Früher, dachte Gary, hätte er niemals zugegeben, in North Shields zu wohnen. Erst recht nicht beim ersten Gespräch mit einer Frau, die er beeindrucken wollte. Leute von anderswo hatten Vorurteile. Lauter Wohltätigkeitsläden und verrammelte Häuser, und bis auf Wilkinson und Poundstretcher keine Geschäfte, die nennenswerten Umsatz machten. Selbst jetzt wartete man an der Metro-Haltestelle noch zusammen mit jungen Müttern im Teenageralter und Banden von Jugendlichen, die wieder aus dem Wagen sprangen, sobald sich ein Kontrolleur blickenließ. Und trotzdem hatte sich so einiges geändert. Inzwischen nickten die Leute wissend, wenn er erzählte, dass er in Shields lebte. Zu jemandem mit seinem Beruf passte das. Eine nach wie vor alles andere als bürgerliche, aber doch interessante Gegend. Es gab neue Wohnhäuser dort, neue Bars und Restaurants am Fish Quay. Inzwischen wohnten sogar schon zwei Schriftsteller hier. Die Immobilienpreise in Tynemouth waren gestiegen, sodass die Leute auch über die Grenze kamen; die Sphären vermischten sich. Heutzutage musste man sich nicht mehr schämen, in Shields zu leben. Beim Sonntagsquiz im Maggie Bank, dem Pub um die Ecke, wimmelte es nur so von Unidozenten und Sozialarbeitern. Früher war Gary da regelmäßig hingegangen, inzwischen war er nur noch dort, wenn er alte Kumpel treffen wollte. Er gewann sowieso nie, obwohl er bei der Musikrunde immer Punkte machte.
Er wohnte in einem neueren Wohnhaus in einer der steilen Straßen, die vom Fish Quay ins Zentrum führten, einem vierstöckigen Gebäude. Auf der einen Seite befand sich eine backsteingotische Methodistenkapelle und auf der anderen ein Teppichladen. Die Wohnung hatte er kurz nach der Trennung von Emily gekauft, und wenn er zurückdachte, konnte er sich an den ganzen Umzug praktisch nicht mehr erinnern. Als er den Vertrag unterschrieb, war er sturzbesoffen gewesen und hatte den Makler wegen irgendeiner Lappalie angebrüllt, die ihn aufgeregt hatte. Clive hatte ihm geholfen, die paar Möbel, die nicht in den Aufzug passten, die Treppe hochzutragen, er hatte ihn bei Northern Electric angemeldet, um die Stromversorgung zu sichern, und ihm sogar Tee gekocht. So ein Freund war Clive eben. Er machte nicht viel Wind, war einfach nur da, wenn man ihn brauchte. Und Gary hoffte zwar, dass er umgekehrt dasselbe tun würde, war sich da aber nicht so sicher. Inzwischen fühlte er sich in der Wohnung mehr zu Hause als an jedem anderen Ort, wo er seit seiner Kindheit gewohnt hatte. Es würde ihm schwerfallen, hier wieder auszuziehen.
Am Morgen hatte er Clive von Fox Mill aus mit in die Stadt genommen. Auf der Fahrt hatten sie über das tote Mädchen im Tümpel geredet und den örtlichen BBC-Kanal im Radio eingeschaltet, um zu hören, ob darüber schon in den Nachrichten berichtet wurde. Geredet hatte hauptsächlich Gary. Clive hatte gar nicht viel gesagt, aber das machte er eigentlich nie. Vielleicht kamen sie deshalb so gut miteinander klar; Gary liebte ein bereitwilliges Publikum. In der Schule war Clive ein Einzelgänger gewesen. Auch jetzt hatte er keine anderen Freunde, nur Gary, Samuel und Peter. Die Tote kam gleich als Erstes in den Lokalnachrichten, es wurden aber keine Einzelheiten genannt. Kein Wort über den Fundort oder die Blumen. Nicht einmal ihr Name.
Gary ging hinaus auf den Balkon und schaute über die Stadt zum Fluss hinunter. Flussaufwärts legte gerade eine Fähre vom South-Shields-Pier ab. Er hatte sein Telefon in der Hand und lehnte sich ans Geländer, um zu wählen. Er wohnte im obersten Stock, da drang nicht viel Straßenlärm herauf. Gerade als er die Nummer wählen wollte, summte die Gegensprechanlage, und Gary ging zurück in die Wohnung, um zu hören, wer unten wartete. Er war gar nicht unglücklich darüber, das Telefonat noch verschieben zu müssen. Schließlich war er sich immer noch nicht sicher, was er sagen wollte.
«Ich bin’s, Herzchen. Vera Stanhope.» Die Polizistin vom Abend zuvor. Er hatte geglaubt, ihr schon alle Fragen beantwortet zu haben; dass sie jetzt hier war, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Früher wäre er da viel gelassener gewesen. Damals hatte er noch genug Selbstbewusstsein, um sich aus jeder Situation und jedem Schlamassel herauszureden. Inzwischen fiel ihm das nicht mehr so leicht. Aber er konnte sie ja schlecht da unten stehenlassen.
«Kommen Sie rauf.» Er versuchte, locker zu klingen, um ihr zu zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte.
Dann warf er einen raschen Blick in seinen großen Spiegel. Reine Gewohnheit. Das gab ihm Sicherheit. So, wie es ihm Sicherheit gab, ein Vermögen für die richtige Frisur oder ein gutes Paar Schuhe auszugeben. Dann machte er die Wohnungstür auf und wartete. Er hörte den Aufzug nicht und überlegte schon, ob sie vielleicht durch einen dringenden Anruf wieder weggerufen worden war, als sie keuchend und nach Atem ringend an der Treppe auftauchte.
«Ich hasse Aufzüge.» Sie schnaufte anklagend, als wollte sie ihm vorwerfen, dass er hier wohnte. «Ich frage mich jedes Mal, ob ich nicht zu schwer dafür bin.» Und Gary begriff, dass sie sich durchaus über ihre Erscheinung Gedanken machte. Wahrscheinlich war sie in der Schule ständig gehänselt worden und hatte sich nur dagegen wehren können, indem sie selbst zum Angriff überging. Er war jetzt erstaunt, dass sie ihn am Abend zuvor derart eingeschüchtert hatte, lehnte sich an den Türrahmen und ließ sie an sich vorbei in die Wohnung treten.
Drinnen sah er ihr zu, wie sie sich umschaute, und versuchte, seine Wohnung mit ihren Augen zu sehen. Bestimmt hatte sie erwartet, dass es unordentlicher bei ihm wäre. Er besaß eine Unmenge Elektronik, die aber in Kisten gepackt in dem Regal an einer Wand verstaut war. Ein bisschen Unordnung machte ihm nichts aus, aber zu chaotisch wollte er es dann doch nicht haben. An derselben Wand stand ein langer Schreibtisch mit Rechner und Drucker, Kopfhörer lagen herum, Audiozeitschriften stapelten sich. In der Mitte des Zimmers stand ein Sofa mit einem kleinen Couchtisch, in der Ecke der Fernseher und der DVD-Spieler. Und an der Wand hingen zwei vergrößerte Schwarzweißfotos. Eines zeigte den Fluss in Newcastle. Abendstimmung. Ein Blick über alle Brücken hinweg bis zur Gateshead Millennium Bridge, dem Blinking Eye. Aber eigentlich, dachte Gary, gab es hier nichts richtig Persönliches. Nichts, womit er sich verraten hätte. Er hatte sich erlaubt, ein Foto von Emily zu behalten, aber das stand klein und unauffällig auf dem Schreibtisch. Es würde der Polizistin nicht auffallen.
«Setzen Sie sich doch», sagte er. «Tee oder Kaffee?»
Sie war immer noch rot im Gesicht vom Treppensteigen. Gary nahm auch selten den Aufzug, außer, wenn er wirklich schwer zu tragen hatte. Er war aber nicht einmal außer Atem, wenn er hier oben ankam. Dann ermahnte er sich, nicht so arrogant zu sein. Sie war eine Frau, mindestens vierzig und hatte Übergewicht. Das war ja wohl kein Vergleich.
«Hätten Sie vielleicht ein Bier?», fragte sie. «Ich bin auch nicht wählerisch, Herzchen. Was immer Sie gerade im Kühlschrank haben.»
Gary musste lächeln. Irgendwie mochte er sie, obwohl er sich dagegen wehrte. Er holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und brachte ein Glas für sie mit. Sie ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder. Gary setzte sich auf den Boden, streckte die Beine von sich und spürte, wie sie ihn musterte.
«Laut Ihrer Akte sind Sie fünfunddreißig», bemerkte sie. «Sie haben sich nicht schlecht gehalten. Wenn ich Sie so anschaue, würde ich Sie fünf Jahre jünger schätzen.»
«Danke.» Es ärgerte ihn fast ein wenig, dass er sich geschmeichelt fühlte. Immerhin war das eine komische Bemerkung aus ihrem Mund, und sie beäugte ihn auch noch so eindringlich dabei. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass Frauen sich wahrscheinlich ständig so fühlten.
«Die Wohnung hier muss ja eine Stange Geld gekostet haben.» Vera schaute in Richtung Fenster. «Bei der Aussicht.»
«Nicht so wild. Ich habe sie schon vor sechs Jahren gekauft. Erstbezug. Damals haben mich alle für verrückt erklärt, weil ich nach Shields ziehe. Wenn ich jetzt verkaufen würde, könnte ich einen ordentlichen Profit machen.»
«Und Sie wohnen hier allein?»
«Ja.»
Aber ich bin nicht so ein armes Würstchen, hätte er am liebsten hinzugesetzt. Zumindest nicht so ein armes Würstchen wie Clive. Schließlich war ich mal verlobt. Mit Emily, der Liebe meines Lebens. Wir wollten zusammen in eine schöne Wohnung in Tusmond ziehen. Und seither gab es viele Frauen. Die sind zwar nicht hier eingezogen, es waren auch keine festen Freundinnen. Aber ich war nie lange allein. Und jetzt gibt es Julie.
Vera öffnete ihre Bierdose. Gary warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte immer noch diesen Anruf vor sich.
«Erwarten Sie noch Besuch?», fragte sie.
«Nein, nein», beeilte er sich zu versichern. «Kein Problem. Geht es noch um diese Studentin, die ermordet wurde? Ich dachte, Sie hätten mich gestern schon alles gefragt.»
Erst einmal nahm sie einen großen Schluck Bier, direkt aus der Dose. Das Glas, das er ihr auf den Couchtisch gestellt hatte, ignorierte sie. «Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen», sagte sie dann, «die ich Ihnen schon gestellt habe. Trotzdem möchte ich, dass Sie noch einmal ernsthaft darüber nachdenken.»
Gary wollte ihr schon ins Wort fallen, ihr sagen, dass sie nur ihre Zeit verschwendete, dass er wirklich nichts über den Mord an dieser Studentin wusste. Aber sie bedeutete ihm mit einer energischen Geste, die Bierdose in der Hand, sie nicht zu unterbrechen. Irgendwie gelang es ihr immer, ihren Willen durchzusetzen. Jetzt wartete sie erneut, bis sie ganz sicher war, dass er auch zuhörte. «Sagt Ihnen der Name Luke Armstrong etwas?»
«Nein. Das habe ich Ihnen doch schon gestern gesagt.»
«Und ich habe gerade gesagt, Sie sollen nochmal drüber nachdenken.»
Schweigend sahen sie einander an. Dann schüttelte Gary den Kopf.
«Seine Mutter heißt Julie. Und seine Schwester Laura. Vielleicht hilft Ihnen das ja auf die Sprünge.»
Gary erstarrte, die Bierdose halb am Mund. «Julies Sohn?», sagte er.
«Richtig, Julies Sohn. Der Junge, der so lange krank war.»
«Ich wollte Ihnen wirklich nichts verheimlichen, Inspector.»
«Tja, das haben Sie aber getan.»
«Ich kannte ihn doch gar nicht. Julie hat nur von ihm erzählt. Ich wusste, dass er es ziemlich schwer gehabt hat. Aber irgendwie hat mir der Name Armstrong nichts gesagt. Für mich ist sie immer noch Julie Richardson.» Er sah Vera an. «Und er ist tot?»
«Er wurde ermordet», sagte sie. «Haben Sie das denn nicht in der Zeitung gesehen?»
«Ich lese nicht viel Zeitung. Heute Morgen auf der Rückfahrt von Peter habe ich Radio gehört. Aber da war nur von Lily Marsh die Rede, nicht von dem Jungen.»
«Wir wollen auch möglichst vermeiden, dass die Medien da eine Verbindung herstellen.»
«Und er wurde auf dieselbe Art getötet wie Lily Marsh?»
«Nicht ganz. Aber es gibt frappante Ähnlichkeiten.»
«Mein Gott», sagte Gary. «Julie muss ja völlig am Ende sein. Sie hat mir erzählt, dass er kein einfacher Junge ist, aber man merkte doch, dass sie total vernarrt in ihn ist. Ich meine, natürlich hat sie gesagt, dass sie ihre beiden Kinder liebt, aber Luke war etwas Besonderes für sie. Er hat sie gebraucht. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Als Sie eben geklingelt haben, wollte ich gerade bei ihr anrufen. Eigentlich hatte ich auf ihren Anruf gewartet. Sie hat gesagt, sie würde anrufen. Ich dachte schon, sie will mich vielleicht doch nicht wiedersehen. Aber jetzt verstehe ich das natürlich.» Er schwieg einen Moment. «Wahrscheinlich will sie gerade lieber nichts von mir hören.»
«Typisch Mann», sagte Vera halb zu sich selbst. «Da hat die Frau ihren Sohn verloren, und er denkt nur daran, ob er sie jetzt noch in die Kiste kriegt.»
«Nein!», rief Gary. «So meine ich das doch gar nicht. Sie kann jetzt sicher einen Freund brauchen, aber vielleicht nicht gerade mich. Sie braucht doch jetzt eher jemanden, der sie schon länger kennt, oder? Ich wäre ihr wahrscheinlich nur lästig. Glauben Sie nicht?»
«Tut mir leid, Herzchen, ich bin nur Polizistin, keine Paartherapeutin.»
Er sah sie eindringlich an. «Wie geht es Julie denn?»
«Ihr Sohn wurde gerade ermordet. Was glauben Sie denn, wie’s ihr geht?»
Gary stand auf und ging zum Balkon. Die Tür stand immer noch offen. Draußen kabbelten sich kreischend zwei Silbermöwen. Er schämte sich fast selbst dafür, aber eigentlich dachte er gar nicht an Julie. Er hatte vor allem Mitleid mit sich selbst.
Vera hatte sich vom Sofa gestemmt und folgte ihm auf den Balkon hinaus. «Ist Ihnen klar, dass er in der Nacht ermordet wurde, als Sie mit Julie aus waren?», fragte sie.
Gary drehte sich entsetzt zu ihr um. «Am Mittwoch?»
«Ja. Sie hat ihn gefunden, als sie aus der Stadt nach Hause kam.» Vera hielt inne und sah ihn konzentriert an. «Was für ein Zufall. Erst graben Sie kurz vor dem ersten Mord die Mutter des Opfers an, und kurz darauf finden Sie das zweite Opfer.»
«Aber ich kannte doch beide Opfer nicht», beteuerte Gary. «Ganz ehrlich.»
«Erzählen Sie mir doch mal, wie das mit Julie lief», sagte Vera. «Hat Sie jemand verkuppelt? Ein Freund vielleicht, der sie gesehen hat und sich dachte, sie könnte Ihr Typ sein? Hatte da jemand anders die Finger im Spiel?»
«Nein, überhaupt nicht. Wieso fragen Sie?»
«Wahrscheinlich ohne jeden Grund», sagte Vera. «Ich suche nur immer noch nach Verbindungen. Es könnte doch sein, dass jemand Sie beide zusammengebracht hat, um Informationen über Julie aus erster Hand zu bekommen. Aber Verschwörungstheorien waren noch nie meine Stärke.»
Da erzählte Gary trotz allem von seiner ersten Begegnung mit Julie. Er wollte Vera diese Geschichte erzählen, weil sie in seinen Augen das Zeug hatte, zur Familienlegende zu werden, die man irgendwann noch seinen Enkeln erzählte. Sie standen nebeneinander auf die Balkonbrüstung gestützt und schauten hinunter auf die Straße. «Wir sind uns zufällig begegnet. Wirklich reiner Zufall. Ich hatte sie schon vorher in einer anderen Bar gesehen. Oder besser gesagt, zuallererst habe ich sie gehört. Ihr Lachen. Sie hat so ein ganz bestimmtes Lachen, Sie wissen schon, richtig ansteckend. Und dann habe ich festgestellt, dass sie mir irgendwie bekannt vorkam. Ich hatte sie zwar seit der Grundschule nicht mehr gesehen, aber ich habe sie trotzdem wiedererkannt. Eigentlich unglaublich, nach so langer Zeit. Und dann wusste ich es plötzlich. Ich wusste, dass ich eigentlich genau das will. Mit einer Frau wie ihr zusammen sein, einer Frau, die so lachen kann. Eigentlich stand ich immer eher auf jüngere Frauen. Richtige Schönheiten, wissen Sie. Aber die haben sich nie gehalten. Wahrscheinlich gehört das auch zum Älterwerden, diese Gedanken, jemanden finden zu wollen, mit dem man dauerhaft zusammenbleibt. So wie die feste Stelle am Sage, obwohl ich mir immer geschworen habe, mein Leben lang selbständig zu bleiben.»
Vera hörte unbeteiligt zu. «Gut», sagte sie dann. «So hat Julie es mir auch erzählt. Sie hat sich allerdings auf die Fakten beschränkt und die rührseligen Passagen ausgelassen.»
«Sie hat Ihnen von mir erzählt?»
Vera antwortete nicht auf die Frage. «Haben Sie irgendwem gesagt, dass Sie sich an dem Abend mit ihr treffen wollten?»
Er konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. «Meinen Freunden natürlich. Ich hab’s nicht so mit Geheimnissen.»
«Dann waren diejenigen, die gewusst haben, dass Sie sich am letzten Mittwochabend mit Lukes Mutter treffen würden, also alle auch mit Ihnen zusammen, als Sie Lily Marshs Leiche gefunden haben?»
«Ich denke schon. Ich hatte mit Felicity über Julie gesprochen. Und am Montag hatten wir unser Treffen vom Vogelclub. Die Jungs waren alle da, und wir sind hinterher noch ein Bier trinken gegangen. Ich wollte, dass sie mir Ratschläge geben, welche Strategie ich fahren soll. Wahrscheinlich bin ich ihnen tierisch auf die Nerven gefallen.»
«Ich dachte, Männer reden untereinander nicht über solche Themen.»
«Tja. Was soll ich sagen? Ich bin eben nicht so der starke, schweigsame Typ.»
«Und die anderen? Werden die auch manchmal rührselig?»
«Wir stehen uns eben sehr nahe», erwiderte Gary mit plötzlichem Ernst. «Da ist ja wohl nichts Falsches dran.»
«Ich sollte langsam gehen», sagte Vera, rührte sich aber nicht vom Fleck. Er merkte, dass ihr der Blick vom Balkon gefiel.
«Hat Julie Ihnen erzählt, warum Luke krank geworden ist?», fragte sie.
«Ein Freund von ihm ist wohl ertrunken …»
«Gleich da unten», sagte Vera. «Ganz in der Nähe vom Fish Quay. Haben Sie irgendwas davon mitbekommen?»
Er schüttelte den Kopf.
Als sie zurück ins Zimmer gingen, blieb Vera vor dem Schreibtisch stehen und deutete mit dem Kopf auf das Foto von Emily. «Wer ist das denn?»
Gary spürte, wie er rot wurde, er konnte gar nichts dagegen tun. Sie hatte wohl einen sechsten Sinn, weil sie so zielsicher auf das Foto zugegangen war. «Eine alte Freundin.»
Sie blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete das Foto. «Merkwürdiges Mädchen», murmelte sie wie zu sich selbst. «Ganz hübsch, wenn man auf den magersüchtigen Typ steht.»
Sie war schon halb aus der Tür, als Gary sie noch einmal zurückrief. «Was soll ich denn jetzt mit Julie machen? Soll ich sie anrufen?»
Vera hielt kaum eine Sekunde inne. «Das müssen Sie schon selbst entscheiden, Herzchen.»