KAPITEL EINUNDZWANZIG
Joe schien kein Problem damit zu haben, hier mit seinem schicken Kaffee in der Sonne zu sitzen, bis es Zeit für das Treffen mit Clive Stringer war, doch Vera war rastlos und ungeduldig. «Ich werde sehen, ob ich diese Annie Slater auftreiben kann, bei der Lilys Mitbewohnerinnen in der Nacht nach dem Mord untergekommen sind. Immerhin war sie Lilys Dozentin. Und sie haben in derselben Straße gewohnt. Wir treffen uns dann später am Museum.»
Damit war sie weg, bevor er noch protestieren oder anbieten konnte, sie zu begleiten. Fürs Erste hatte sie genug davon, sich von Joe Ashworth betreuen zu lassen. Sie kam sich vor wie ein unartiges Kind, das die Schule schwänzte, und fragte sich, ob ihre männlichen Kollegen auch manchmal so reagierten. Annie Slater traf sie im Dozentenzimmer an, wo sie vor den Postfächern stand und eine Mitteilung las. Lilys Mitbewohnerinnen hatten etwas von einer Tochter gesagt, und Vera dachte sich, dass diese Frau das Kinderkriegen wohl bis zur letzten Sekunde aufgeschoben haben musste. Sie war Mitte vierzig und hatte sich gut gehalten. Sehr schwarzes Haar, das sie in einem strengen Bob trug, sehr roter Lippenstift. Sie führte Vera in ihr kleines Büro und musterte sie mit gerunzelter Stirn. «Ich habe nicht viel Zeit. In zehn Minuten muss ich zu einer Besprechung.»
«Es dauert auch gar nicht lange. Ich habe nur ein paar Fragen zu Lily Marsh.»
«Ach ja», sagte Annie. «Die arme Lily. Das war ein echter Schock. Man hört ja häufig von solchen Dingen, aber es kommt doch fast nie vor, dass es jemanden trifft, den man kennt.» Vera dachte, dass sie ihre Bestürzung ganz gut verbarg. Sie schien sich jedenfalls immer noch vor allem für die Mitteilung zu interessieren, die sie in der Hand hielt.
«Wäre Lily denn eine gute Lehrerin geworden?»
Annie zögerte einen Moment und wirkte zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs etwas konzentrierter. «Ich würde sagen, sie war fähig, aber uninspiriert. Was übrigens schon deutlich mehr ist, als man von den anderen Studenten ihres Jahrgangs behaupten kann. Sie war ausgesprochen fleißig, hat sich immer sorgfältig auf ihre Stunden vorbereitet und ging auch ganz gut auf die Kinder ein, aber ich habe trotzdem gemerkt, dass sie nicht mit dem Herzen dabei ist. Ich konnte mir nie vorstellen, dass sie in zwanzig Jahren immer noch Lehrerin sein würde.»
«Hatten Sie den Eindruck, dass sie depressiv war oder Sorgen hatte?»
«Da ist mir nichts aufgefallen, aber ich glaube auch nicht, dass mir das aufgefallen wäre. Unser Aufbaustudium ist recht kurz, man hat nicht viel persönlichen Kontakt zu den Studenten. Da sollten Sie vielleicht besser ihre Freunde fragen.»
Nichts lieber als das, Herzchen. Nur hatte sie anscheinend keine.
«Wie ist sie denn an das Schulpraktikum in Hepworth gekommen?»
«Darum hatte sie ausdrücklich gebeten. Sie sagte, sie hätte den Evaluationsbericht der Ofsted über die Schule gelesen und glaube, ein Praktikum dort könne ihr sehr viel bringen. Ich war ja froh, dass sie endlich eine gewisse Leidenschaft für das Unterrichten an den Tag legt, und habe das für sie eingefädelt.»
«Und wie hat sie sich dort gemacht?»
«Gar nicht schlecht. Vor zwei Wochen habe ich mich noch mit der Direktorin unterhalten. Sie sagte mir, Lily gebe sich große Mühe, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen. Das hat mich gefreut. Bis dahin kam mir ihr Unterrichtsstil immer etwas sehr technisch vor.»
«Wussten Sie irgendetwas über ihr Privatleben?»
Annie Slater hob den Kopf und sah Vera an, als fände sie den Gedanken vollkommen absurd.
«Natürlich nicht. Wir waren doch nicht befreundet.»
«Aber Sie wohnten doch in derselben Straße. Sie hatten Kontakt zu ihren Mitbewohnerinnen.»
«Emma und ich sind immerhin verwandt.»
Sie verkehrten nicht in denselben Kreisen. Vera hatte selbst unter dieser gesellschaftlichen Arroganz gelitten, sie roch sie kilometerweit gegen den Wind. Vielleicht hakte sie ja deshalb noch einmal nach. «Dann haben Sie also auch nie von Gerüchten gehört, dass Lily ein Verhältnis mit einem Dozenten hatte?»
«Ich gebe nichts auf Universitätsklatsch, Inspector.» Was so gut wie gar keine Antwort war. Annie Slater wandte sich wieder ihrem Brief zu und machte keine Anstalten, Vera zur Tür zu bringen.
Vor dem Hancock-Museum trafen Vera und Joe sich wieder. Sie warteten, bis ein Grüppchen Erstklässler in ordentlichen Zweierreihen von Lehrern und Eltern ins Museum geleitet worden war. Dort war gerade eine Dinosaurierausstellung zu sehen: rekonstruierte Skelette, bewegliche Modelle. Die Werbeplakate hingen in der ganzen Stadt, von Bussen, Bahnsteigen und Ladeneingängen stierten einem Tyrannosaurus-Köpfe mit bösem Blick entgegen. Die Kinder waren unnatürlich still, wie eingeschüchtert von dem riesigen Gebäude und dem Gedanken an die gewaltigen Monster. Jurassic Park in Newcastle.
Vera und Ashworth folgten ihnen nach drinnen, blieben dann in der Eingangshalle stehen und genossen die Kühle im Museum, bis Clive Stringer sie abholen kam.
«Ist das nicht toll?» Ashworth sah den Kindern nach, die in den Ausstellungsräumen verschwanden. «Man muss Kinder einfach früh für so was begeistern.» In zwei oder drei Jahren, dachte Vera, kommt er dann mit seiner eigenen Tochter her.
«Dazu kann ich nichts sagen.» Clive blinzelte unsicher hinter seiner dicken, runden Brille hervor. «Ich habe nicht viel mit den Besuchern zu tun.»
Sein Reich lag hinter einer massiven Holztür, die er mit einer Chipkarte öffnete. Dahinter erstreckte sich eine Zimmerflucht mit hohen Decken und ganzen Reihen staubiger Vitrinen. Es waren kaum andere Mitarbeiter zu sehen. Clive führte sie in seinen Arbeitsraum, und Vera fühlte sich an den Saal im Wansbeck General erinnert, wo John Keating die Autopsie an Lily Marsh durchgeführt hatte. In der Mitte des Zimmers stand ein langer Tisch, auf einer Seite befanden sich mehrere große Waschbecken, und es roch nach Chemikalien und Tod. Allerdings wirkte hier alles sehr viel altmodischer – Holz und Emaille statt Edelstahl –, und es sah auch nicht so aus, als wäre hier alles blitzsauber und steril. Die Fenster waren so dreckig, dass die Sonnenstrahlen kaum durchdrangen.
Auf einem Brett lag der Kadaver eines schwarzweißen Vogels, daneben ein Skalpell, Wattebäusche, kleine Metallschüsseln. Auch eine Art Autopsie.
«Ist das nicht ein junger Alk?»
«Ja. Sein erster Winter. Er ist während der Stürme letzten November an Land geraten und wurde schließlich tot in einem Vorgarten in Cramlington gefunden. Der Hausbesitzer hat ihn uns gebracht. Seither hatte ich ihn im Kühlfach. Jetzt will ich einen Balg daraus machen.» Er schaute zu Ashworth hinüber, sah, dass der Ausdruck ihm nichts sagte. «Wir präparieren solche Bälge nicht als Ausstellungsstücke, sondern für die Forschung. Das Museum bewahrt sie als Material für Wissenschaftler und Studenten auf.»
Veras Vater Hector hatte sich als Amateurpräparator betätigt. Er arbeitete am Küchentisch, zu Hause im alten Stationsvorsteherhäuschen. Bälge zu Forschungszwecken hatten ihn allerdings nie interessiert. Er schützte zwar wissenschaftliche Neugier vor, doch Vera wusste schon damals, dass das nur ein Vorwand war. Er präparierte ausgestopfte Vögel, meist Sumpf- oder Wasservögel, und sein eigentliches Interesse galt Greifvögeln – eine Trophäe für jeden Wildhüter, dem es gelang, einen zu erlegen. Auch das, dachte sie, war eine Form von Kunst. Am Ende seines Lebens war diese Art des Präparierens längst illegal, was Hector aber nicht weiter störte. Im Gegenteil, der Umstand, dass er etwas Verbotenes tat, machte seine Freude nur noch größer. Er sammelte auch Eier. Nach seinem Tod hatte Vera die ganze Sammlung verbrannt. Ein riesiges Feuer draußen im Garten. Sie hatte seinen Lieblings-Malt dazu getrunken und festgestellt, dass sie gar nicht um ihn trauerte. Sie war einfach nur erleichtert, dass er fort war.
«Seit wann arbeiten Sie schon hier?», fragte Ashworth Stringer.
«Seit ich mit der Schule fertig bin.»
«Muss man für diese Arbeit denn nicht studiert haben?»
«Ich habe als Lehrling angefangen.» Stringer schwieg einen Augenblick. «Ich hatte Glück. Peter kennt den Kurator und hat ein gutes Wort für mich eingelegt.»
«Doktor Calvert, meinen Sie?»
«Genau.»
«Dann kennen Sie ihn also schon lange?»
«Ja. Er hat mich zum Beringen ausgebildet. Da war ich fünfzehn.»
«Zum Beringen?»
«Da geht es um Zugvögelforschung. Die Vögel werden in Netzen oder Fallen gefangen und bekommen kleine Metallringe ums Bein. Wenn man sie später wieder fängt oder tot auffindet, kann man bestimmen, wann und wo sie ursprünglich beringt wurden.»
«Und Mr Parr und Mr Wright machen das auch, Beringen, meine ich? Haben Sie sich so kennengelernt?»
«Inzwischen beringen wir eigentlich kaum noch. Ich bin der Einzige, der überhaupt noch zur Beobachtungsstation an der Küste von Deepden fährt, und ich mache das auch längst nicht mehr so oft. Die anderen haben inzwischen andere Interessen. Aber wir sind immer noch gut befreundet. Und wir gehen immer noch zusammen Vögel beobachten.»
«Seevögel?» Vera mischte sich mit dieser Frage zum ersten Mal ins Gespräch ein.
Clive deutete ein Lächeln an. «Gary interessiert sich für Seevögel. Zur entsprechenden Jahreszeit verbringt er Stunden auf dem Ausguck. Ich glaube, das liegt daran, dass er von Natur aus faul ist. Ihn stört das Warten nicht. Er sagt, für ihn hat das was Meditatives.»
«Es muss ein großer Schock gewesen sein, als Sie am Freitag die Tote fanden.»
«O ja.»
«Für Sie vielleicht noch weniger als für die anderen», fuhr Vera fort. «Sie haben doch täglich mit dem Tod zu tun.»
«Ich arbeite mit den Kadavern von Vögeln und Tieren. Nicht mit den Leichen junger Frauen.»
«Nein. Nicht mit den Leichen hübscher junger Frauen.» Sie machte eine Pause. «Haben Sie eigentlich eine Freundin, Mr Stringer?»
Als sie ihn in Fox Mill zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr wie ein zu groß geratener, von frühzeitigem Haarausfall geplagter Schuljunge vorgekommen. Dieser Eindruck verstärkte sich jetzt, als er heftig errötete. Sie bekam fast Mitleid mit ihm.
«Nein», sagte er. «Ich habe keine Freundin.»
«Sind Sie homosexuell?»
«Nein.»
Sie sah ihn an, wartete darauf, dass er weitersprach.
«Ich finde es schwierig, auf Frauen zuzugehen», sagte er schließlich. «Wahrscheinlich bin ich zu schüchtern. Und ich komme auch nicht viel unter Menschen. Ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Mein Vater starb, als ich noch klein war, und inzwischen ist meine Mutter sehr hinfällig. Sie hat niemanden außer mir.»
Am liebsten hätte Vera ihm geraten zuzusehen, dass er da so schnell wie möglich rauskam und sich ein eigenes Leben aufbaute, solange das noch ging. Aber das stand ihr nicht zu.
«Hat Doktor Calvert eine Freundin?»
Clive starrte sie entsetzt an. «Wie meinen Sie das denn?»
«Hat er eine Freundin? Eine Geliebte?»
«Natürlich nicht. Er ist doch mit Felicity verheiratet.»
«Das wird Sie jetzt vielleicht schockieren, Herzchen, aber viele verheiratete Männer haben Affären.»
«Peter nicht. Sie haben sie doch zusammen gesehen. Sie sind glücklich miteinander.»
Sie sind gute Schauspieler, dachte Vera. Und das ist keineswegs dasselbe.
Doch sie lächelte nur. «Tja», sagte sie. «Vielleicht haben Sie ja recht.» Dann bedeutete sie Ashworth, dass er die weiteren Fragen stellen solle.
«Haben Sie letzten Mittwoch gearbeitet?»
«Ja, bis halb fünf. Ich fange immer um acht an und soll eigentlich um vier Schluss machen, aber meistens wird es dann doch halb fünf, bis ich wegkomme.»
«Was haben Sie anschließend gemacht?»
«Ich bin nach Hause gegangen. Auf dem Weg war ich noch kurz einkaufen. Dann haben wir zusammen zu Abend gegessen. Mutter geht meist sehr früh ins Bett, so gegen neun. Ich war noch eine Weile auf und habe ferngesehen. Ich hatte mir einen Dokumentarfilm über den Regenwald auf Video aufgenommen. Mutter redet die ganze Zeit, wenn eine Sendung sie nicht interessiert.»
«Sie sind also nicht mehr ausgegangen?»
«Nein.»
«Sie erinnern sich aber sehr gut, was Sie an dem Abend gemacht haben», warf Vera ein.
«Ich habe eben ein gutes Gedächtnis. Ich merke mir Details, das sagte ich Ihnen ja schon am Freitag.»
«Fahren Sie Auto?»
«Ich kann schon fahren. Also, ich habe einen Führerschein. Aber es macht mir keinen Spaß. Irgendwie kriege ich nicht aus dem Kopf, wie gefährlich das ist. Und es schadet der Umwelt. Die Treibhausgase. Darum habe ich vor zwei Jahren beschlossen, das Auto abzuschaffen. Man kommt auch gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt. Außerdem habe ich ein Fahrrad.»
Vera spürte, dass Clive sich unwohl fühlte. Obwohl es dämmrig und kühl im Raum war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Er fingerte an dem Skalpell auf dem Brett vor sich herum. Sie ermahnte sich, seine Nervosität nicht vorschnell zu deuten. Wahrscheinlich hatte er seit Jahren keine so lange Unterhaltung mehr mit anderen Menschen geführt, außer vielleicht mit seiner Mutter. Wenn er mit seinen Freunden zusammen war, hörte er vermutlich eher zu, als dass er selbst erzählte. Sie versuchte, im leichten Plauderton weiterzusprechen. Seine Mutter war Klatsch und Tratsch sicher auch nicht abgeneigt.
«Hat Gary Ihnen denn von seiner neuen Freundin erzählt?»
Anscheinend war er überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel, er zögerte einen Moment mit der Antwort. «Von der hat er uns allen erzählt.» Er hielt erneut inne. «Nicht weiter ungewöhnlich. Es gibt ständig irgendeine neue Frau in seinem Leben. Und jedes Mal ist er völlig verrückt nach ihr. Etwa eine Woche lang. Gehalten hat sich aber keine.»
«Mir hat er gesagt, diesmal wäre es anders», sagte Vera.
Clive lächelte wieder. Es sah aus, als lächelte er ungefähr einmal im halben Jahr. «Das sagt er auch jedes Mal. Seit Emily weg ist, ist er auf der Suche nach einem Ersatz.»
«Emily?»
«Seine Verlobte. Sie hat ihn sitzenlassen.»
«Kennen Sie Julie, seine neueste Freundin?»
«Nein. Zu seinen Verabredungen nimmt er mich dann doch nicht mit.»
«Der Junge, der ermordet wurde, war ihr Sohn», sagte Vera. «Er wurde erdrosselt. Wie Lily Marsh.»
«Das tut mir leid.»
«Wahrscheinlich kennen Sie auch keine Familie Sharp, oder?», fragte sie weiter, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten.
«Davy Sharp wohnt bei uns in der Straße. Wenn er nicht gerade im Gefängnis sitzt.»
«Kannten Sie den Sohn, Thomas?»
«Ich habe ihn hin und wieder gesehen. Meine Mutter hat manchmal auf ihn aufgepasst, als er klein war. Sie war ganz vernarrt in ihn. Er war oft bei uns, wenn ich von der Arbeit kam. In letzter Zeit natürlich nicht mehr. Da war er ja schon alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.»
«Dann war sein Tod sicher ein schwerer Schlag für sie.»
«Ja, wir sind sogar zum Fluss gegangen. Sie hatte das mit den Blumen auf dem Wasser in den Nachrichten gesehen und wollte es sich anschauen. Ihm die letzte Ehre erweisen.» Clive schwieg. «Aber als wir ankamen, war da gar nicht mehr viel zu sehen. Die Flut hatte schon eingesetzt und die Blumen alle ins Meer geschwemmt.»
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da. Durchs offene Fenster hörte man eine Sirene, laute Stimmen.
«Erzählen Sie mir von Ihren Freunden», sagte Vera schließlich. «Von Gary, Peter und Samuel. Sie sind doch Freunde, oder? Sie scheinen einfach nicht viel gemeinsam zu haben, bis aufs Vögelbeobachten.»
«Sie sind wie eine Familie für mich.»
«Sie meinen, Gary und Sie sind die Kinder und Samuel und Peter Mama und Papa?»
Vera überspannte den Bogen ganz bewusst. Sie wollte sehen, ob er die Kontrolle verlor. Er war wieder knallrot angelaufen.
«Also keine Familie», sagte sie. «Dann erzählen Sie mir mal, warum Sie sich so gut verstehen, was Sie über all die Jahre zusammengehalten hat.» Das interessierte sie wirklich. Mit Freundschaften kannte Vera sich nicht aus. Sie hatte ihre Kollegen, die Leute, mit denen sie aufgewachsen war, die in ihrer Nähe lebten – aber niemanden, dem sie sich verpflichtet gefühlt hätte, niemanden, um den sie sich bemüht hätte. Freundschaft war in ihren Augen ein zweischneidiges Schwert. Am Ende gab man immer mehr, als man zurückbekam.
«Teilweise natürlich die Vögel», erwiderte Clive. «Das können Außenstehende nur schwer nachvollziehen. Die halten einen dann immer gleich für seltsam und verschroben. Aber das ist längst nicht alles. Wir vertrauen uns gegenseitig, obwohl wir so verschieden sind. Sie geben mir Halt.»
Vera kicherte. «Also, Herzchen, jetzt komme ich wirklich nicht mehr mit. Das klingt ja wie aus einer Frauenzeitschrift.»
Er zuckte die Achseln. «Ich hatte auch gar nicht erwartet, dass Sie das verstehen.»
«Was war am Freitag?», übernahm Ashworth. Es sah aus, als nervten Veras Kommentare und Zwischenfragen auch ihn langsam. Er wollte schließlich nicht den ganzen Tag hier verbringen. «Was haben Sie gemacht, bevor Sie zu dem Abendessen nach Fox Mill gefahren sind?»
«Ich war mit Peter Mittag essen.»
«Weil er Geburtstag hatte?»
«Nein, wir treffen uns eigentlich jeden Freitag, einfach auf ein Pint und ein Sandwich. Als wir noch beringt haben, fing damit immer das Wochenende an. Ich habe hier Gleitzeit und konnte mir den Nachmittag freinehmen, also haben wir uns zum Mittagessen getroffen, und anschließend hat Peter mich mit an die Küste zur Beobachtungsstation genommen. Die anderen kamen dann später nach. Inzwischen fahren wir zwar kaum noch hin, treffen uns aber nach Möglichkeit immer noch zum Mittagessen.»
Vera hatte den traurigen Gedanken, dass das für Clive vermutlich der Höhepunkt jeder Woche war: ein Mittagessen mit einem alternden Egomanen, der im Grunde nur einen Bewunderer brauchte.
«Wie hat Doktor Calvert an diesem Tag auf Sie gewirkt?»
«Es war alles in Ordnung. Wie immer. Er freute sich auf das Wochenende.»
«Und worüber haben Sie gesprochen?»
«Das weiß ich gar nicht mehr …»
«Das können Sie mir nicht erzählen. Sie haben doch so ein unfehlbares Gedächtnis. Details. Darin sind Sie gut.»
«Er schreibt an einem Buch. Wir haben hauptsächlich darüber gesprochen.»
«Und nach dem Essen?»
«Bin ich nach Hause gegangen, um noch etwas Zeit mit meiner Mutter zu verbringen.»
«Und Doktor Calvert?», fragte Ashworth. «Was hat er gemacht?»
«Er ist wieder zurück zur Uni gegangen. Zumindest glaube ich das. Er hat nichts gesagt, aber er ging in die Richtung.»
«Wie sind Sie dann nach Fox Mill gekommen?»
«Gary hat mich mitgenommen.»
«Hat er Sie zu Hause abgeholt?»
«Nein, er war spät dran und kam direkt von der Arbeit im Sage, deshalb hatten wir vereinbart, uns in der Stadt zu treffen. Ich habe die Metro genommen.»
Er griff erneut nach dem Skalpell, drehte den toten Vogel auf dem Brett um und strich ihm mit dem Finger über den Kopf. «Ich muss jetzt wirklich sehen, dass ich weiterkomme. Ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht, was diese ganzen Fragen sollen. Ich war zufällig dabei, als eine Leiche gefunden wurde. Das ist alles. Ich kannte keines der beiden Opfer.»
Vera warf Ashworth einen Blick zu, um zu sehen, ob er noch mehr zu sagen hatte, und er schüttelte den Kopf. «Dann lassen wir Sie mal in Frieden», sagte sie. «Vorläufig zumindest.»
«Ich bringe Sie noch nach draußen.» Clive riss sich mit sichtlicher Mühe wieder von dem kleinen Alk los und ging ihnen durch die vielen Flure voran, zwischen den Staubflocken hindurch, die im Sonnenlicht vor den hohen Fenstern tanzten. Er öffnete die Tür, durch die man ins Museum gelangte, und zögerte dann, als wollte er nicht weitergehen. Auch Vera blieb stehen und sah ihn an.
«Wenn Sie den Verdacht hätten, einer Ihrer Freunde könnte einen Mord begangen haben … würden Sie mir das sagen?»
Er zögerte keine Sekunde. «Natürlich nicht. Ich vertraue meinen Freunden. Ich weiß, wenn sie etwas so Schreckliches täten wie einen Mord begehen, dann hätten sie sicher einen guten Grund dafür.»
Damit drehte er sich um und ging, und Vera und Joe sahen ihm nach.