KAPITEL VIERZIG 

Es war bereits Nachmittag, als der Suchtrupp Lauras Schuh fand. Er lag im Graben gleich an der Straße, nicht weit von der Bushaltestelle entfernt. Sie hatten kurz hinter Julies Haus in Seaton mit der Suche begonnen, waren dem Fußweg gefolgt und über das Feld ausgeschwärmt, das nur noch aus Stoppeln bestand. Die Anwohner der Laurel Avenue beobachteten sie von den oberen Stockwerken ihrer Häuser aus, sahen sie als schwarze Umrisse vor dem hellen Sonnenschein und dem goldenen, gemähten Feld. Die Polizisten spulten ihre Bewegungsabläufe ab wie Tänzer in einer bedächtigen, durchstrukturierten Choreographie, und ihre Schatten wurden länger, je weiter der Tag voranschritt.

Vielleicht hatten einige nach der langen Suche bereits das Gefühl, dass sie nichts finden würden. Vera vermutete, dass es ihr in einer solchen Situation nicht leichtfallen würde, bei der Sache zu bleiben; irgendwann dächte sie wahrscheinlich nur noch daran, wie schön es wäre, nach Hause zu gehen, kalt zu duschen und eine Flasche Bier zu öffnen. Doch diese Leute hörten auch dann nicht auf zu suchen, als sie die Hauptstraße erreicht hatten. Sie gingen an der Weißdornhecke entlang bis hinunter in den inzwischen fast völlig ausgetrockneten Straßengraben. Sie blieben ganz konzentriert. Nur hin und wieder richtete sich jemand auf, um sich zu strecken und sich den schmerzenden Rücken zu reiben. Sie arbeiteten fast völlig schweigend. Und auch nachdem sie den Schuh gefunden hatten, suchten sie den Straßenrand weiter ab, bis hin zu dem großen Kreisverkehr am Ortseingang von Whitley Bay.

Der Schuh war nicht absichtlich dort gelandet, das war eindeutig. Ein Versehen. Der Täter hatte anscheinend nicht gemerkt, dass sie ihn verloren hatte. Nichts deutete darauf hin, dass er im Straßengraben versteckt oder womöglich vorsätzlich dort platziert worden wäre. Der Wasserstand war inzwischen so niedrig, dass der Schuh im Matsch deutlich zu sehen war. Vera war sich sicher, dass dieses Detail nichts mit der Blumen-Inszenierung zu tun hatte. Nicht eine Blüte weit und breit. Es war einfach nur ein Schuh. Ein flacher, schwarzer, hinten offener Schuh ohne Absatz, wie sie diesen Sommer modern waren. Inzwischen würde der Entführer wohl bemerkt haben, dass er verschwunden war. Ob ihm das Kopfzerbrechen bereitete? Ob er befürchtete, dass die Spurensicherung wie durch Zauberei aus diesem Detail schließen konnte, wer er war und wo er sich aufhielt?

Julie erkannte den Schuh sofort und brach in Tränen aus. Bis zu diesem Moment hatte sie sich immer noch einreden können, dass Laura nur die Schule schwänzte. Dass sie ihr einen Schrecken einjagen wollte, weil sie so eine schlechte Mutter und am Morgen nicht da gewesen war, als ihre Tochter zur Schule aufbrach. Doch als sie den Schuh in dem durchsichtigen Plastikbeutel sah, fing sie hemmungslos an zu heulen. Vera konnte es nicht ertragen, sie in diesem Zustand zu sehen. Sie überredete Julie, eine von den Beruhigungspillen zu nehmen, die der Arzt ihr verschrieben hatte, was allerdings eher ihr als Julie zugutekam. Das Weinen der Frau ging Vera an die Nieren und störte ihre Konzentration. Sie hörte die Schluchzer noch, als sie nach draußen ging, um mit dem Leiter des Suchtrupps zu reden.

Natürlich verriet der Schuh rein gar nichts. Er hätte ihnen einiges über Laura offenbaren können: wie groß sie einmal werden würde, wie sie die Füße beim Gehen belastete und wo genau sie entlanggegangen war. Über den Mann, der sie entführt hatte, sagte der Schuh nichts aus. Doch dann fanden sich ganz in der Nähe der Stelle, wo er gelegen hatte, Reifenspuren am Hang. Das Gras war dort sehr trocken, die Reifen hatten es nur niedergedrückt und keinen echten Abdruck hinterlassen. Doch dort, wo die Grasfläche dem Asphaltbelag der Straße wich, hatte sich ein Rest von rötlichem Bausand angesammelt. Vielleicht war er dort von Straßenbauarbeiten liegen geblieben oder auch von einem Lastwagen geweht worden; in jedem Fall aber ließ sich in dem Sand eine deutlich ausgeformte Reifenspur erkennen. Es war nur ein Teilabdruck, halb so breit wie der eigentliche Reifen und etwa zehn Zentimeter lang, doch Billy Wainwright, dem Chef der Spurensicherung, genügte das vollauf. Er hockte so konzentriert davor wie ein Kleinkind im Sandkasten, das den perfekten Sandkuchen backen will.

«Und?» Vera wusste, dass sie hier eigentlich nichts mehr verloren hatte. Sie hätte auf dem Revier sein, die eingehenden Informationen sammeln sollen – Herrin der Lage sein. Aber sie war nun mal nicht Herrin der Lage.

«Ich kann nicht garantieren, dass wir damit den Reifentyp bestimmen können.» Billy richtete sich wieder auf, und Vera fand, dass er ziemlich müde und mitgenommen aussah. Er war einfach zu alt für eine junge Geliebte. Und zu anständig, um das alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Wieder einmal wollte sie ihn ermahnen, doch mit dem zufrieden zu sein, was er hatte. Er hatte eine Frau, mit der er am Abend reden konnte. Das konnte er doch nicht einfach so einem Trugbild der Midlife-Crisis opfern, so jung und hübsch dieses Bild auch immer sein mochte. «Aber wenn Sie ein verdächtiges Fahrzeug für mich haben, kann ich Ihnen sagen, ob der Abdruck dazu passt. Sehen Sie mal. Man sieht ganz deutlich die Abnutzungsspuren, die Kratzer und Kerben im Gummi.»

«Dann suchen wir also nicht nach einem neuwertigen Reifen?»

«Nein», sagte Billy. «Das Profil ist ausgesprochen schwach. Der kommt nicht mal durch den MOT-Test

Es war der perfekte mittsommerliche Spätnachmittag. Noch am Morgen hatten alle ein Gewitter befürchtet, doch seither hatte die Schwüle nachgelassen. Vera blieb einen Moment lang stehen, beobachtete die Mitglieder des Suchtrupps, die weiter vor dem Horizont entlangkrochen, und die Schwalben, die tief über dem Stoppelfeld dahinschossen und Insekten jagten.

«Melden Sie sich, falls Sie den Reifen doch noch identifiziert kriegen?»

Billy nickte knapp, und als sie ihn ansah, hatte sie das Gefühl, als wüsste er bereits, was für ein Wahnsinn es gewesen war, sich mit der hübschen Pathologielaborantin einzulassen. Er verabscheute sich selbst dafür, konnte es aber trotzdem nicht lassen. Er wollte sich einfach nicht eingestehen, dass er sich damit zum Narren machte, dass er viel zu alt für so etwas war und die junge Frau ihn vermutlich ohnehin nur ausnutzte. Deshalb hatte er sich eingeredet, sie zu lieben.

In der Einsatzzentrale in Kimmerston war es ungewöhnlich still. Eine angespannte, erwartungsvolle Stille, in der jedes klingelnde Telefon, jede unvermittelt laute Stimme die Polizisten hochschrecken ließ. Vera hatte es sich gerade am Schreibtisch bequem gemacht, als ihr Telefon tatsächlich klingelte. Es war kein internes Gespräch. Der Anruf kam von außen. Sie meldete sich mit Namen, und es blieb kurz still am anderen Ende. Im Hintergrund hörte sie Geräusche, die in einem geschlossenen Raum widerhallten: ein Metalltor, das zugeknallt und abgeschlossen wurde, Männerstimmen, die etwas riefen. Und dann eine leisere Stimme: «Hier spricht David Sharp.» Davy Sharp, der aus der Haftanstalt Acklington anrief. Dort musste es jetzt wohl bald Abendessen geben. Vera sah ihn vor sich, im Gefängnistrakt. Er musste sich in die Schlange vor dem Telefon eingereiht haben, und hinter ihm warteten sicher noch andere Männer. Die vermutlich alle zuhörten.

«Hallo, Davy. Was kann ich denn für Sie tun?» Sie bemühte sich um einen unbeschwerten Ton, sprach aber so leise, dass nur er sie hören würde.

«Eigentlich ist es eher umgekehrt», gab er zur Antwort. «Sie sollten mich fragen, was ich für Sie tun kann.»

«Was haben Sie für mich, Davy?»

«Nichts fürs Telefon. Da müssten Sie schon herkommen. Aber vielleicht ist es ja auch nichts weiter.»

«Sind Ihnen die Kippen ausgegangen, Davy?» Auf keinen Fall würde sie die Ermittlungen sausenlassen und den ganzen Weg bis nach Acklington fahren, weil er Zigaretten brauchte. Zumindest nicht, solange sie nicht wusste, was mit Laura passiert war. «Heute geht das auf keinen Fall. Kann ich jemand anders vorbeischicken?»

«Nein», sagte er ausdruckslos. «Entweder Sie oder keiner.» Einen Moment lang war es still, und Vera glaubte schon, die Verbindung wäre unterbrochen, als er doch noch weitersprach. «Es ist ein bisschen kompliziert. Und ziemlich merkwürdig. Ich verstehe es selbst nicht ganz. Aber es eilt nicht. Morgen reicht auch noch.»

«Ein Mädchen wird vermisst, Davy», sagte Vera. «Alles, was Sie wissen, brauche ich jetzt sofort.» Doch diesmal war die Verbindung tatsächlich abgebrochen, und sie wusste nicht, ob er sie noch gehört hatte. Sie legte auf und ärgerte sich über sich selbst. Sie hätte das ganz anders angehen müssen.

Sie überlegte, ob sie nicht doch ins Gefängnis fahren sollte. Es wäre immerhin eine Abwechslung: die Fahrt nach Acklington, das Geplänkel mit dem Wärter am Eingang. Eine Flucht vor der Warterei. Doch Davy Sharp hatte tatsächlich nicht geklungen, als ob es dringend wäre. Und Vera konnte diesen Ausflug beim besten Willen nicht rechtfertigen.

Ihr Blick fiel auf Parrs Kurzgeschichtensammlung, die noch auf dem Schreibtisch lag. Plötzlich sah sie Samuel vor sich, wie er an dem Abend, als sie Lilys Leiche gefunden hatten, mit den anderen im Garten von Fox Mill saß. Vier Männer und eine Frau gemeinsam auf der Terrasse. Zum ersten Mal kam Vera der Gedanke, dass vielleicht alle diese Männer ein wenig in Felicity Calvert verliebt waren. Nicht die Vogelbegeisterung hielt sie zusammen, sondern diese Frau. Die Bilderbuchhausfrau mit den geblümten Röcken und dem perfekten Kuchen. Die Männer waren alle einsam, frustriert und verkorkst. Wie ich, dachte Vera. Genau wie ich. Dann fiel ihr die Geschichte wieder ein, die sie am Morgen gelesen hatte: die Entführung eines jungen Menschen, mitten im Sommer, die liebevolle Schilderung der Tat.

Vera riss ihre Bürotür auf und brüllte nach Ashworth. Er kam sofort angerannt, und sie merkte, wie alle anderen im Raum von ihren Schreibtischen zu ihr herübersahen. Wahrscheinlich glaubten sie, es hätte sich etwas Neues ergeben. Dass die Leiche gefunden worden sei. Vielleicht wären sie dann sogar erleichtert gewesen, weil sie den Ausgang der Geschichte gekannt hätten.

«Es gibt nichts Neues», sagte Vera in den Raum hinein. «Sobald es etwas gibt, erfahren Sie es sofort.»

Ashworth machte die Bürotür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Vera dachte, dass er müde aussah, dann fiel ihr seine Frau wieder ein und das Baby, das inzwischen jeden Tag kommen konnte. Die letzten Wochen einer Schwangerschaft konnten ziemlich anstrengend werden, vor allem, wenn es so heiß war. Das hatte sie zumindest gehört. Wahrscheinlich bekam im Augenblick keiner der beiden sonderlich viel Schlaf.

«Lesen Sie das.» Vera deutete mit dem Kopf auf das Buch, das auf dem Schreibtisch lag. «Das ist eine Geschichte von Parr. Ist nicht ganz so wie die Entführung des Mädchens, aber ziemlich nah dran.»

Joe sah sie an, als hätte sie jetzt völlig den Verstand verloren, griff aber trotzdem nach dem Buch und fing an zu lesen.

«Ich habe gestern Abend damit angefangen», fuhr Vera fort, «und seither kriege ich das nicht mehr aus dem Kopf.»

Joe sah wieder von dem Buch auf. «Sie glauben, das ist so eine Art Phantasie? Parr hat darüber geschrieben, und jetzt setzt er seine Geschichte in die Tat um?»

«Idiotisch, nicht? Am besten vergessen Sie das gleich wieder.» Eigentlich konnte sie es ja auch selbst nicht glauben. Das war doch viel zu theatralisch, um wahr zu sein.

«Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass er die Familie Armstrong kannte», sagte Joe nachdenklich. «Und vor allem hat er kein Motiv.»

«Ich sage ja», wiederholte Vera. «Es ist eine völlig idiotische Idee.»

«Aber das hier ist schon ziemlich krauses Zeug. Und es erinnert tatsächlich an die Entführung und die Morde, wie Sie sagen. Nicht bis ins letzte Detail, aber …» Er schwieg einen Augenblick. «… es ist irgendwas an der Atmosphäre. Wie geht die Geschichte denn aus?»

Vera war froh, dass er sie zumindest ernst nahm. Ihr kurzfristiger Ärger darüber, dass er sich nicht richtig auf die Ermittlungen konzentrierte, war verflogen. «Keine Ahnung. So weit bin ich noch nicht gekommen. Und im Moment habe ich einfach zu viel zu tun, um weiterzulesen.»

Sein Blick wanderte wieder zu dem Buch zurück. «Was müssen Sie denn machen?»

«Ich will ganz genau wissen, wo alle sind», sagte Vera. «Die Leute, die anwesend waren, als Lilys Leiche gefunden wurde. Was treiben die alle heute?»

«Felicity Calvert ist zu Hause. Ich hatte mich kurz im Gartenhaus umgesehen, nur um sicherzugehen, dass das Mädchen nicht dort festgehalten wird. Den Vormittag über war Felicity in Morpeth. Zum Einkaufen, sagt sie, nur hat sie dann doch nichts gekauft. Und es hat sie auch kein Mensch gesehen. Der einzige Beweis, dass sie dort war, ist ein Parkschein von einem Parkplatz in der Stadtmitte. Calvert habe ich an der Uni zu erreichen versucht. Er treibt sich da irgendwo rum. Zumindest sagt seine Sekretärin, er hätte sich am Morgen angemeldet, dann aber zu irgendeiner Besprechung gemusst, die vermutlich den ganzen Tag dauert. Sie hat versprochen, ihn ausfindig zu machen und ihm zu sagen, er soll mich zurückrufen, was er allerdings noch nicht getan hat. Und Clive Stringer ist bei der Arbeit. Ich habe ihn vorhin im Museum angerufen.»

«Ist er immer noch dort?»

«Davon gehe ich mal aus. Es ist noch nicht lange her, dass ich ihn angerufen habe. Gary Wright ist zu Hause in North Shields. Er muss erst heute Abend zur Arbeit. Einer der Kollegen vor Ort hat bei ihm vorbeigeschaut.»

«War er auch in der Wohnung?»

«Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gefragt.»

«Ich gehe mir mal Wrights Wohnung ansehen», sagte Vera. Sie wusste zwar, dass es vermutlich Zeitverschwendung sein würde, aber sie war einfach viel zu unruhig, um im Büro herumzusitzen und darauf zu warten, dass das Telefon klingelte. Sie stellte sich vor, dass Laura Armstrong in dem Zimmer eingesperrt wäre, wo sie mit Wright geplaudert und Bier getrunken hatte. Selbst wenn das Mädchen es irgendwie auf den Balkon hinaus schaffte und um Hilfe rief – würde sie dann wohl jemand hören? «Und Parr? Wo ist der?»

«Das weiß niemand. Er hat sich den Tag freigenommen. Offenbar hat er das erst gestern so vereinbart. Zu Hause in Morpeth ist er aber nicht.»

«Ich will wissen, wo er ist.»

Ashworth nickte. «Soll ich vielleicht die Geschichte fertig lesen? Ich will heute möglichst nicht zu weit von zu Hause weg. Sarah hatte Schmerzen in der Nacht. Kann sein, dass das Baby kommt.»

Das war es also, dachte Vera. Er war keineswegs auf ihrer Seite, er brauchte nur eine Entschuldigung, um im Büro bleiben zu können. Sie wollte schon eine bissige Bemerkung machen, dachte sich dann aber, dass es die Mühe nicht wert war. Was spielten Bürostreitigkeiten für eine Rolle, wenn Laura verschwunden war?

«Bleiben Sie ruhig hier», sagte sie. «Und rufen Sie mich an, wenn Sie mit der Geschichte durch sind. Oder auch vorher, falls Ihnen sonst was auffällt.» Ashworth nickte, und Vera nahm ihre Tasche und verließ das Büro. Er war schon ganz vertieft in das Buch.

Erst auf dem Parkplatz fiel Vera wieder ein, dass sie gar nicht in den Bericht des Untersuchungsrichters zum Tod von Claire Parr hineingeschaut hatte. Sie kehrte noch einmal um, würdigte Ashworth, der es sich auf ihrem Schreibtischstuhl gemütlich gemacht hatte, keines weiteren Blickes, und wühlte in dem Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

«Ach du lieber Himmel», sagte sie. «Parrs Frau. Sie hat sich tatsächlich die Pulsadern aufgeschnitten. Aber sie lag dabei in der Badewanne. Und Parr hat sie gefunden.»