KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Der Arzt hatte Julie Tabletten gegeben, damit sie schlafen konnte. Jeden Abend war sie von neuem überzeugt, dass sie nicht wirken würden, und dann überfiel der Schlaf sie doch von einer Sekunde auf die andere. Wie ein Schlag auf den Hinterkopf, eine plötzliche Bewusstlosigkeit. An diesem Morgen erinnerte sie sich zum ersten Mal, etwas geträumt zu haben. Sie war schlagartig aufgewacht, wie immer, seit sie die Tabletten nahm. Es war noch früh. Sie merkte es am Vogelzwitschern und daran, dass noch kein Verkehrslärm von der Straße hereindrang. Die Vorhänge waren dünn, Tageslicht fiel hindurch. Auch heute schien die Sonne wieder.
Ihr erster Gedanke galt Luke, wie jeden Morgen seit seinem Tod. Sie sah ihn wieder in der Wanne liegen, roch den schweren Duft des Badeöls, sah das Kondenswasser, das am Spiegel über dem Waschbecken herunterrann. Aber sie wusste auch augenblicklich, dass sie keineswegs von ihm geträumt hatte. Es war ein erotischer Traum gewesen, wie einer der Tagträume, denen sie sich hingegeben hatte, nachdem Geoff gegangen und sie sich sicher war, dass sie nie wieder mit einem Mann schlafen würde. In diesem Traum war sie mit Gary im Dunkeln einen Strand entlanggegangen. Ein dicker, runder Mond hing knapp über dem Horizont, man hörte das Rauschen der Wellen. Es war wie eine Szene aus einem Schnulzenheftchen, einer dieser Zeitschriften für ältere Damen, wie sie ihre Mutter immer mit auf ihre Busreisen nahm. Dann hatte der Traum eine Wendung genommen, und sie lagen zwischen den Dünen und schliefen miteinander. Julie glaubte immer noch das Gewicht seines Körpers auf sich zu spüren, den Sand an Rücken und Schultern, seine Zunge in ihrem Mund. Es war wie die Erinnerung an ein reales Erlebnis, als wäre es gar kein Traum gewesen. Sie legte die rechte Hand auf die linke Brust und hatte das Gefühl, als wäre sie dort immer noch empfindlich, weil ihre Brust berührt und gedrückt worden war. Langsam ließ sie die Hand über den Bauch zwischen die Beine wandern, unterbrach sich dann aber abrupt. Das schlechte Gewissen war wie ein Schock. Was tat sie da? Wie konnte sie überhaupt an Sex denken? Was war sie bloß für eine Mutter? Sie hätte Gary am Tag zuvor wegschicken müssen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn ins Haus zu lassen?
Julie schaute auf den Wecker neben dem Bett. Fast sechs. Sie drückte auf die Fernbedienung, und das Fernsehgerät auf der Kommode erwachte zum Leben. Sie döste noch ein bisschen, betrachtete die Bilder, ohne auf die Worte zu achten, bis schließlich ihre Mutter mit einer Tasse Tee und einem Stoß Briefe hereinkam. Weitere Beileidskarten, das sah sie auf den ersten Blick. All ihre Freunde bekundeten ihre Anteilnahme, schrieben ihr, wie leid es ihnen tat. Julie wusste schon, wie die Karten aussehen würden. Lauter Bilder von Kreuzen, Kirchen und Lilien. Seit Lauras Taufe hatte sie keine Kirche mehr betreten und fragte sich, was der Tod eigentlich an sich hatte, dass er alle Welt so religiös werden ließ. Sie hatte es noch nicht über sich gebracht, die Post zu öffnen, und legte die neuen Briefe auf den Stapel ungeöffneter Umschläge neben dem Bett, der immer höher wurde.
Den ganzen Morgen über versuchte sie, die Gedanken an Gary aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihre Mutter schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, und versuchte sie abzulenken. Vielleicht fand sie auch einfach nur, dass Julie langsam genug Trübsal geblasen hatte und es an der Zeit war, sich am Riemen zu reißen. Julies Mutter gab nichts auf Gefühlsduseleien und hatte einen kurzen Geduldsfaden. Sie zwang Julie, zum Frühstücken aufzustehen, und ließ sie dann das Pausenbrot machen, das Laura mit zur Schule nehmen sollte. Als das Mädchen gegangen war und Julie immer noch am Küchentisch hockte und ins Leere stierte, holte ihre Mutter den Stapel mit Briefen und Karten aus dem Schlafzimmer.
«Die musst du beantworten, Julie. Du kannst sie nicht einfach ignorieren. Das wäre schrecklich unhöflich.»
Julie hatte sich gerade gefragt, was Gary wohl heute macht. Sie hatte doch seine Telefonnummer. Sie konnte ihn jederzeit anrufen. Sie gab sich der Vorstellung hin, dass er kam, um sie abzuholen, sie mit zur Arbeit zu nehmen. Ein dunkler Raum, flackerndes Licht und eine Rockband. Und richtig laute Musik, die alle anderen Gedanken in ihrem Kopf einfach übertönen würde. Ein stampfender Bass, den man im ganzen Körper vibrieren spürte. Dann traf das schlechte Gewissen sie erneut, und wie um Buße zu tun, setzte sie sich mit einem Becher Milchkaffee an den Tisch und öffnete die Beileidspost, wie ihre Mutter es wollte.
Als es klingelte, spürte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte. Gary war zurückgekommen. Ihre Mutter war oben beim Bettenmachen, rief aber zu ihr herunter: «Lass nur, ich gehe schon!» Und Julie blieb, wo sie war, zwang sich, ruhig zu atmen, und sagte sich immer und immer wieder, dass es falsch war, als trauernde Mutter an einen Mann zu denken. Dann hörte sie Vera Stanhopes Stimme, so laut, dass sie wahrscheinlich in der ganzen Straße zu hören war, und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.
Vera kam in die Küche und setzte sich neben sie. «Tut mir leid, dass ich Sie störe, Herzchen. Ich habe noch ein paar Fragen.»
Dann sah sie, womit Julie beschäftigt war, sah die einzige Karte auf dem Tisch, die sie bisher aus dem Umschlag genommen hatte. «Das ist aber hübsch. Kam das heute?»
Erst jetzt schaute auch Julie sich die Karte genauer an. Nichts Kirchliches diesmal. Es war eine dieser edlen, handgemachten Karten, die ein Vermögen kosteten. Eine einzelne gepresste Blume auf dickem, cremefarbenem Briefkarton. Sie wollte schon danach greifen, um die Nachricht auf der Rückseite zu lesen, doch Vera hielt sie davon ab, hinderte sie tatsächlich daran, indem sie ihre große Pranke auf Julies Hand senkte.
«Moment mal, Herzchen. Das könnte möglicherweise wichtig sein. Kam das heute?»
«Ich weiß nicht», sagte Julie. «Ich habe es bis jetzt nicht fertiggebracht, die Post zu öffnen. Seit Freitag trudeln ständig neue Karten ein.»
«Haben Sie den Umschlag noch?»
«Ja, der liegt da auf dem Tisch.»
Halb benommen sah sie zu, wie Vera einen Kuli aus der Tasche zog und damit den Umschlag umdrehte, um den Poststempel und die Adresse lesen zu können. Sie wusste nicht, was daran wichtig sein sollte, und es war ihr im Grunde auch egal. Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo auf einem Feld in der Ferne ein Traktor seine Runden drehte.
«Das ist ja gar nicht an Sie adressiert», hörte sie Vera sagen. «Das ging an Luke.»
Jetzt schaute auch Julie auf den Umschlag, der weiß und nicht cremefarben war und offensichtlich nicht zu der Karte gehörte.
Er war mit schwarzer Tinte in Druckbuchstaben beschriftet: LUKE ARMSTRONG, LAUREL WAY 16, SEATON, NORTHUMBERLAND. Keine Postleitzahl.
Julie hob den Kopf und sah Vera an. «Das ist nicht die richtige Adresse», sagte sie. «Die Straße hier heißt Laurel Avenue, nicht Laurel Way. Der Laurel Way ist gleich hinter der Schule.» Sie begriff immer noch nicht recht, was an dieser Karte so wichtig sein sollte.
«Sie wurde am Dienstag eingeworfen», sagte Vera. «Mit einer First-Class-Briefmarke. Wenn die Adresse korrekt gewesen wäre, hätte sie am Mittwoch hier ankommen müssen.»
«Aber wenn der Brief am Mittwoch gekommen wäre, hätte Luke ihn noch selbst geöffnet. Ich würde doch nie einen Brief öffnen, auf dem sein Name steht. Das hätte ich wohl auch heute nicht getan, wenn es mir aufgefallen wäre. Aber ich bin einfach davon ausgegangen, dass er für mich ist.» Sie sah Vera an, die mit gerunzelter Stirn am Tisch saß. «Er muss am Freitag mit den übrigen Karten gekommen sein, da bin ich mir sicher. Ist das denn wichtig?»
«Wahrscheinlich nicht, Herzchen. Aber schauen wir doch mal, was draufsteht. Sie haben nicht zufällig so was wie eine Pinzette für mich?»
Froh darüber, etwas tun zu können, ging Julie nach oben, um die Pinzette zu holen. Ihre Mutter war im Bad. Julie hörte Wasser rauschen, dann das Zischen des Putzsprays. Ihre Mutter putzte die Badewanne täglich, beugte sich darüber und schrubbte so heftig, dass man schon meinen konnte, die Farbe müsste am Putzlappen kleben bleiben. Doch es half nichts. Julie konnte sie immer noch nicht benutzen. Immerhin war die Badezimmertür zu, und Julie musste nicht erklären, was sie vorhatte. Als sie wieder in der Küche war, griff Vera vorsichtig eine Ecke der Karte mit der Pinzette und drehte sie um. Die Rückseite war leer.
«Irgendein Witz vielleicht», meinte Julie.
«Ja. Vielleicht. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die Karte mit und lasse sie prüfen.»
Julie verspürte einen Anflug von Neugier, der aber sofort wieder verschwand. Letztlich war es doch ohnehin egal, was die Polizei tat. Sie schaltete den Wasserkocher ein, um Vera einen Kaffee zu machen, und als sie sich mit dem Becher in der Hand wieder zum Tisch umdrehte, waren Karte und Umschlag verschwunden.
«Sie haben gesagt, Sie hätten noch ein paar Fragen?» Julie interessierte sich nicht weiter für diese Fragen, wollte das alles nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. Aber warum eigentlich? Um sich wieder ihren Träumen von sinnloser Metal-Musik und einem Jungen hinzugeben, mit dem sie, als sie sechs Jahre alt gewesen war, auf dem Schulhof gespielt hatte? Sie öffnete die Keksdose und stellte sie auf den Tisch. Vera nahm sich einen Schokoladenkeks, tunkte ihn in den Kaffee und biss dann rasch ab, ehe das aufgeweichte Stück herunterfallen konnte.
«Hatte Luke eigentlich einen Sozialarbeiter?»
«Da war eine Frau, die manchmal vorbeikam, als er seine ersten Probleme in der Schule hatte. So eine neugierige Ziege.» Julie hatte seit Jahren nicht mehr an die Frau gedacht. Sie hatte eine Schwäche für lange Strickjacken, derbe Schuhe und dicke Strumpfhosen in merkwürdigen Farben gehabt. Und ein dickes Muttermal an der Nase. Julie hatte sie damals im Stillen immer nur «die Hexe» genannt. «Ich weiß aber nicht mehr, wie sie hieß.»
«Und in letzter Zeit gab es niemanden?»
«Ich brauchte keine Sozialarbeiter. Ich bin bestens zurechtgekommen.» Sie musterte Vera misstrauisch. «Und ich kann auch jetzt keinen brauchen, der sich einmischt. Es ist schon schlimm genug, meine Mutter ständig hierzuhaben.»
«Ich weiß, dass Sie gut zurechtkommen», sagte Vera, und Julie hörte ihr an, dass sie das ernst meinte. «Aber wir suchen immer noch nach Verbindungen zwischen Luke und dieser jungen Frau, die ebenfalls ermordet wurde. So finden wir vielleicht eher heraus, was passiert ist. Haben Sie mal mit einem der Sozialarbeiter im Krankenhaus gesprochen?»
«Ich glaube nicht. Aber möglich ist das natürlich schon. Das ist ja kein richtiges Krankenhaus, wo die Schwestern weiße Uniformen tragen und man immer gleich weiß, wer wer ist. Die sahen irgendwie alle gleich aus, Ärzte, Schwestern, Psychologen … Und sie waren alle so jung, dass man meinte, sie könnten gerade erst mit der Schule fertig sein. Sie hatten Namensschilder, aber da habe ich meist gar nicht draufgeschaut. Ich hatte schon genug im Kopf, da konnte ich mir nicht auch noch Namen merken. Und jedes Mal, wenn ich hinkam, war wieder jemand anders zuständig.»
«Hier geht es um einen jungen Mann», sagte Vera. «Relativ frisch von der Uni. Er heißt Ben Craven. Sagt Ihnen der Name etwas?»
Julie wollte ja mithelfen. Sie wollte, dass Vera mit ihr zufrieden war – doch wenn sie an die Besuche im Krankenhaus zurückdachte, war alles ein einziger Nebel. Sie erinnerte sich nur noch an den Geruch – kalter Zigarettenrauch und abgestandenes Essen – und an Lukes riesengroße, gequälte Augen. «Es tut mir leid», sagte sie. «Es kann schon sein, dass jemand so hieß. Ich weiß es einfach nicht.»
«Aber er war niemals hier?»
«Nein.» Da war sich Julie völlig sicher. «Hier war ganz sicher niemand, der so hieß. Zumindest nicht, wenn ich auch da war.»
«Und wenn jemand vorbeigekommen wäre, während Sie bei der Arbeit waren, hätte Luke das dann erwähnt?»
Julie dachte nach. «Ich bin mir nicht sicher», sagte sie. «Er behielt seine Gedanken einfach nie sehr lange im Kopf. Er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Absichtlich verschwiegen hätte er mir so was sicher nicht, aber es kam schon vor, dass er einfach nicht mehr daran dachte.»
«Würde Laura das vielleicht wissen?»
«Mit ihr hat Luke noch weniger geredet als mit mir.»
Eine Pause entstand. Julie spürte, dass Vera aufbrechen wollte; und sosehr sie der Besuch der Polizistin anfangs gestört hatte, so wenig wollte sie sie jetzt gehen lassen. «Wenn Sie etwas Neues herausfinden», sagte sie, «kommen Sie dann und sagen es mir? Kommen Sie dann sofort?»
Vera stand auf und ging zur Spüle, um ihren Becher abzuwaschen.
«Natürlich», sagte sie. «Sofort.» Doch sie drehte Julie dabei den Rücken zu, und Julie war sich nicht sicher, ob sie ihr das glauben konnte.