KAPITEL ZEHN

James spielte für sein Leben gern Schach. Clive, einer von Peters Freunden, hatte es ihm beigebracht, und seither war der Kleine hellauf begeistert davon, vielleicht, weil er es für eine echte Erwachsenenbeschäftigung hielt. Da kam er sich gleich selbst viel erwachsener vor. Peter brachte selten die Geduld auf, mit ihm zu spielen, doch Felicity besiegte er inzwischen fast jedes Mal. Sie wartete draußen vor der Schule auf ihn und schaute dabei hin und wieder auf die Uhr. Sie hatte ihm eingeschärft, pünktlich zu sein, weil sie noch das Geburtstagsessen vorbereiten musste, und trotzdem kam er als Letzter über den Schulhof gebummelt. Eigentlich sollte ich doch froh sein, dachte sie, dass er so unbeschwert ist.

Auf der Heimfahrt erzählte er ununterbrochen von der Partie, die er gerade gespielt hatte, und Felicity musste ihm schließlich ins Wort fallen, um ihn nach der Referendarin zu fragen, die sich das Gartenhaus angeschaut hatte.

«Hat Miss Marsh etwas gesagt, ob sie dort einziehen will?», fragte sie ihn, als sie in die Zufahrtsstraße zum Haus einbogen.

«Nein», antwortete James zerstreut, und sie merkte ihm an, dass er immer noch an andere Dinge dachte. «Ich habe sie heute gar nicht gesehen.»

Felicity nahm an, dass die ganze Sache damit vom Tisch sein würde. Schade im Grunde. Es wäre sicher nett gewesen, die junge Frau ein paar Wochen lang als Nachbarin zu haben, bis das Schuljahr zu Ende war. Dann musste sie fast bis in die Hecke ausweichen, weil ein Landrover aus der Straße herausgefahren kam, und dachte nicht weiter daran.

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Peter an diesem Abend früher von der Arbeit kommen würde, doch dann kam er sogar noch später als sonst. Felicity hatte bereits einen ersten Anflug von Sorge verspürt. Auf der Straße aus der Stadt hierher passierten ausgesprochen viele Unfälle. Bevor sie anfangen konnte, sich ernsthaft Sorgen zu machen, kam er dann aber doch, und sie begrüßte ihn vor Erleichterung ungewohnt liebevoll. Sie umarmte ihn, küsste ihn auf Hals und Augenlider und begleitete ihn dann nach oben, um sich zu ihm zu setzen, während er sich umzog. Kurze Zeit später hörten sie die Autos in der Einfahrt, Felicity musste nach unten eilen, um die Gäste zu begrüßen, und gleich darauf ertönten in der Diele Männerstimmen und Gelächter. Felicity war froh, dass Peter Freunde hatte. Von seinen Universitätskollegen traf er niemanden privat. Und sie hatte die drei Jungs immer schon gemocht: den zuvorkommenden Samuel, den schüchternen Clive und Gary, den kleinen Schwerenöter. Sie mochte ihre durchtrainierten Körper, gestählt vom vielen Wandern in den Bergen, und sie mochte die Bewunderung, die sie ihr entgegenbrachten. Sie wusste, dass alle drei Peter um sie beneideten. Vor allem Clive lag ihr regelrecht zu Füßen, und sie fühlte sich geschmeichelt, wenn sein Blick ihr durch den Raum folgte. Es gefiel ihr auch, dass er rot wurde, wenn sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte. Trotz allem aber fühlte sie sich immer ein wenig ausgeschlossen, wenn die vier zusammen waren. Sie hatten nichts weiter gemeinsam als ihr naturkundliches Interesse, doch das war für jeden von ihnen eine alles verzehrende Leidenschaft, die Felicity nicht teilen konnte.

Sie waren ausgesucht höflich zu ihr. Samuel hatte ihr das Manuskript seiner neuesten Kurzgeschichte mitgebracht. «Ich dachte, es interessiert dich vielleicht. Du weißt ja, wie sehr ich deine Meinung schätze.» Felicity küsste alle drei nacheinander und genoss es, ihre Hand für einen kurzen Moment auf einer muskulösen Schulter, einem durchtrainierten Rücken ruhen zu lassen. Als sie Samuels trockene Lippen an der Wange spürte, durchfuhr sie ein Schauer der Erregung.

«Geht doch schon mal in den Garten», sagte sie. «Ich mache euch einen Tee.»

Doch Peter, der einen recht aufgekratzten Eindruck machte, erklärte, seine Freunde wollten von Tee nichts wissen, sie wollten Bier, und so kamen sie alle mit in die Küche, um sich eines zu holen, und standen ihr bei ihren Abendessensvorbereitungen im Weg herum. Peter genoss sichtlich jede Sekunde. Bei Samuel war Felicity sich nicht ganz sicher – sie konnte mitunter nicht einschätzen, was er dachte. Doch die anderen beiden waren mit Sicherheit ergebene Peter-Jünger. Sie hielten ihn für den klügsten Menschen, den sie kannten, und waren überzeugt, dass er einzig und allein aus politischen Gründen bei der Arbeit übergangen worden war und die Seltenheitskommission seine Aufzeichnungen nur deshalb ständig abwies, weil man ihm dort seine Fähigkeiten neidete. An einem Abend wie diesem hatten sie die Möglichkeit, ihm zu zeigen, dass sie ihn schätzten und ihm treu ergeben waren. Und Peter blühte regelrecht auf, wenn er so bewundert wurde, er zeigte sich charmant und großzügig. Er schenkte ihnen Bier nach und hielt Hof.

Felicity beschloss, sie zum Leuchtturm vorauszuschicken. Sie fühlte sich bedrängt von ihnen und hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. «Geht doch schon mal vor», sagte sie. «Ich decke noch schnell den Tisch, dann komme ich nach.» Normalerweise hatte sie keine Probleme mit dieser geballten Ladung Männer und genoss es, sie im Haus zu haben, doch heute war ihr das alles ein bisschen zu viel.

Samuel bot an, ihr zu helfen, doch selbst das lehnte sie ab und trat stattdessen in die Küchentür, um ihnen hinterherzuwinken, als sie lachend in ungeordnetem Gänsemarsch loszogen, während James wie ein wildgewordener Welpe um sie herumflitzte. Sie sah ihnen nach, bis sie über das Gatter geklettert und außer Sichtweite waren und sie sicher sein konnte, sie auch wirklich los zu sein.

Sie ließ sich Zeit damit, den Tisch auf der Terrasse zu decken, polierte jedes einzelne Glas, das sie vom Tablett nahm, noch einmal mit einem Geschirrtuch, obwohl sie gerade frisch aus der Spülmaschine kamen und das eigentlich gar nicht nötig war. Die Sonne wärmte immer noch, doch das Licht wirkte sanfter. Felicity schenkte sich aus der Flasche im Weinkühler ein großes Glas Weißwein ein, setzte sich an den langen Tisch und schaute in den Garten hinaus.

Schließlich fühlte sie sich stark genug, sich zu den anderen zu gesellen. Sie hatte es ihnen ja versprochen. Allerdings würde sie nicht den Weg über das Gatter und am Rand des Kornfelds entlang nehmen. Nachdem sie James von der Schule abgeholt hatte, hatte sie sich umgezogen und trug jetzt ein schlichtes Leinenkleid, ärmellos und knöchellang. Es war an den Seiten geschlitzt, sodass sie gut darin gehen, nicht aber elegant über Zäune klettern konnte. Sie würde den Weg über die Wiese nehmen, am Ufer des Mühlbachs entlang. Das dauerte zwar ein wenig länger, aber sie würden ohnehin nicht gleich wieder umkehren, sobald sie am Leuchtturm waren. James würde in den kleinen Tümpeln zwischen den Steinen nach Krabben suchen wollen, und die Männer würden ihn lassen und sich ein wenig in die Abendsonne setzen und reden. Wenn Felicity dort ankam, würden sie wahrscheinlich gerade erst anfangen, an die Rückkehr zu denken.

Sie war schon fast an der Wiese, drehte dann aber noch einmal um, weil sie nicht sicher war, ob sie auch wirklich abgeschlossen hatte. Hinter dem Gartenhaus fiel das Feld zum Bach hin steil ab. Im Winter war es hier oft matschig, gelegentlich trat der Bach auch über die Ufer. Auf der anderen Seite führte ein offizieller Wanderweg entlang, den man über eine schlichte Holzbrücke erreichte. Als Felicity am Gartenhaus vorbeikam, überprüfte sie das Vorhängeschloss. Ganz überzeugt war sie immer noch nicht, dass sie sich den Eindringling vom Nachmittag nur eingebildet hatte. Doch das Schloss war zu. Das hätte ihr als weiteres Argument dienen können, um Peter zu überreden, das Gartenhaus an Lily Marsh zu vermieten: Wenn das Häuschen wieder bewohnt war, konnte das potenzielle Einbrecher abhalten. Am Bach war das Gras nicht mehr so hoch und wuchs in unregelmäßigen Büscheln. Eigentlich sah es aus, als wäre es mit der Sense bearbeitet worden, doch Felicity konnte sich nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Auf der Brücke blieb sie einen Augenblick stehen und blickte ins Wasser hinunter. Sie hatte gehört, dass wieder Fischotter in der Gegend gesichtet worden seien, und obwohl sie gar nicht genau gewusst hätte, wonach sie Ausschau halten musste, blieb sie doch häufig an dieser Stelle stehen in der Hoffnung, einen zu entdecken.

Der Bach führte hier noch Süßwasser und floss ganz friedlich dahin. Auf dem Feld standen Kühe, die nach dem abendlichen Melken ihre Freiheit genossen. Sie hatten das Bachufer zertrampelt, und Felicity musste an einigen Stellen den Weg verlassen, um nicht in den Matsch zu treten. Hinter einem kleinen, schmiedeeisernen Tor mit einem Schnappschloss war die Landschaft ganz anders. Wilde Kaninchen hielten das Gras kurz, überall wuchsen stachlige Sanddorn- und Brombeerbüsche. Das Bachbett wurde sandiger, der Bach selbst war flacher und breiter und roch mit einem Mal nach Salz. Direkt vor Felicity erhob sich der Leuchtturm, und obwohl sie die anderen noch nicht sehen konnte, glaubte sie doch, sie zu hören, ein prustendes Lachen, das von Gary stammen konnte, ein lautes Rufen von James. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb neun bereits. Sonst aß Peter nicht gern so spät, doch heute würde ihn das nicht weiter stören. Felicity war sich sicher, dass er den Abend genoss.

Schließlich fand sie sie alle auf dem Ausguck, der auf der dem Meer zugewandten Seite des Leuchtturms stand. Früher war das einmal ein Beobachtungsposten der Küstenwache gewesen, doch inzwischen hatten die Vogelkundler ihn gekapert, um Seevögel zu beobachten. Da saßen sie jetzt in einer Reihe auf der Bank und schauten auf die Bucht hinaus. Der Ausguck zog sie magisch an, obwohl es gar nicht die richtige Jahreszeit war, um Seevögel zu beobachten. Andere Männer entspannten sich im Pub, doch diese vier fühlten sich hier am wohlsten. Als Felicity die Holzstufen erklimmen wollte, drangen von oben Gesprächsfetzen herunter, und sie blieb stehen, ohne sich bemerkbar zu machen, und hörte zu.

«Wieso kann man eigentlich so lange aufs Meer schauen?», fragte Gary. «Es gibt doch eigentlich nichts Entspannenderes, oder? Das ist wie Zen oder so was.»

Felicity musste lächeln. Was wusste Gary denn schon von Zen? Er kannte sich mit Mischanlagen aus, mit Rockmusik und Akustik. Aber doch nicht mit Zen.

Eine Zeit lang gab ihm niemand eine Antwort. Clive hatte sich vorgebeugt und schien ganz auf den Horizont konzentriert. Er hatte sein altes Fernglas dabei, das er mit etwa zwölf von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Dabei war er für seine scharfen Augen berühmt.

Schließlich ergriff Peter das Wort. Er klang so besserwisserisch, als spräche er vor seinen Studenten, und schien jedes Wort abzuwägen.

«Es geht um Möglichkeiten, meinst du nicht? Um Chancen und Möglichkeiten. Um die Willkürlichkeit des Universums. Wir können hier vier Stunden lang sitzen und allenfalls ein paar Schwarzschnabelsturmtaucher zu sehen bekommen. Aber dann dreht der Wind, die Wetterfront verschiebt sich, und plötzlich sind mehr Vögel da, als wir zählen können.»

Clive lehnte sich wieder zurück und ließ das Fernglas sinken. Felicity rechnete damit, dass er gleich etwas Tiefgründiges sagen würde. Das tat er manchmal. Diesmal aber vermeldete er nur, Richtung Norden zwei Papageitaucher gesehen zu haben, und schaute dann wieder aufs Meer hinaus.

Felicity kletterte in den Ausguck hinauf. James sprang von der Bank, kam auf sie zu und schnitt dabei eine Grimasse. Sie merkte, dass er unruhig war und sich langweilte.

«Gehen wir dann jetzt nach Hause?»

«Schau doch noch ein bisschen zu den Tümpeln zwischen den Steinen. Aber nicht zu weit weg, verstanden?»

Samuel war ebenfalls aufgestanden. «Vielleicht sollten wir uns doch langsam auf den Rückweg machen? Es ist sicher längst Essenszeit.»

Felicity lächelte ihn an. Er war immer so rücksichtsvoll. «Es ist ein schöner Abend, und außerdem hat Peter Geburtstag. Genießen wir es hier doch noch ein Weilchen.»

Als sie James schreien hörte, war ihr erster Gedanke, dass Peter sich über dieses Theater ärgern könnte. Das wollte sie keinesfalls riskieren, wo er gerade in einer so aufgeräumten Stimmung war. James dramatisierte gern. Wahrscheinlich hatte er nur eine lebende Krabbe gefunden oder eine Qualle, die von der Flut auf die Felsen gespült worden war.

«Keine Sorge», sagte sie. «Ich kümmere mich schon um ihn. Vielleicht sollten wir dann doch langsam aufbrechen.»

Doch das Schreien nahm kein Ende, und Felicity spürte, wie sie in Panik geriet, sich einen fürchterlichen Unfall ausmalte. Womöglich war er ausgerutscht und hatte sich an einem scharfen Felsen verletzt oder sich etwas gebrochen. Zunächst sah sie ihn auch gar nicht, hörte nur sein Geschrei. Ihr Sohn schien sich in Luft aufgelöst zu haben, was ihre Panik nur noch vergrößerte. Sie kletterte über die Steine, rutschte aus und spürte, wie der Saum ihres Kleides riss. Schließlich entdeckte sie ihn, schaute von oben auf ihn herab. Er stand in einer tiefen Senke, in deren Mitte sich ein flacher Tümpel gebildet hatte. Erst sah Felicity nur die Blumen. Sie trieben auf der Wasseroberfläche, gleich am Rand des Tümpels, dort, wo auch ihr Sohn wie festgefroren stand, mit weit aufgerissenem Mund. Sie sah Mohn- und Butterblumen, Margeriten und rosa Kleeblüten. Jemand musste ins Wasser gewatet sein, um sie dann vorsichtig auf der Oberfläche zu verteilen. Zumindest sah es für Felicity so aus. Es war völlig windstill. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Blüten bis dorthin an den Rand getrieben sein sollten, wenn man sie vom Ufer aus hineingeworfen hatte. Außerdem schienen sie einen unregelmäßigen Kreis zu bilden. Dann sah sie, mittendrin, den blauen Stoff eines Rockes, das weizenblonde Haar. Das Wasser war so seicht, dass es den Körper kaum bedeckte, es spielte mit dem leichten Stoff und bewegte sanft das Haar. Doch die Senke insgesamt war recht tief, die ganze Szene lag im Halbschatten. Es war, als würde man aus großer Entfernung ein Gemälde betrachten.

«James», rief Felicity. «Komm hier rauf. Komm her zu mir, Schatz.» Sie zweifelte daran, dass sie es bis zu ihm hinunter schaffen würde, und ihr war vor allem daran gelegen, dass er aufhörte zu schreien. Ihre Stimme schien den Bann zu brechen, der Junge drehte sich um und kraxelte zu ihr herauf. Sie schloss ihn in die Arme und starrte über seinen Kopf hinweg auf die Gestalt im Tümpel.

Hätte Lily das farbenfrohe Kleid vom Tag zuvor getragen, hätte Felicity sie möglicherweise gleich erkannt, doch so war sie überzeugt, eine Fremde vor sich zu haben. Wie erstarrt stand sie da, ihren Sohn fest im Arm. Sie wusste, dass es etliches gab, was jetzt zu tun war. Sie hatte schließlich genug melodramatische Filme im Fernsehen gesehen, Ärzte, die Herzmassagen vornahmen, Mund-zu-Mund-Beatmungen durchführten. Doch das überforderte sie völlig. Lauter dumme kleine Ausreden schossen ihr durch den Kopf. Wenn ich jetzt eine Jeans anhätte, würde ich es versuchen. Wenn ich nur vernünftige Schuhe anhätte.

Dann kamen die anderen hinzu. Und zeigten sich kaum handlungsfähiger als Felicity. Als sie die vier in die Senke hinunterstarren sah, überfiel sie der fürchterliche Drang loszulachen. Plötzlich löste James sich von ihr und sah sie an.

«Mum», fragte er, und seine Stimme klang fast wieder normal, höchstens ein wenig zittrig, als wäre er außer Atem. «Warum liegt Miss Marsh da im Tümpel?»

Da wurde auch Felicity klar, dass es Lily war.