Vera hatte Julie in die Obhut eines psychologischen Betreuers der Polizei gegeben und ihn angewiesen, die verängstigte Mutter auf keinen Fall nach Hause zu lassen, sie zu einer Freundin oder zu ihren Eltern zu bringen – ganz gleich wohin, nur nicht zurück ins Dorf, wo schon bald ein Team von Spezialisten jeden Millimeter des Weges von den Schrebergärten bis zur Hauptstraße absuchen würde. Jetzt war sie zurück auf dem Revier. Sie hatte ihre Leute zusammengetrommelt, ihre drei engsten Mitarbeiter, die sie vom Schreibtisch aus mit lauter Stimme in ihr Büro zitierte. Charlie telefonierte noch mit dem Beamten, der die Haustürbefragung in Seaton leitete. Joe Ashworth war gerade von der Schule zurück; er wirkte mitgenommen und etwas aufgelöst. Vera vermutete, dass er an seine eigene Tochter dachte. Würde er es wagen, Katie allein in die Stadt zur Schule fahren zu lassen, wenn sie einmal vierzehn war?
«Laura war eindeutig nicht im Bus», berichtete er. «Die anderen Mädchen haben sich aber nicht viel dabei gedacht. Sie haben vermutet, dass sie einfach mal wieder einen Tag Ruhe braucht, nach allem, was mit Luke passiert ist.» Er schwieg kurz. «Ich hatte den Eindruck, dass sie gar nicht viele enge Freunde hat. Sie waren erschrocken, als sie hörten, dass Laura vermisst wird, fanden es irgendwie auch aufregend. Aber es schien niemandem sonderlich nahe zu gehen. Die Lehrer haben mir erzählt, sie hätte sich eher von ihren Mitschülern abgesondert. Ein Mädchen meinte, sie hätte immer ziemlich reserviert gewirkt.»
Natürlich ist sie reserviert, dachte Vera. Sie muss sich ja auch schon seit ihrer Kindheit damit auseinandersetzen, dass alle sie wegen Luke hänseln. Und einen Augenblick lang fragte sie sich, ob alles nicht doch viel einfacher war als vermutet. Vielleicht hatte doch Laura ihren Bruder umgebracht. Aus Rache. Weil er Tom Sharp nicht gerettet hatte, als er in den Tyne gefallen war. Weil er immer alle Aufmerksamkeit abbekam und ihr das Leben zur Hölle machte, weil er nie Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nahm. Und nun war sie ausgerissen. Vielleicht war Lilys Tod ja nichts weiter als ein schrecklicher Zufall. Nun sei nicht albern, dachte sie sich. Natürlich gab es eine Verbindung zwischen den beiden Morden. Und schließlich hatte sie ja auch immer noch den einen offensichtlichen Verdächtigen im Hinterkopf.
Holly brachte Kaffee herein: vier Becher auf einem Tablett, einen Stapel Kondensmilchdöschen auf einer angestoßenen Untertasse. Es war das erste Mal, dass sie von sich aus Kaffee holte, ohne erst nachdrücklich dazu aufgefordert zu werden.
Charlie hatte sein Telefonat beendet und kam jetzt ebenfalls herein. «Nichts», sagte er. «Zumindest bisher nicht. Einige der Anwohner sind natürlich schon bei der Arbeit. Ich habe den Leuten vor Ort gesagt, sie sollen sich die Telefonnummern besorgen und sie im Büro anrufen, für den Fall, dass doch jemand Laura gesehen hat.»
Unter anderen Umständen hätte Vera sich wahrscheinlich gefreut, dass ihr Team endlich einmal Einsatz zeigte, gut zusammenarbeitete, ein bisschen Grips bewies.
«Ich habe den Bericht des Untersuchungsrichters über den Tod von Parrs Frau», fuhr Charlie fort. «Es war eindeutig Selbstmord. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die Unterlagen liegen auf Ihrem Schreibtisch.»
Vera nickte zum Dank.
«Wir müssen uns jetzt wieder auf die Familie Armstrong konzentrieren», sagte sie. «Vielleicht war die ganze Geschichte mit Peter Calvert ja nur ein Ablenkungsmanöver. Womöglich war Lily Marsh gar kein geplantes Opfer. Sie kann etwas gesehen haben, dem Mörder in die Quere gekommen sein. Wissen wir schon genauer, wo sie an dem Abend war, als Luke Armstrong ermordet wurde?»
«Ihre Mitbewohnerinnen waren an dem Abend unterwegs. Irgendeine Ballettaufführung in London. Ganz edel. Sie haben bei Freunden in Richmond übernachtet und konnten deshalb nicht sagen, ob Lily an dem Abend zu Hause war oder nicht.» Holly kannte Lilys Mitbewohnerinnen inzwischen offenbar ganz gut.
«Was hätte Lily Marsh denn in Seaton gewollt? Ein ehemaliges Bergbaudorf an der Küste. Das ist doch nun wirklich nicht ihr Milieu, bei den Klamotten, die sie trug. Sie müsste dort aufgefallen sein wie ein bunter Hund. Aber keiner hat sie gesehen. Ich habe die Haustürbefragungen selbst durchgeführt.» Charlie war als Streifenbeamter in der Gegend im Einsatz gewesen und hatte immer noch Freunde bei der dortigen Kommunalpolizei. «Angeblich sollen gar keine Ortsfremden gesichtet worden sein.»
Einen Moment lang schwiegen alle und versuchten vergeblich, sich vorzustellen, wie Lily in Seide gehüllt und mit Schmuck behängt die Straße entlangging, wo die Kinder Seilchen sprangen und die Mütter auf den Stufen vor dem Haus saßen und auf sie aufpassten. «Und wo ist Lauras Leiche?», fragte Charlie. Die Frage hatte bisher keiner aussprechen wollen.
«Wir können nicht sagen, ob das Mädchen bereits tot ist.» Vera polterte nicht los, sie sprach mit ruhiger Stimme. Es war nicht der passende Zeitpunkt, die Nerven zu verlieren, außerdem meinte sie das ganz ernst. Vielleicht wünschte sie sich auch nur, dass Laura noch lebte. Julies wegen und um ihrer selbst willen. Sie war nicht daran gewöhnt, zu scheitern und einen weiteren Mord zugelassen zu haben, den Mord an einem jungen Mädchen zumal, das nie die Möglichkeit bekommen hatte, ihr Glück zu finden – das war die größte Niederlage, die Vera sich vorstellen konnte.
«Die anderen Opfer hat der Täter auch sofort umgebracht», gab Joe zu bedenken. «Zumindest nach allem, was wir wissen. Den Jungen auf jeden Fall.»
«Diesmal könnte es anders sein.» Vera wusste, wie irrational dieser Gedanke war, der sich da bei ihr festgesetzt hatte, als sie mit Julie den Pfad zur Hauptstraße abging: dass der Mörder inzwischen Spaß an der Sache gefunden hatte, Spaß am Spiel, an der Inszenierung. Und dass dieser Spaß für ihn womöglich andauern würde, wenn er sein Opfer länger am Leben ließ.
Charlie war klug genug, ihr nicht zu widersprechen. «Falls es also eine Leiche gibt, wo könnte sie sein?»
«Im Wasser», sagte Holly.
«Wo sollen wir dann also nach ihr suchen? Ein Badezimmer hat schließlich jedes Haus in Tyne and Wear.»
«Nein», sagte Vera. «Eine Badewanne wird es sicher kein zweites Mal sein. Laura ist eine attraktive junge Frau. Zwar nicht so schön wie Lily, aber sie hat große Augen und Wangenknochen zum Dahinschmelzen.» Sie erschrak ein wenig über diesen Satz, doch als sonst niemand darauf reagierte, fuhr sie fort: «Eine auffallende, fast exotische Erscheinung. Er wird sie als Kunstwerk inszenieren wollen. An einem spektakuläreren Ort.»
«Dann muss er sie also noch bei sich haben», sagte Joe. «Tot oder lebendig. Er wird es kaum riskieren wollen, die Leiche am helllichten Tag in Szene zu setzen. Zumindest diesmal nicht. Bei Lily hat das ja noch funktioniert, aber das wird er sicher kein zweites Mal versuchen.»
«Gab es eigentlich mal eine Rückmeldung vom Wasserwerk?», wollte Vera wissen. «Hieß es nicht, da hätten Arbeiten am Abflussbecken in der Nähe des Leuchtturms stattgefunden, an dem Nachmittag, als Lily getötet wurde? Hat jemand mit denen gesprochen?»
«Das Abflussbecken ist schon seit fünf Jahren nicht mehr in Gebrauch», sagte Joe. «Irgendeine europäische Abwasserverordnung, um die Strände sauber zu halten. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, meinte, die Arbeiter hätten vermutlich nur dort angehalten, um Pause zu machen.»
«Dann sprechen Sie eben nochmal mit ihm. Lassen Sie sich die Namen sämtlicher Arbeiter geben, die an dem Tag in der Gegend unterwegs waren. Bessere Zeugen haben wir schließlich nicht.»
Einen Augenblick lang schwiegen alle, dann erhob sich Vera abrupt und baute sich vor ihren Leuten auf. «Ich will Ideen», erklärte sie. «Ideen jeder Art, egal, wie verrückt. Wir müssen suchen, Orte überwachen. Seid kreativ.»
«Der Tyne. Da ist Tom Sharp ums Leben gekommen. Und dort waren auch Blumen im Wasser. Da hat alles angefangen.» Wieder Charlie. So munter hatte Vera ihn überhaupt noch nie erlebt.
«Na, das wird aber ein ganz schöner Überwachungsaufwand, den gesamten Tyne im Auge zu behalten.» Joe schaute in die Runde. Er wollte nicht ungerecht sein, fand aber, dass weitere Einschränkungen nötig waren. Joe war eben praktisch veranlagt.
«Aber recht hat er schon», sagte Vera. «Da hat alles angefangen.» Sie fragte sich, ob sie wohl einen weiteren Besuch in der Haftanstalt Acklington rechtfertigen konnte, um mit Davy zu reden, der inzwischen vielleicht ja Informationen für sie hatte, beschloss dann aber, dass das warten musste. Falls ihre schlimmsten Befürchtungen doch eintrafen, wollte sie in Julies Nähe bleiben.
«Also, wo genau?» Charlie hockte vorgebeugt auf der Kante ihres Schreibtischs. Der Fall schien auch ihm an die Nieren zu gehen. Vera überlegte, ob er vielleicht selbst eine Tochter hatte, und stellte fest, dass sie ihn nie danach gefragt hatte. Sie redete nicht gern mit anderen Leuten über deren Kinder. Es überkam sie dann oft so ein hohles Neidgefühl. «Am Fish Quay in North Shields, wo Tom Sharp seinen Unfall hatte? Da gibt es doch diese kleine Bucht, wo die Boote festgemacht werden.»
«Aber da ist immer bis zum frühen Morgen Betrieb. Die ganzen Bars und Restaurants. Und die Leute, die in den schicken neuen Wohnblocks wohnen.»
«Wenn ihm das gelänge, wäre das allerdings ein Statement», bemerkte Vera.
«Muss es eigentlich unbedingt ein ‹Er› sein?» Das kam von Holly. Sie wirkte von allen am wenigsten beteiligt. Sie ist noch zu jung, dachte Vera, um ihre Sterblichkeit zu fühlen. Und so mit sich selbst beschäftigt, dass die Tragödien fremder Leute sie nicht anfechten.
«Rein körperlich wäre durchaus auch eine Frau in der Lage, die beiden zu erdrosseln. Aber Lily über die Felsen bis zum Tümpel zu tragen, das ist schon wieder etwas anderes. An wen dachten Sie denn?»
«Kath Armstrong», sagte Holly. «Sie ist die Einzige, die alle drei Opfer kannte. Und außerdem ist sie Krankenschwester. Da lernt man doch, Patienten zu heben.»
Die Einzige ist sie nicht. Es gibt da noch jemanden.
«Und was wäre ihr Motiv?» Im Geiste versuchte Vera bereits, selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden. Vielleicht hatte es etwas mit der Bilderbuchfamilie zu tun. Lily, Luke und Laura waren alle drei in die kleine Familie in dem hübschen Haus in Wallsend eingedrungen. Waren die Morde am Ende Kaths krankhafter Versuch, ihre kleine Tochter zu beschützen?
Sie rief sich den Tyne in North Shields am späten Abend vor Augen. Die Schatten der Häuser auf dem Wasser, die Hafenmeisterei, der verlassene Fischmarkt, die Lichter am südlichen Ufer. Rund um den Kai wirkte das Wasser dunkel und ölig. Vera stellte sich die schattenhafte Gestalt eines Mädchens vor, ein bloßer Umriss über den Lichtern, die sich im Wasser spiegelten. Aber eine Leiche trieb doch nicht auf der Wasseroberfläche. Zumindest anfangs nicht. Vielleicht würde der Mörder sie ja auf irgendetwas befestigen. Auf einer Palette vielleicht? Einem Fischerkorb? Oder auf einem kleinen Boot? Und dann würde er sie mit Blumen bestreuen. Was für ein Anblick! Vera versuchte, den Kopf wieder frei zu bekommen, ob ihr nicht mögliche andere Inszenierungen, andere Schauplätze einfielen.
«Gut. Gibt es noch andere Ideen?»
«Was ist mit dem See in Seaton?», fragte Joe. «Der ist recht nah an der Stelle, wo das Mädchen vermutlich entführt wurde, und wenn mich nicht alles täuscht, gibt es dort auch einen Unterstand. Die Vogelkundler kennen sich da sicher aus.»
«Da haben die Kollegen vor Ort schon nachgeschaut», sagte Charlie. «Sogar als Erstes, weil es eben so nah dran ist und weil sie wussten, dass die Kinder aus dem Dorf sich immer dort verstecken, wenn sie die Schule schwänzen. Aber bis auf einen Haufen leerer Bierdosen und ein paar Graffiti haben sie nichts gefunden.»
Doch Vera dachte sich, dass dem Mörder durchaus eine Umgebung wie der See in Seaton vorschweben konnte. Der See war ursprünglich durch Bodensenkungen im Zusammenhang mit dem Bergbau entstanden, auch wenn inzwischen nichts mehr von den Industrieanlagen zu sehen war. Er lag genau zwischen dem Weg, den Laura zur Bushaltestelle genommen hatte, und dem Meer.
Als Kind hatte Vera einmal einige Zeit mit Hector in dem dortigen Unterstand verbracht. Mit Sicherheit hatte es einen Grund für diesen seltenen Ausflug ins Flachland gegeben, und sie war für einen Moment beunruhigt, weil ihr dieser Grund nicht mehr einfiel. Dann wusste sie es wieder. Das Amerikanische Blesshuhn. Sie hatten über eine Stunde lang darauf gewartet, dass es endlich aus dem Schilf hervorkam. Es war ein kalter, sonniger Tag gewesen, der See an den Rändern zugefroren. Vera hatte sich zu Tode gelangweilt, und Hector war wie immer höchst unfreundlich zu den anderen Vogelbeobachtern. Schließlich hatten auf dem Pfad, der am Westufer des Sees entlangführte, ein paar Spaziergänger den Vogel aufgescheucht. Die Leute aus dem Dorf führten dort gern ihre Hunde aus. Tagsüber, dachte Vera, war es mit Sicherheit riskant, dort eine Leiche zu platzieren. Doch ein gewisses Risiko schien den Mörder ja nicht zu stören. Es war ihm offenbar egal, dass man ihn erwischen könnte. Und am späteren Abend bestand dann ja auch nicht die geringste Gefahr.
«Läuft die Suche am Pfad noch?»
«Die sind da sicher noch den ganzen Tag beschäftigt.»
«Aber abends nicht mehr. Sobald es dunkel wird.»
«Nein», sagte Charlie. «Dann werden sie abbrechen.»
«Ich will, dass jemand die ganze Nacht dort postiert wird», sagte Vera. «Und zwar von dem Moment an, wenn der Suchtrupp seine Zelte abbricht und die Natur-Freaks alle nach Hause gehen. Heimlich und unauffällig.» Sie hatte den flüchtigen Gedanken, was das wieder an Überstundenzulagen kosten würde, doch das war ihr im Augenblick herzlich egal.
«Halten Sie es für möglich, dass er vielleicht zum Leuchtturm zurückkehrt?», fragte Holly.
«Oder an den Mühlbach in Fox Mill», spann Joe den Gedanken weiter. «Falls das Gartenhaus doch irgendeine Rolle spielt. Wenn Lily dorthin zurückgekehrt ist, um jemanden zu treffen, und dabei den Ring verloren hat, den Calvert ihr geschenkt hatte, hat dieser Ort für den Mörder vielleicht eine Bedeutung. Es ist natürlich ein gewisses Risiko, weil das Haus ja bewohnt ist …»
Aber das ist ihm egal, dachte Vera erneut. Das Risiko gehört zum Spiel dazu, es ist Teil der Inszenierung. Er hat gemerkt, dass er gerne Publikum hat.
Alle warteten darauf, dass sie eine Entscheidung traf, und für einen Moment war es völlig still, wie das in Gebäuden mit viel Betrieb manchmal vorkommt. Draußen auf der Straße brüllte ein Baby, und eine Mutter versuchte, es wieder zu beruhigen.
«Drei Überwachungsteams», sagte Vera. «Eines am Fish Quay. Da reden Sie am besten mit dem Hafenmeister. Eines am See in Seaton, am besten irgendwo beim Unterstand. Und eines im Haus in Fox Mill. Die Calverts können uns ruhig ihr Haus zur Verfügung stellen, das ist ja wohl das Mindeste, nachdem sie uns so lange an der Nase herumgeführt haben. Dass er noch einmal zum Leuchtturm zurückkehrt, halte ich ehrlich gesagt für unwahrscheinlich. Da sind auch die Gezeiten zu unberechenbar. Aber das gilt natürlich erst für heute Abend. Einstweilen will ich, dass jedes kleinste Detail überprüft wird. Fangen Sie nochmal ganz von vorne an. Wenn es erst Abend ist, ist es vermutlich sowieso schon zu spät. Dann wird das Mädchen tot sein.»