KAPITEL SECHS

Als Vera an diesem Abend nach Hause kam, kreiste ein Bussard über ihrem Haus. Die vorne abgerundeten Flügel standen leicht schräg, um sich der Thermik anzupassen, und der Vogel schimmerte wie poliertes Holz in den letzten Strahlen der Abendsonne, wie ein Abbild auf einem Totempfahl. Man sah erst seit kurzem überhaupt wieder Bussarde in diesem Teil Northumberlands. Im Westen waren sie recht verbreitet, doch hier hatten die Wildhüter sie alle abgeknallt, ihre Gelege zertreten und vergiftete Köder ausgelegt. Vera wusste, dass es auf einem Landsitz in der Nähe noch so einen mordlüsternen Wildhüter gab. Soll er’s versuchen, dachte sie. Soll er es nur versuchen.

Drinnen im Haus war es stickig und unordentlich. Seit vierundzwanzig Stunden war sie nicht mehr hier gewesen. Sie machte die Fenster auf, sammelte getragene Kleidungsstücke vom Schlafzimmerboden auf und stopfte sie in die Waschmaschine im Schuppen. Dann überlegte sie, ob sie wohl noch etwas Essbares eingefroren hatte. Seit dem Tod ihres Vaters Hector lebte Vera allein, und inzwischen war sie sich sicher, dass das auch so bleiben würde. Es hatte wenig Sinn, sich zu fragen, wie sie sich wohl in einer Beziehung geschlagen hätte. Eine Zeit lang hatte es da jemanden gegeben, der ihr nachts den Schlaf raubte und sie zum Träumen brachte, aber daraus war nichts geworden. Und jetzt war es längst zu spät, sich noch zu grämen. Was sie natürlich nicht davon abhielt, es trotzdem zu tun, wenn sie spätnachts mit einem Whisky dasaß.

Sie holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, entfernte den Kronkorken und trank direkt aus der Flasche. Zu trinken gab es immer genug in ihrem alten Stationsvorsteherhäuschen, selbst wenn sie nicht dazu gekommen war, Lebensmittel einzukaufen. Vera trank zu viel oder zumindest zu regelmäßig. Sie sagte sich, dass sie nur emotional davon abhängig sei, nicht körperlich süchtig. Mit dem Bier in der Hand ging sie zurück in den Schuppen und wühlte in der Gefriertruhe. Für sie hätte es auch ein kleinerer Gefrierschrank getan, doch Hector hatte dort die Vogel- und Tierkadaver aufbewahrt, die er ausstopfen wollte. Ganz unten fand sie noch eine Plastikdose mit Wildragout. Das Fleisch hatte ihr der Wildhüter geschenkt, der die Raubvögel abschoss, aber Vera hatte keine Skrupel gehabt, das Geschenk anzunehmen. Hier in den Bergen war es wichtig, zumindest so zu tun, als ob man seine Nachbarn mochte. Schließlich war es gut möglich, dass man mal an einem verschneiten Tag aus dem Graben gezogen werden musste. Sie hatte einen ganzen verregneten Sonntagnachmittag damit zugebracht, das Wildbret zuzubereiten, mit genügend Wurzelgemüse, dass es schön saftig blieb, Lorbeerblättern aus dem Garten und viel Rotwein. Eigentlich hatte sie geglaubt, es wäre längst aufgebraucht, und sie freute sich darüber, diese Portion noch gefunden zu haben: ein ganz ungebrochenes Glücksgefühl, wie man es im Erwachsenenleben nur selten spürt.

Während sie im Haus herumfuhrwerkte, ließ Vera sich den Armstrong-Fall noch einmal durch den Kopf gehen. Sie fühlte sich in die Beteiligten ein, wie eine Schauspielerin versuchte, die Rollen zu leben. Luke Armstrong begriff sie bereits ganz gut. Julies Erzählungen waren ziemlich eindringlich gewesen, außerdem kannte sie bereits genügend Burschen wie ihn. Meist begegneten sie ihr auf dem Polizeirevier oder in Einrichtungen für jugendliche Straftäter. Sie waren durch das Netz der Gesellschaft gefallen, so wie es auch Luke passiert wäre, wenn er nicht eine Mutter wie Julie gehabt hätte, die bereit war, um ihn zu kämpfen. Luke hatte es schwer gehabt im Leben. Es gab nichts, was ihm leichtgefallen wäre: die Schule nicht, zwischenmenschliche Beziehungen nicht und nicht einmal die ganzen langweiligen Nebensächlichkeiten des Alltags. Wahrscheinlich hatte er die ganze Welt wie durch einen Schleier gesehen. Er hatte nicht verstanden, was um ihn herum passierte. Bestimmt war es ganz leicht gewesen, ihn zu manipulieren. Ein paar freundliche Worte, die Aussicht auf eine nichtssagende Belohnung, schon sah er in Wildfremden seine Wohltäter. Jemand wie er, fand Vera, hätte eigentlich eher bei einer Schlägerei im Pub ums Leben kommen müssen. Sie stellte sich vor, wie leicht es gewesen wäre, ihn zu reizen, bis er schließlich mit der Wut eines Kleinkinds zugeschlagen hätte. Selbst eine Schießerei auf der Straße wäre ihr noch plausibler erschienen. Sicher hatte er häufig unabsichtlich jemanden übers Ohr gehauen, und wäre er so gestorben, hätte man davon ausgehen können, dass jemand eine Rechnung mit ihm beglich oder ein abschreckendes Zeichen setzen wollte.

Doch dieser Mord schien überhaupt nicht zu Lukes Leben zu passen. Es wirkte fast schon respektvoll, wie liebevoll Luke in diese Wanne voll duftenden Badeöls und Blumen gelegt worden war. Vera, die sehr viel phantasievoller war, als man ihr ansah, erinnerte das Ganze an eine Opferhandlung. Ein schöner Junge. Rituelle Verehrung. Und irgendeine literarische Anspielung war sicher auch dabei. Der Englischunterricht in der Schule lag zwar schon lange zurück, doch die Vorstellung hatte sie damals beeindruckt. Der Freitod der Ophelia. Wie viele von Lukes nichtsnutzigen Kumpels und Kontakten hatten wohl Hamlet gelesen?

Von Laura hatte sie bisher noch gar kein Bild. Laut ihrer Mutter war sie intelligent und vorlaut. War es glaubhaft, dass sie die ganze Sache verschlafen haben sollte? Den Mord, das Rauschen des Badewassers? Hatte der Mörder überhaupt gewusst, dass noch jemand im Haus war?

Vera versuchte, sich den Ablauf vorzustellen. Jemand stand mit einem Strauß Blumen vor der Haustür. Hatte Luke ihn hereingelassen? Ihn vielleicht sogar gekannt? Und was war dann passiert? Die Tatortbeamten hatten sich nicht festlegen wollen, wo genau der Mord verübt worden war. Unten an der Treppe? Falls das so war, hätte Luke anschließend hinauf ins Bad getragen werden müssen. Das konnte Vera sich nicht vorstellen. Es war einfach nicht logisch. Vielleicht hatte der Mörder Luke ja auch gefragt, ob er das Bad benutzen könne, und Luke hatte ihn nach oben geführt. In dem Fall musste der Mord gleich neben Lauras Zimmer passiert sein. Vera erschauerte bei der Vorstellung, dass das Mädchen einfach weitergeschlafen hatte, während nebenan ihr Bruder gestorben war.

Sie stellte das Essen auf ein Tablett und setzte sich damit ans offene Fenster. Ihre nächsten Nachbarn waren zwei alternde Hippies, die noch immer auf der Suche nach dem guten Leben waren. Sie hatten einen kleinen Hof, zwei Ziegen, eine Milchkuh, ein halbes Dutzend Hühner und eine kleine Herde Schafe, irgendeine seltene Rasse. Sie verwendeten keine Pestizide und verabscheuten die gewerbliche Landwirtschaft, und ihre Heuweide war über und über mit Unkraut zugewuchert. Vera roch das Heu. Ein Schwarm Hänflinge pickte an den Grasähren herum. Sie hatte eine Flasche Merlot geöffnet und schon zwei Gläser davon getrunken. Seit Monaten hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt.

In letzter Zeit war die Arbeit fast nur noch langweilige Routine gewesen. Doch das hier war etwas anderes, eine Herausforderung, an der sie sich an den einsamen Abenden zu Hause die Zähne ausbeißen, mit der sie sich beschäftigen konnte, anstatt immer nur Kulturradio zu hören. Meine Güte, dachte sie, was bin ich nur für eine armselige alte Schachtel. Ein bisschen schuldig fühlte sie sich schon, weil sie sich so über den Tod eines hübschen Jungen freute. Sie mochte Julie und wusste, dass sie alles für den Jungen getan hatte, was in ihrer Macht stand, aber das hielt Vera trotzdem nicht davon ab, sich für diesen Fall zu begeistern, für die ungewöhnlichen Gegebenheiten am Tatort. Schließlich hatte sie ja auch sonst kaum Freude im Leben. Sie blieb am offenen Fenster sitzen, bis es draußen ganz dunkel und die Weinflasche fast leer war.

 

Am nächsten Tag rief sie ihr Ermittlerteam zusammen und sprach über Luke, als hätte sie ihn persönlich gekannt.

«Man kennt diese Jungs. Etwas schwer von Begriff. Ein Junge, bei dem man nie genau weiß, ob er einen auch wirklich versteht, wenn man mit ihm redet. Selbst wenn man alles noch einmal wiederholt, kann man sich nicht sicher sein, dass es wirklich ankommt. Dabei war er gar kein schlechter Kerl. Sanftmütig. Großzügig. Er konnte blendend mit den alten Leutchen in dem Heim, wo seine Mutter arbeitet. Aber er stand immer auf der Kippe. Er war nicht schlau genug, um sich selbst irgendwelchen Blödsinn auszudenken, aber eben auch nicht so gewieft, sich nicht ständig von seinen Kumpels irgendwo reinziehen zu lassen. Es waren allerdings immer nur kleinere Vergehen 

Luke war dabei, als ein Freund von ihm ertrank. Joe hat die Einzelheiten und wird sie gleich an alle verteilen. Möglicherweise ist das bloßer Zufall, aber im Augenblick ist es die beste Spur, die wir haben.» Vera schwieg einen Moment. «Um nicht zu sagen, die einzige.»

Joe Ashworth nahm sein Stichwort auf und verteilte seine DIN-A4-Blätter, und Vera fragte sich plötzlich, ob sie ihn eigentlich zu sehr wie ihren Musterschüler behandelte. Vielleicht mochte er das ja gar nicht? Dummerweise war er so ziemlich der Einzige unter ihren Leuten, bei dem sie hundertprozentig sicher sein konnte, dass er keine Fehler machen würde. Wobei das wahrscheinlich mehr über sie aussagte als über ihre Leute.

Sie nahm den Faden wieder auf. «Der Junge, der bei einer Rangelei am Kai von North Shields ertrunken ist, hieß Thomas Sharp. Ein Sprössling der besagten Sharps. Die Familie ist berüchtigt, wir haben alle schon von ihnen gehört. Der Vater, Davy Sharp, sitzt gerade mal wieder drei Jahre in der Haftanstalt Acklington ab. Beim Tod des Jungen wurde nicht weiter ermittelt, man geht allgemein davon aus, dass irgendwelche Blödeleien aus dem Ruder gelaufen sind. Durchaus möglich, dass sich das alles als irrelevant herausstellt, aber es wäre trotzdem wichtig, Erkundigungen einzuziehen. Hatte Luke vielleicht Kontakte, von denen seine Mutter nichts wusste? Soll das alles vielleicht eine grausige Botschaft sein?»

Sie hielt erneut inne. Sie sprach gern vor Publikum, fand es aber deutlich angenehmer, wenn dieses Publikum auch reagierte. Alle blieben still. «Na?», fragte sie auffordernd. «Weiß vielleicht jemand was darüber?»

Allgemeines Kopfschütteln. Sie wirkten alle wie betäubt, gelähmt von der Hitze. Es war ja auch stickig im Raum, doch Vera war dennoch erstaunt über diesen Mangel an Enthusiasmus. Weswegen waren sie denn dann überhaupt zur Polizei gegangen, wenn nicht wegen solcher Fälle? Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie ihnen eine Heidenangst machte, dass selbst die, die in der Polizeikantine das große Wort führten, in ihrer Gegenwart zu verschüchtert waren, irgendeine Ansicht zu äußern, die sie womöglich dumm finden könnte.

«Der Tatort», fuhr Vera fort. «Vermutlich ist Ihnen ja inzwischen zu Ohren gekommen, dass der ein klein wenig ungewöhnlich war. Der Junge wurde erwürgt und anschließend in eine gefüllte Badewanne gelegt. Über der Leiche wurden Blumen verstreut. Glücklicherweise hat die Mutter, Julie, das Badewasser nicht abgelassen, als sie ihren Sohn fand. Die Spurensicherung hat Stunden damit verbracht, das Wasser aus der Wanne zu schöpfen und zu konservieren. Vielleicht finden sie ja etwas. Auch das Badeöl wird analysiert. Wenn wir viel Glück haben, ist irgendwo ein Haar des Täters dabei, aber darauf können wir uns natürlich nicht verlassen. Wir müssen herausfinden, wo die Blumen herkommen. Wurden sie einfach auf den Feldern oder in den Gärten im Dorf gepflückt, oder hat der Mörder sie irgendwo gekauft? Wir müssen ganz genau bestimmen, was für Sorten es waren, und dann muss jemand sämtliche Blumenläden in der Gegend abklappern und das überprüfen. Für mich sahen sie ja nicht wie die üblichen Geschenkblumen aus. Ich würde sagen, es waren alles Wildblumen. Wo können sie also gepflückt worden sein? Gibt es hier irgendwo einen Botaniker, der uns unterstützen könnte? An der Universität vielleicht? Können Sie sich darum kümmern, Joe?»

Sie sprach weiter, ohne seine Antwort abzuwarten. «Die wichtigste Frage ist aber die nach dem Warum. Wozu das alles? Erst mal wirkt das doch riskant, wie unnötiger Aufwand. Als wollte der Täter Aufmerksamkeit erregen, großes Theater inszenieren. Julie war den Abend über in Newcastle, keiner wusste so genau, wann sie wiederkommt. Und fast wäre sie ja auch mitten hineingeplatzt. Außerdem war Laura, die jüngere Schwester, die ganze Zeit im Haus. Offenbar hat sie tief und fest geschlafen. Ihre Mutter sagt, man könnte eine Bombe neben ihr hochgehen lassen, wenn sie schläft. Hilft uns das irgendwie weiter?»

Eine Hand hob sich zögernd. Obwohl Vera ja ein reaktionsfreudiges Publikum schätzte, konnte sie bei unerwünschten Unterbrechungen etwa so giftig werden wie ein Kabarettist bei unqualifizierten Zwischenrufen. Diesmal jedoch zeigte sie sich gnädig.

«Ja?»

«Das könnte doch vielleicht heißen, dass der Mörder die Familie kannte. Vielleicht wusste er, dass Laura nur schwer wach zu kriegen ist und dass Julie an dem Abend ausgehen wollte? Das tut sie ja wohl nicht gerade häufig.»

Vera nickte wohlwollend. «Möglich. Oder er hat das Haus schon einige Zeit beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet.»

Noch eine Wortmeldung. «Ja?»

«Kann es nicht auch die Schwester gewesen sein? Vielleicht ein Streit, der außer Kontrolle geraten ist?»

Vera dachte kurz darüber nach. «Man kann sich gut vorstellen, dass sie viel Streit hatten», sagte sie. «Bei so einem Jungen. Es muss ein Albtraum gewesen sein, ihn zum Bruder zu haben, vor allem in dem Alter. Mit vierzehn will man doch eigentlich nur so sein wie alle anderen auch, nicht? Da kann man keinen Spinner in der Familie brauchen. Und natürlich hätte sie ihn ertränken können. Wenn er schon in der Badewanne gesessen hätte, wäre es kein großer Kraftaufwand gewesen, ihn unter Wasser zu drücken. Aber er wurde zuerst erwürgt und anschließend in die Wanne gelegt. Das traue ich einer Vierzehnjährigen dann doch nicht zu. Sie ist klein und schmal. Und ziemlich nervös. Aber ich glaube nicht, dass sie uns irgendwas verheimlicht hat. Woher hätte sie auch die Blumen haben sollen? Die Mutter hat ausgesagt, sie hätten keine Blumen im Haus gehabt. Ich denke, solange keine konkreten Hinweise in die Richtung auftauchen, können wir das Mädchen ausschließen. Einverstanden?»

Es wurde halbherzig genickt, und Vera fuhr fort. «Was den Vater betrifft, sieht die Sache schon anders aus. Es hört sich alles danach an, als wäre er nie besonders gut mit Luke zurechtgekommen. Julie und er haben sich schon vor Jahren getrennt, er hat aber noch Kontakt zur Familie. Keine festen Regeln, er kommt vorbei, wenn ihm gerade danach ist, und die Kinder besuchen ihn auch hin und wieder. Falls er den Jungen umgebracht hat, würde das erklären, warum es keine Anzeichen für einen Einbruch gibt. Julie sagt, Luke hätte ihn immer auf die Palme gebracht. Man kann sich also durchaus eine Situation vorstellen, in der er aus der Haut fährt und den Jungen ermordet, ihn erwürgt.»

«Aber die Blumen erklärt das dann auch nicht», gab Ashworth zu bedenken.

«Das ist wahr. Es sei denn, er war klug genug, zu erkennen, dass der Verdacht als Erstes auf ihn fällt, und hat versucht, uns durch diese aufwendige Inszenierung auf eine falsche Fährte zu locken. Weshalb es nur noch wichtiger ist, mehr über die Blumen in Erfahrung zu bringen. Falls sie alle aus dem Dorf stammen, kann er sie auch nach dem Mord gepflückt haben.»

Ashworth blieb skeptisch. «Dafür müsste er aber schon ziemlich abgebrüht sein. Sich diese Form der Inszenierung ausdenken, die Blumen pflücken, wieder zurück ins Haus kommen. Und irgendwer muss ihn doch auch dabei gesehen haben.»

«Sollte man meinen, nicht? Was hat denn die Haustürbefragung Schönes ergeben? Wurde irgendwer in der Straße gesichtet?»

Vera nahm sich vor, später selbst noch einmal zurück ins Dorf zu fahren. Eigentlich gehörte es natürlich nicht zu ihren Aufgaben, persönlich von Tür zu Tür zu wandern. Das fand zumindest ihr Chef. In ihrem letzten Bewertungsgespräch hatte es geheißen, sie tue sich schwer mit dem Delegieren. Ihr Chef hatte ihr erklärt, ihre Position sei eher strategischer Natur, sie sei dazu da, die eingehenden Informationen zu verwalten. Aber sie musste doch ein Gefühl dafür bekommen, wie die Atmosphäre in dieser Straße war. Und das herauszufinden, dazu eignete sich eben nicht jeder.

Vera musterte die unbewegten Mienen und wartete auf eine Antwort. Wundert es da noch irgendwen, dachte sie, dass ich nicht gerne delegiere?

Schließlich meldete sich Ashworth. Er war eben doch ein Musterschüler, wobei man hinter ihrer beider Rücken wahrscheinlich sehr viel schlimmere Bezeichnungen für ihn fand. «Laut dem Team, das die Haustürbefragung durchgeführt hat, hat niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt.»

«Was ist mit dem Wagen, den Julie Mittwochnacht in der Straße gesehen zu haben glaubt?»

Ashworth konsultierte seine Notizen. «Der war um neun Uhr abends eindeutig noch nicht da. Um die Zeit hat eine Frau ihre Tochter von den Pfadfindern abgeholt. Sie sagt, das wäre ihr ganz sicher aufgefallen.»

Sonst hatte offenbar niemand etwas zu sagen. Eine Zeit lang blieb alles still. Vera hockte auf dem Schreibtischrand, dick und rund und reglos wie ein Buddha. Sie schloss sogar kurz die Augen und schien ganz in Gedanken versunken. Im Hintergrund hörte man gedämpft die Alltagsgeräusche des Reviers: ein klingelndes Telefon, plötzliches Gelächter. Dann öffnete Vera die Augen.

«Wenn doch nicht der Vater die Finger im Spiel gehabt hat», sagte sie, «müssen wir uns genauer ansehen, was es mit dem Tatort auf sich hat. Das war wie eine Theaterinszenierung. Oder wie eine dieser sogenannten Kunstinstallationen. Tote Schafe. Ein Haufen Elefanten-Dung. Die Sorte Kunstwerk eben, bei dem die Bedeutung wichtiger ist als Schönheit oder die handwerklichen Fähigkeiten, die es erfordert. Wir müssen herausfinden, was uns dieser Künstler sagen will. Fällt jemandem etwas dazu ein?»

Sie glotzten zurück, als wären sie selbst tote Schafe, und diesmal konnte Vera ihnen nicht mal einen Vorwurf machen. Ihr fiel ja auch nichts dazu ein.