KAPITEL ELF
Sie saßen an dem langen Tisch auf der Terrasse von Fox Mill. Es war bereits dunkel; für die Beleuchtung sorgten eine Lichterkette, die Felicity wohl schon früher am Tag außen am Haus befestigt hatte, und eine einzelne, dicke Kerze, die schon fast heruntergebrannt war. Gary fühlte sich reichlich eigenartig. Irgendwie wirkte das alles wie ein Bühnenbild auf ihn. Wie in der Oper. Der ganze Abend war schon so melodramatisch gewesen. Er konnte sich direkt vorstellen, dass jeden Moment eine dicke Frau nach draußen treten und mit ausgebreiteten Armen eine Arie in den dunklen Garten schmettern würde. Manchmal machte er die Technik bei einer Opernaufführung in der Stadthalle. Teilweise gefiel ihm das sogar ganz gut, aber es war doch alles dermaßen übertrieben, dass man es einfach nicht für real halten konnte.
Er hatte zu viel getrunken. In letzter Zeit hatte er versucht, den Alkohol etwas zu reduzieren, und es war auch längst nicht mehr so schlimm wie früher, nachdem Emily ihn verlassen hatte. Damals war er eigentlich nur nüchtern gewesen, wenn er Vögel beobachten ging. Aber heute gab es ja eine Entschuldigung. Peter hatte Geburtstag. Und sie waren in einen Mordfall verstrickt. Er sah die Tote noch vor sich, wie ein Seestern direkt unter der Wasseroberfläche, übersät mit Blumen. Der Anblick hatte ihn an eine Collage erinnert, wie man sie manchmal in der Baltic Art Gallery in Gateshead hängen sah. Zerschnittene Netze und Schnüre, Tang und Muschelschalen. Richtig schön, wenn einem so was gefiel. Er griff nach der Rotweinflasche, schenkte sich nach und war froh, dass seine Hand dabei nicht zitterte und er nichts verschüttete.
Felicity tischte das Essen auf, und es war genauso toll wie immer. Ein großer Topf Huhn, das nach Zitrone und Kräutern duftete. Gary wusste sonst niemanden, der so gut kochen konnte wie sie. Seit er Peter kannte, hatte er immer gedacht, dass er genau das auch wollte – nicht nur solches Essen natürlich, sondern eine solche Familie, eine solche Frau. So hatte er sich das vorgestellt, als er Emily den Antrag machte. Inzwischen fragte er sich, ob das alles nicht doch zu bilderbuchmäßig war, um echt zu sein. Als wären sie Teil einer Inszenierung. Die Calverts in ihrem glücklichen Heim. Vielleicht mache ich ja die Technik dabei, dachte er und stellte sich vor, wie er ein Mikro am Ausschnitt von Felicitys schlichtem schwarzem Kleid befestigte. Bestimmt war ihre Haut noch warm von der Sonne. Er wäre ihr nahe genug, um ihr Parfum riechen zu können und das Shampoo, das sie benutzte. Sie hatten alle schon solche Felicity-Phantasien gehabt, davon war Gary überzeugt, vor allem früher, als sie noch jünger war. Aber auch jetzt waren sie alle noch verknallt in sie. Manchmal ertappte er Clive dabei, wie er sie anstarrte, mit leicht offenem Mund. Er war sich nicht sicher, ob Clive überhaupt jemals mit einer Frau zusammen gewesen war. Ein paarmal hatte er ihm schon angeboten, mit ihm auszugehen, doch Clive hatte immer abgelehnt. Vielleicht war es ihm lieber, über Felicity zu phantasieren, als wirklich mit einer Frau zusammen zu sein.
Es war schon ziemlich spät fürs Abendessen, selbst für Garys Verhältnisse, und er war nun wirklich an seltsame Essenszeiten gewöhnt. Sie hatten beim Leuchtturm warten müssen, bis die Polizei kam, hatten erklären müssen, weshalb sie dort waren, und alle Name und Anschrift angeben müssen. Und dann noch der Weg zurück. James, Felicitys kleiner Sohn, der ihm gegenübersaß, schlief schon fast über seinem Teller ein. Irgendwann wurde er noch einmal wacher und wollte über die Tote reden.
«Was ist denn eigentlich mit ihr passiert?»
«Ich weiß es nicht», antwortete Felicity. «Wahrscheinlich ein schlimmer Unfall.»
Gary wusste, dass das nicht stimmte. Alle Erwachsenen wussten, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. Das war Mord, und zwar vorsätzlicher. Das bewiesen allein schon die Blumen.
«Wenn sie zu uns ins Gartenhaus gezogen wäre», sagte James in quengeligem Ton, «hätte sie mir immer mit den Hausaufgaben helfen können.»
Gary hatte keine Ahnung, worauf sich diese Bemerkung bezog, und war auch schon zu betrunken, um sich näher damit zu befassen. Felicity gelang es, James zum Schlafengehen zu überreden. Sie nahm ihn in die Arme, trug ihn halb ins Haus, und die Männer blieben allein zurück. Irgendwo in den hohen Eichen, die die Straße hinter ihnen säumten, rief ein Waldkauz. Vor den kleinen Lämpchen flatterten die dunklen Schatten von Fledermäusen. Bei anderen Gelegenheiten, anderen Geburtstagen hatte Gary diesen Moment immer am meisten genossen, wenn sie nach dem Essen zu viert zusammensaßen, so entspannt, wie es ihm sonst mit niemandem möglich war – manchmal schweigend, manchmal in Gespräche über frühere Großtaten vertieft oder Pläne für die Zukunft schmiedend. Gemeinsame Reisen ins Ausland, das ultimative Buch über die Vogelpopulation Northumberlands. Doch heute waren sie irgendwie befangen, als läge die tote junge Frau hier in ihrer Mitte auf dem Tisch und forderte, vor Meerwasser triefend, dass man sie nicht vergaß.
«Was hat James denn damit gemeint?», fragte Samuel. «Wollte die Tote etwa hier einziehen?»
«Nein!», beteuerte Peter. «Was weiß denn ich, was der Junge sich so alles einbildet?»
Danach verfielen sie wieder in unbehagliches Schweigen.
Schließlich kam Felicity zurück und räumte den Tisch ab. Sie brachte eine Käseplatte nach draußen und bot allen Kaffee an. Peter entkorkte eine weitere Flasche Wein, und Felicity nahm wieder ihren Platz neben ihm ein. Jetzt kam Samuel noch einmal auf die Tote zu sprechen. Er wollte wissen, woher James sie gekannt habe, doch diesmal richtete er die Frage an Felicity.
«Sie hieß Lily Marsh», antwortete Felicity. «Sie war Referendarin an James’ Schule.» Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von einer Stimme unterbrochen, die so laut war, dass alle zusammenzuckten. Gary spürte seinen Puls rasen. Er fragte sich, ob er wohl schon in dem Alter war, ab dem man als herzinfarktgefährdet galt, und nahm sich wieder einmal vor, in Zukunft weniger zu trinken. Er wollte schließlich nicht sterben. Vor allem nicht jetzt.
«Hallo? Jemand zu Hause?» Die Stimme klang tief und schroff, und Gary war sich nicht sicher, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Dann erschien eine Gestalt in der Fenstertür, die auf die Terrasse hinausführte. Eine Frau. Groß und massig zwar, aber sie trug eindeutig einen Rock. Sie hatte im Wohnzimmer Licht gemacht und hob sich nur als Umriss davor ab. «Sie sollten Ihre Haustür nicht so einfach offen stehen lassen», sagte sie in dem strengen Ton, mit dem eine Lehrerin zu ihren dummen Schülern spricht. «Auch nicht, wenn Sie zu Hause sind. Man weiß nie, wer so alles reinspaziert.»
Sie schienen alle noch unter Schock zu stehen und starrten sie einfach weiter an. Sie kam auf die Terrasse herunter, bis sie direkt vor dem Tisch stand. Die Kerze erhellte ihr Gesicht von unten. Sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach, und Gary dachte sich, dass hier wohl jemand einen Sinn fürs Dramatische hatte.
«Inspector Vera Stanhope von der Polizei Northumbria. Ich leite die Ermittlungen im Fall der jungen Frau, die Sie heute gefunden haben.» Sie zog sich den Stuhl heran, auf dem James gesessen hatte, und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Es war ein Regiestuhl mit Holzrahmen. Die Leinwandbespannung knarrte gefährlich. Gary sah genau hin und rechnete schon damit, den Stoff reißen zu hören. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Eine Frau wie sie war sicher immer auf solche peinlichen Situationen gefasst. Doch die Stuhlbespannung hielt, und Vera wandte sich gutgelaunt an Felicity. «Dann kannten Sie sie also? Die junge Tote, meine ich. Sagten Sie nicht gerade …»
Felicity zögerte zunächst mit der Antwort, schaute ein paarmal zu Peter hinüber. Gary wusste nicht recht, was das sollte. Dann wiederholte sie das, was sie vor Vera Stanhopes theatralischem Auftritt gesagt hatte.
«Sie hieß Lily Marsh. Sie war Referendarin an der Schule meines Sohnes, der Grundschule in Hepworth. Gestern kam sie zusammen mit ihm mit dem Schulbus hierher. Anscheinend hatte James ihr angeboten, sie könne bis zum Ende des Schuljahrs bei uns im Gartenhaus wohnen. Ohne uns vorher zu fragen, allerdings.»
«Das hast du mir gar nicht erzählt», sagte Peter.
«Es gab ja auch nichts zu erzählen. Sie hat sich das Häuschen angeschaut und ist wieder gegangen.»
«Dann haben Sie ihr also gesagt, sie könne dort einziehen?», fragte Vera Stanhope.
«Ich glaube, das hatten wir beide noch nicht endgültig entschieden. Ich wusste ja nicht einmal genau, ob ihr das Häuschen überhaupt gefiel. Sie sagte, sie wolle es sich noch überlegen.» Felicity sah Peter an, und Gary merkte, wie sie ihn innerlich anflehte, keinen Aufstand zu machen und ihr eine Standpauke zu halten. Gary war Peter von Herzen zugetan, aber manchmal konnte er tatsächlich sehr überheblich sein. «Wenn die junge Frau ernsthaftes Interesse geäußert hätte, hätte ich natürlich erst mit dir besprochen, ob wir das Gartenhaus an sie vermieten wollen. James schien sie sehr zu mögen.»
«Kannte sonst noch jemand von Ihnen diese Lily Marsh?» Die Polizistin schaute eindringlich in die Runde, und es gelang ihr, dass man sich schuldig fühlte, auch wenn man gar nichts getan hatte. «Sie war ja ein sehr hübsches Mädchen. So eine vergisst man sicher nicht so schnell.»
Allgemeines abwehrendes Gemurmel und Kopfschütteln.
«Erzählen Sie mir noch einmal, wie Sie die Leiche gefunden haben. Der Junge hat sie ja als Erster entdeckt, danach sind Sie dazugekommen. War sonst noch jemand in der Nähe?»
Clive hob die Hand. Wie ein Schuljunge, dachte Gary. Ein schüchterner, ängstlicher Schuljunge. «Auf der Grasfläche am Bach waren Leute. Ein Vater mit seinen zwei Söhnen, glaube ich. Sie haben Fußball gespielt.»
«Standen irgendwelche Autos am Leuchtturm geparkt?»
Wieder antwortete Clive. «Ein Kleinbus. So ein großer Renault. Hellbraun. An das Kennzeichen erinnere ich mich nicht, aber er war letztes Jahr registriert.»
«Woher wissen Sie das denn alles so genau?»
Clive ging sofort in die Defensive. «Ich merke mir eben Dinge. Details. Das kann ich einfach gut.»
«Was hatten Sie denn überhaupt bei dem Ausguck zu suchen? Für Seevögel ist es ja wohl nicht die richtige Jahreszeit, außerdem war Ebbe.»
«Was wissen Sie denn über Seevögel?» Gary war mit der Frage schon herausgeplatzt, bevor er sich zurückhalten konnte.
Sie sah ihn an und lachte. «Mein Vater war ein großer Vogelfreund, da kriegt man so einiges mit. Es geht einem in Fleisch und Blut über. Manchmal hat er mich auch an die Küste mitgenommen, aber die Berge waren ihm eigentlich viel lieber. Er hatte eine Schwäche für Raubvögel.» Sie schwieg einen Moment. «Ist es das, was Sie alle verbindet? Vögel beobachten?»
«Ja.» Gary fragte sich, ob sie wohl mehr über die Vogelkunde würde wissen wollen. Er für seinen Teil hatte sich immer für Vögel interessiert, seit er mit zehn Jahren ein altes Vogelkundebuch in der Schulbücherei entdeckt hatte. Seither waren die Vögel seine Obsession, es war fast wie ein Zwang. Mit der Musik war es ähnlich gewesen, obwohl sich das eigentlich nicht vergleichen ließ. Musik war gesellig, man teilte sie mit Freunden. Die Leidenschaft fürs Vogelbeobachten hielt er zunächst geheim. Anfangs sammelte er vor allem Vogeleier im Park. Dann hatte er in der Schule Clive Stringer kennengelernt. Bis auf die Vogelbegeisterung hatten sie praktisch nichts gemeinsam, und Gary konnte sich nicht einmal erinnern, durch welchen Zufall sie überhaupt ins Gespräch gekommen waren. Wahrscheinlich hatte er irgendeine Bemerkung gemacht und sein Interesse damit verraten. Normalerweise passte er damals besser auf, was er sagte. Er wollte schließlich nicht, dass die ganze Schule von seinem Hobby erfuhr. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Dass es noch jemanden gab, der sich so für die Natur begeisterte wie er, war eine Offenbarung gewesen. Von da an gingen Clive und er gemeinsam Vögel beobachten. Sie wählten Gebiete, die man mit dem Bus erreichen konnte. Den See in Seaton. St. Mary’s Island. Den Friedhof von Whitley Bay.
Und eines Tages, als sie im Unterstand von Seaton hockten und darauf warteten, einen Temminckstrandläufer zu sichten, entdeckten sie stattdessen Peter Calvert. Den berühmten Doktor Calvert, der Aufsätze in der Zeitschrift British Birds veröffentlichte und eine Zeit lang sogar Vorsitzender der Seltenheitskommission gewesen war. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte – nicht gerade die klassische Vogelbeobachtungs-Ausrüstung. Vielleicht hatte er ja ihre erstaunten Blicke bemerkt und geglaubt, seine Aufmachung erläutern zu müssen. Möglich, dass er deswegen ein Gespräch mit ihnen begonnen hatte. Er erzählte, er komme gerade von einer Beerdigung. Die Frau seines besten Freundes war gestorben. Die anderen Gäste waren alle noch geblieben, um etwas zu trinken, aber er hatte es nicht über sich gebracht. Zumindest jetzt noch nicht.
Dann schlug er den beiden Amateur-Vogelkundlern vor, dass sie ihm beim Beringen der Zugvögel helfen könnten. Er würde es ihnen beibringen. Ganz beiläufig sagte er das. Ihm schien gar nicht klar zu sein, was er ihnen damit für eine Freude machte. Es gebe noch einen zweiten Ausbilder, sagte er. Samuel Parr. Der werde sich sicher auch um sie kümmern. Jetzt, nachdem er seine Frau beerdigt hatte, könne Sam sicher etwas Ablenkung brauchen. Außerdem konnte die ganze Mannschaft in Deepden ein bisschen junges Blut gut vertragen. Von da an verbrachten Gary und Clive praktisch jedes Wochenende im Vogelobservatorium Deepden an der Küste, schliefen auf den Pritschen im Schlafsaal des angeschlossenen Bungalows und waren jeden Tag mit der Morgendämmerung auf den Beinen, um Netze aufzuspannen und Vögel zu beringen. So waren sie Freunde geworden.
Jetzt merkte Gary, dass die Polizistin ihn immer noch ansah. «Also?», fragte sie. «Was wollten Sie auf dem Ausguck, wenn es Ihnen nicht darum ging, Seevögel zu beobachten?»
«Es besteht doch immer die Möglichkeit», sagte er, «dass irgendwas Tolles vorbeifliegt. Aber wir hatten einen Spaziergang dorthin gemacht. Das machen wir jedes Jahr so an Peters Geburtstag.»
«Also ein Ritual?»
«Ja. Irgendwie schon.» Gary fragte sich, warum sich sonst niemand am Gespräch beteiligte. Wieso überließen sie eigentlich ihm das Reden?
Vera sah ihn weiter unverwandt an. Sie hatte die Beine von sich gestreckt; ihre großen, nicht gerade gepflegten Füße steckten in Sandalen.
«Wie heißen Sie, Herzchen?»
«Gary Wright.»
Sie zog ein Notizbuch aus ihrer großen, weichen Lederhandtasche, schlug es auf und las sich ihre Notizen noch einmal durch. Gary vermutete bloße Effekthascherei dahinter. Sie kannte die Fakten doch bereits. Vermutlich hatte sie ihn schon in dem Moment identifiziert, als sie sich an den Tisch gesetzt hatte.
«Und Sie wohnen in North Shields?»
Er nickte.
«Sind Sie ganz sicher, dass Sie das Mädchen nicht gekannt haben? Ich frage nur, weil ich den Eindruck habe, dass Sie ganz gern die Sau rauslassen. Zwei Verwarnungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses im Vollrausch, eine Vorstrafe wegen Drogenbesitzes.»
Gary hob den Kopf. Er war plötzlich wieder völlig nüchtern. «Das ist doch Jahre her. Sie haben kein Recht …»
«Ich ermittele in einem Mordfall.» Ihre Stimme klang messerscharf. «Da habe ich so ziemlich jedes Recht. Sind Sie sicher, dass sie Ihnen nie über den Weg gelaufen ist?»
«Ich kann mich jedenfalls nicht an sie erinnern. In der Stadt wimmelt es doch nur so von Studentinnen.»
«Und Sie haben sie auch nicht bei der Arbeit kennengelernt?»
«Beruf und Vergnügen halte ich strikt getrennt.» Gary begriff gar nicht, weshalb sie ihn so aufs Korn nahm, und wurde von einer irrationalen Panik erfasst. Die beruhigende Wirkung des Weines war wie weggeblasen. «Meine Arbeit ist mir sehr wichtig.»
«Erzählen Sie mir davon.»
«Ich bin Tontechniker. Freiberuflich. Ich mache alles, vom Operngastspiel in der Stadthalle bis zum Great North Run. Außerdem bin ich bei zwei Bands fest als Techniker, die nehmen mich auch immer mit auf Tournee.»
«Hört sich ja aufregend an.»
«Nicht besonders. Folk-Clubs, Kleinkunstbühnen. Dieselben langweiligen Durchschnittsmusiker, die immer dieselben langweiligen Lieder singen. Eine Nacht im Travelodge-Hotel, dann muss man den Tourneebus schon wieder vollladen und an den nächsten Ort fahren, den man gleich wieder vergisst.» Erst als er sich reden hörte, wurde ihm klar, wie sehr ihm das alles inzwischen zum Hals heraushing. Er war zu einer Entscheidung gelangt, mit der er sich schon seit einer Woche herumschlug. «Ich höre auf damit. Mit der freiberuflichen Arbeit. In letzter Zeit habe ich ziemlich häufig im Sage Music Centre in Gateshead gearbeitet, und die haben mir neulich eine feste Stelle angeboten. Geregeltes Einkommen, bezahlter Urlaub, eine sichere Rente. Irgendwie klingt das alles plötzlich ganz verlockend.»
«Dann wollen Sie also sesshaft werden? Warum denn gerade jetzt?»
«Wahrscheinlich werde ich alt», sagte Gary. «Das muss es wohl sein. Und die spätnächtlichen Essen beim Kleinstadt-Inder reizen mich auch nicht mehr so richtig.»
«Dann ist es also nicht wegen einer Frau?»
Einen Moment lang zögerte er, dann dachte er sich: Was geht die das an? «Nein, Inspector», sagte er. «Es ist nicht wegen einer Frau. Und schon gar nicht wegen Lily Marsh.»
Sofort fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, den Namen zu wiederholen. Womöglich kam sie so doch noch auf die Idee, dass er das Mädchen gekannt hatte? Doch Vera Stanhope ging nicht darauf ein und wandte sich wieder den anderen zu, die um den Tisch saßen. Und plötzlich war Gary erleichtert, dass er als Erster drangekommen war. Er trank einen Schluck aus seinem Glas, das zu seiner Überraschung noch praktisch voll war. Jetzt würden die anderen in die Mangel genommen werden. Doch Vera setzte gerade zu einer nächsten Bemerkung an, da klingelte ihr Handy. Sie stand auf und entfernte sich ein Stück, um den Anruf entgegenzunehmen. Sie blieb am anderen Ende der Terrasse im Dunkeln stehen. Wie um zu zeigen, dass sie sich kein bisschen für dieses Telefonat interessierten, fingen sie ein Gespräch untereinander an, doch als sie an den Tisch zurückkam, schwiegen sie alle wieder.
«Tut mir leid, Herrschaften», sagte die Polizistin munter. «Ich muss los. Aber machen Sie sich keine Gedanken, ich habe ja Ihre Adressen. Ich melde mich dann bei Ihnen.»
Sie machte allerdings keine Anstalten zu gehen.
Felicity erhob sich. «Ich bringe Sie noch zur Tür.»
«Interessiert es Sie eigentlich gar nicht, wie sie gestorben ist?» Vera schaute von einem zum anderen.
«Ich bin davon ausgegangen, dass es Selbstmord war», sagte Felicity erschrocken. «Es wirkte doch alles so dramatisch und inszeniert.»
«Sie wurde erwürgt», sagte Vera. «Das kriegt man schlecht alleine hin.»
Alle sahen sie schweigend an.
«Noch eine letzte Frage: Sagt einem von Ihnen der Name Luke Armstrong etwas?»
Keiner antwortete.
«Das werte ich dann mal als Nein», bemerkte Vera gereizt. «Er wurde ebenfalls erwürgt. Gar nicht so weit von hier.» Sie musterte die Anwesenden, wartete auf eine Reaktion. «Und die beiden Fälle haben auch sonst einiges gemeinsam. Ich muss Sie ernsthaft bitten, nicht über diese Sache zu reden. Vor allem nicht mit der Presse, aber auch mit sonst niemandem. Das verstehen Sie doch sicher.»
Immer noch sagte keiner ein Wort, und schließlich folgte Vera Felicity ins Haus. Gary, der selbst schon das eine oder andere Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, sah ihr nach und dachte sich, dass er so einer Polizistin auch noch nicht begegnet war.