haar sah aus, als säße sie jede Woche beim Friseur. Sie trug eine rosafarbene Bluse und einen weißen Leinenrock.
«Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit», sagte sie. «Davy sitzt in Acklington ein.»
«Ich weiß. Ich habe letzte Woche dort mit ihm geredet.» Vera versuchte sich zu erinnern, ob sie Davys Frau schon einmal gesehen hatte, und kam zu dem Schluss, dass das nicht der Fall war.
«Und Brian wohnt auch nicht mehr hier. Er hat jetzt seine eigene Wohnung in der Stadt.»
«Ich möchte auch mit Ihnen reden», sagte Vera.
Die Frau wirkte überrascht – so sehr, dass sie beiseitetrat und Vera ins Haus ließ.
«Ich mische mich nicht ein in diese ganzen Geschichten.» Sie führte Vera in den hinteren Teil des Bungalows. Das Haus wirkte ordentlich, richtig repräsentativ. Diane öffnete eine Tür, und helles Sonnenlicht fiel in den Raum. Sie traten in einen Wintergarten, der die ganze hintere Breitseite des Hauses einnahm und den Blick auf einen kleinen Rasen frei gab. «Den Wintergarten hat Davy anbauen lassen, als er das letzte Mal zu Hause war», erklärte sie. Dann setzte sie sich in einen Korbstuhl und bedeutete Vera, sich ebenfalls zu setzen.
«Es geht gar nicht darum, was Ihre Männer so treiben», sagte Vera. Sie hielt kurz inne. «Das mit Thomas tut mir sehr leid.»
Die Frau saß einen Moment lang reglos da, ehe sie antwortete. «Es war ein Unfall», sagte sie schließlich. «Das fällt nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich.»
«Sind Sie da sicher, Mrs Sharp?»
«O ja. Es wäre sehr viel leichter gewesen, irgendwem die Schuld geben zu können, aber die Jungs haben wirklich nur rumgeblödelt.»
«Sie haben sicher in der Zeitung gelesen, dass Luke Armstrong ermordet worden ist?»
«Ja», sagte Diane. «Er war ein toller Junge. Tom hat viel Zeit bei ihm zu Hause verbracht.»
«War er auch manchmal hier?»
«Nicht so oft. Damals wohnte Brian noch hier, da waren zu viele Geschäfte im Gange. Ich wollte nicht, dass Tom da reingerät.»
«Was denn genau für Geschäfte?»
Sie zögerte, wählte ihre Worte mit Bedacht. «Brian hat etwas raubeinige Freunde», sagte sie dann. Es klang, als würde sich ihr fünfjähriger Sohn im Kindergarten mit den Rowdys herumtreiben.
Vera wusste, dass einer dieser raubeinigen Freunde nach einer Messerstecherei vor einem Pub in der Innenstadt wegen versuchten Mordes hinter Gittern saß, doch das behielt sie für sich. «Erzählen Sie mir von der Gedenkveranstaltung für Tom. Die Blumen auf dem Wasser. Wessen Idee war das?»
«Ich weiß gar nicht genau, wer damit angefangen hat.» Diane schaute durch die Scheiben hinaus auf das kurz gemähte Gras. «Wahrscheinlich jemand aus der Straße. Die Leute hier mochten Tom alle sehr. Ich glaube nicht, dass das so richtig organisiert war. Erst waren es nur ein paar Blüten, dann kamen immer mehr dazu.»
«Hat irgendwer Luke Armstrong die Schuld an Toms Tod gegeben?»
Die Frau hob den Kopf. «Meinen Sie Brian? Dass er sich rächen wollte?»
«Der kleine Bruder ertrinkt, da will man doch jemanden beschuldigen können. Das will jeder, das haben Sie gerade selbst gesagt.»
Sie schüttelte den Kopf. «Brian war es nicht. Das wüsste ich.»
Und Vera dachte sich, dass das vermutlich stimmte. Im Übrigen hätte Brian Sharp auch schlicht und einfach die Tür der Armstrongs eingetreten und Luke mit Fäusten und Fußtritten traktiert. Er hätte sich nicht lange mit Blumen aufgehalten.
«Erzählen Sie mir etwas von den Stringers», sagte sie. «Ihren Nachbarn.»
Der plötzliche Themenwechsel schien Diane zu überraschen. «Warum fragen Sie mich denn nach denen?»
«Clive war Zeuge bei einer anderen Ermittlung. Ich bin einfach nur neugierig.»
«Als wir herzogen, war Mary Stringer wie eine Mutter für mich», erzählte Diane. «Davy war praktisch nie daheim, und ich war mit Tom schwanger. Und sie war ganz allein mit Clive. Sie hatte ihren Mann früh durch einen Unfall verloren. Clive war ganz anders als meine Jungs. Sehr ruhig. Immer ein Buch vor der Nase. Er machte überhaupt keine Schwierigkeiten. Oder fast keine. Als Kind haben sie ihn ein bisschen gehänselt, aber Brian hat schnell dafür gesorgt, dass das aufhörte. Eigentlich waren wir wie eine große Familie. Mary hat mir Tom fast jeden Tag abgenommen, bis er in den Kindergarten kam. Ich hatte ja alle Hände voll zu tun mit Brian, und sie hatte nur ihre Witwenrente. Sie brauchte Geld, und ich konnte es mir leisten, ihr ein paar Pfund zuzustecken. Und Clive hatte Tom auch so gern. Die meisten Jungs in seinem Alter interessieren sich ja nicht für kleine Kinder, aber ein paar Jahre lang waren sie wie Brüder.»
«Hat Clive jemals Luke Armstrong kennengelernt?»
«Kann sein. Tom hat nichts davon erzählt.»
Vera stand auf und verabschiedete sich, weil sie nicht wusste, was sie noch hätte fragen können. Diane schloss mit Nachdruck die Tür hinter ihr. Draußen neben Veras Wagen stand Clive Stringer. Wahrscheinlich war er gleich vom Museum losgefahren, nachdem seine Mutter angerufen und ihm erzählt hatte, dass Vera vorbeikommen wollte. Er trug schwarze Jeans, ein schwarzes Polohemd und schwarze Turnschuhe. Seine Haut war sichtlich sonnenempfindlich, das gerötete Gesicht glänzte vor Schweiß. Vera konnte sich richtig vorstellen, wie er schäumend vor Wut hier draußen stand und immer verschwitzter und wütender wurde, während er darauf wartete, dass sie zum Wagen zurückkam.
«Sie hatten kein Recht, meine Mutter zu belästigen!»
«Sie hatte doch nichts weiter dagegen, Herzchen. Wir haben einen schönen Tee zusammen getrunken.»
«Wenn Sie irgendetwas wissen wollen, kommen Sie nächstens direkt zu mir.»
«Sie sehen mir auch so aus, als könnten Sie was zu trinken vertragen, Herzchen. Gibt es hier irgendwo einen Ort, wo wir hingehen könnten? Dann müssen wir Ihre Mutter nicht gleich wieder stören. Wenn wir nämlich noch lange hier herumstehen, gibt’s irgendwann einen Menschenauflauf.»
Ein Trupp Teenager kam auf dem Heimweg von der Schule die Straße entlang und schaute tatsächlich schon zu ihnen herüber. Clive zuckte die Achseln. «Dahinten an der Ecke ist ein Café.» Er machte sich in die Richtung auf, ohne sich noch einmal nach Vera umzudrehen.
Vor dem Café standen ein paar kleine Tische und Stühle auf dem Bürgersteig. Der Versuch, eine mediterrane Atmosphäre zu erzeugen, scheiterte zwar am Geruch nach fettigen Hamburgern und kaltem Zigarettenrauch, der durch die offene Tür nach draußen drang, doch dieser Teil des Bürgersteigs lag immerhin im Schatten, und so setzten sie sich trotzdem. Vera bestellte sich einen Kaffee, Clive trank eine leuchtend orangefarbene Limonade. Wieder kam ihr der Gedanke, dass er eigentlich nie richtig erwachsen geworden war.
«Das war sicher nicht leicht», sagte sie, «so ganz ohne Vater aufzuwachsen.» Kaum hatte sie das gesagt, fand sie es selbst eine ungeheuer herablassende Bemerkung, doch Clive hatte sich auf dem kurzen Fußmarsch offenbar schon wieder etwas beruhigt.
«Meine Mutter war immer eine schwierige Zeitgenossin», sagte er, hob den Kopf und grinste unvermittelt, als hätte er einen Witz gemacht.
«Und sie verlässt sich völlig auf Sie?» Vera tastete sich langsam voran. Sie wusste, dass er sich gleich wieder verschließen würde, wenn sie auch nur ein falsches Wort sagte.
«Sie hat ja sonst niemanden. Keine Verwandten. Und für Freundschaften eignet sie sich auch nicht sonderlich. Sie verlangt alles Mögliche, bemüht sich aber nicht, selbst etwas zurückzugeben.»
«Um Diane Sharp hat sie sich aber offenbar bemüht.»
«Diane hat sie ja auch bezahlt. Außerdem hatte meine Mutter Tom sehr gern, als er klein war. Da konnte sie sich noch einreden, dass er ihr Sohn ist. Als er dann älter wurde und anfing, Widerworte zu geben, fand sie ihn schon nicht mehr so toll.»
«Haben Sie ihr denn nie Widerworte gegeben?»
«Nein», sagte Clive. «Das habe ich irgendwie nie gelernt.» Vera rechnete mit einem weiteren Grinsen, doch diesmal blieb seine Miene ganz ernst.
«Wie sind Sie denn mit der Familie Sharp ausgekommen?»
«Eine Zeit lang waren wir eigentlich eine Familie», sagte Clive, und Vera dachte sich, dass Diane fast dasselbe gesagt hatte. «Es wäre nicht weiter schwierig gewesen, sich in das Ganze reinziehen zu lassen. Sie wissen schon, die Sachen, die sie so treiben. Aber dann kam das Vögelbeobachten, das hat mich gerettet.»
«Und Ihnen eine andere Familie beschert.»
«Ja», bestätigte er und freute sich offensichtlich, dass sie ihn verstand.
«Können Sie mir sagen, was hinter diesen Morden steckt? Die Blumen, das Wasser?» Wenn überhaupt jemand, dachte Vera, dann würde er das vielleicht wissen. Er schien ihr in der Lage zu sein, Muster hinter den Dingen zu erkennen. Sie war mit der Frage schon herausgeplatzt, ehe sie sich noch darüber klargeworden war, ob das eigentlich vernünftig war.
Clive saß einen Augenblick lang schweigend da und blinzelte heftig hinter seinen dicken Brillengläsern.
«Nein», sagte er dann. «Natürlich nicht.»