Vera hatte sich mit Ben Craven in einem Tageszentrum für psychisch Kranke verabredet. Einmal wöchentlich betreute er dort Patienten, die wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden waren. Die Einrichtung lag am Rand einer Küstenstadt, die früher einmal für ihre Hafenanlagen bekannt gewesen war, inzwischen aber nur noch einen zweifelhaften Ruf als Drogenzentrum des Nordostens von England genoss.
Auf der Fahrt legte Vera einen Zwischenhalt bei der Bibliothek im Zentrum ein, einem gotisch anmutenden Backsteinbau mit Uhrenturm und einem gewaltigen Gemälde im Eingangsbereich, das ein Schiff mit geblähten Segeln zeigte. In einem Regal mit der Aufschrift Einheimische Autoren entdeckte sie eine Kurzgeschichtensammlung von Samuel Parr. Wie er es wohl fand, in dieser Kategorie präsentiert zu werden? Empfand er das als Auszeichnung? Oder hieß es einfach nur, dass er nicht gut genug war, um in die Regale mit den richtigen Autoren eingeordnet zu werden? Vera blätterte ein wenig in dem Buch, konnte die Geschichte, die sie im Radio gehört hatte, aber nicht finden. Schließlich beschloss sie, es trotzdem auszuleihen. Als sie der Bibliothekarin das Buch und ihren Benutzerausweis reichte, sagte diese: «Ein reizender Mann. Vergangenes Jahr war er zu einer Lesung hier. Und er arbeitet ja auch bei uns.»
Das erinnerte Vera wieder an ihre Unterhaltung mit Samuel Parr. Er hatte ihr doch versprochen, ihr zu sagen, was Lily Marsh gelesen hatte. Aus Neugier, aber auch, weil es sie interessierte, wie Parr auf diese Anfrage reagieren würde, beschloss sie, noch einmal nachzufragen. Vom Auto aus wählte sie die Nummer der Bibliothekszweigstelle in Morpeth und ließ sich zu ihm durchstellen.
«Aber ja, Inspector. Lassen Sie mich kurz im System nachschauen. Wie war noch gleich der Name? Lily Marsh?»
Was ist denn das jetzt für ein Spielchen?, dachte Vera. Er wusste doch ganz genau, wie die Frau hieß. Er hatte schließlich ihre Leiche gefunden.
«Ihr Konto enthält keine Ausleihen mehr, Inspector. Ich fürchte, ich kann Ihnen also nicht weiterhelfen.»
Vera beendete das Gespräch. Irgendwie war sie enttäuscht.
Das psychiatrische Tageszentrum war in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht, und schon beim Eintreten hatte Vera das ungute Gefühl, dass hier alle, einschließlich der Betreuer, in ein frühes Kindheitsstadium regrediert waren. In einem der Gruppenräume fand gerade eine Kunststunde statt. Die Patienten trugen rote Schürzen, damit sie sich nicht mit Farbe bekleckerten, und arbeiteten mit dicken Pinseln und kunterbunten Acrylfarben. In einem anderen Raum war offenbar der Musikunterricht im Gange, mit Tamburinen, Becken und zwei Xylophonen. Und dabei roch es überall nach Zigaretten. Vera hatte sich nie groß darum gekümmert, wenn andere Leute sich mit aller Gewalt umbringen wollten, doch dieser Qualm brannte ihr in Kehle und Lungen, und sie wusste, sie würde sich anschließend umziehen müssen, um den Gestank wieder loszuwerden. Um zum Zimmer des Sozialarbeiters zu gelangen, musste sie den Gemeinschaftsraum durchqueren. Die Sessel dort waren zu kleinen Sitzgruppen zusammengestellt, doch keiner schien darauf erpicht, auch nur ein Wort mit jemand anderem zu wechseln. Und alle qualmten. Eine magere Frau redete die ganze Zeit leise vor sich hin, irgendeine langwierige Geschichte um ihre Miete und die Stadtverwaltung, die sie ständig bedrängte. Die anderen Anwesenden schenkten ihr keine Beachtung.
Craven hatte ein kleines Büro am Ende eines langen Flurs. Die Tür stand offen, und Vera sah ihn schon, bevor er sie bemerkte. Er saß am Schreibtisch und hämmerte mit einer Geschwindigkeit, von der Vera nur träumen konnte, auf die Tastatur seines Computers ein. Als Erstes fiel ihr auf, wie gut er aussah. Ein junger Mann, den man auch auf der Straße bemerkte, dem man mit dem Blick folgen würde, weil es einfach schön war, ihm beim Gehen zuzusehen. Er war groß, blond und durchtrainiert. Leicht gebräunt, was seine Augen sicher noch besser zur Geltung brachte. Er hatte sie leicht zugekniffen, um auf den Bildschirm zu schauen, doch Vera konnte trotzdem erkennen, dass sie blau waren. Wahrscheinlich brachte er seine sämtlichen Patientinnen zum Träumen. Kein Wunder, dass Lily Marsh sich in ihn verliebt hatte. Sie hätten ein auffallend schönes Paar abgegeben.
Er hörte sie eintreten und hob den Kopf.
«Ja?» Selbst in diesem einzelnen Wort schwang der sanfte, leicht herablassende Ton mit, den Therapeuten den Verrückten gegenüber anschlagen. Dazu ein Lächeln, damit sie sich gleich entspannte. Anscheinend hielt er sie für eine Patientin. Vera fragte sich, ob sie mit ihren Zeugen wohl auch so sprach. Als ob sie Kinder wären.
«Vera Stanhope», sagte sie. «Polizei. Wir haben einen Termin.» Ihr Tonfall war schroff genug, damit er wusste, wer hier das Heft in der Hand hielt. Dabei verabscheute sie diese dummen Machtspielchen normalerweise.
Er schaltete den Computer auf Standby, erhob sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung von seinem Stuhl und streckte ihr die Hand hin.
«Guten Tag, Inspector. Möchten Sie einen Tee? Oder einen Kaffee?»
«Nein, danke», sagte sie.
«Geht es um einen meiner Patienten? Dann sollten wir vielleicht meine Chefin dazuholen.»
Vera ging nicht darauf ein. «Hören Sie», sagte sie. «Können wir uns nicht woanders unterhalten? Vielleicht irgendwo beim Mittagessen?»
«Bereiten psychisch Kranke Ihnen etwa Unbehagen, Inspector?»
«Seien Sie nicht albern, Jungchen. Ich habe in meinem Leben schon mit mehr Spinnern zusammengearbeitet, als Sie warme Mahlzeiten zu sich genommen haben. Und ich meine nicht nur die Straftäter.»
Er grinste, und sie dachte sich, dass er eventuell doch ein ganz netter Mensch war. «Ich mache um diese Zeit ohnehin meistens eine Pause.»
Sie traten zusammen auf die Straße hinaus. Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein schmaler Streifen Dünenlandschaft, gleich dahinter begann das Meer. In der Ferne wurde gerade ein Elektrizitätswerk abgerissen. Der junge Mann führte sie an ein paar ausladenden, edwardianischen Reihenhäusern vorbei, die selbst in dieser Umgebung noch recht hochherrschaftlich wirkten, bis zu einem Pub namens Mermaid. Abends wurden hier vermutlich Drogen verkauft, wie überall sonst in der Stadt, doch um diese Zeit war es angenehm ruhig und friedlich. In einer Ecke spielten zwei alte Männer mit Bergarbeiterhusten Domino. An einem anderen Tisch verzehrte ein mittelaltes Paar Rinderpastete mit Fritten.
Craven orderte einen Orangensaft und ein Sandwich, Vera ein halbes Pint Workie Ticket und einen Hamburger. Während sie an der Theke darauf warteten zu bezahlen, betrachtete Vera den jungen Mann neben sich im staubigen Sonnenlicht; dann wurde sie sich bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sie wandte den Blick ab.
«Luke Armstrong», sagte sie, als sie sich gesetzt hatten. «Sagt Ihnen der Name etwas?»
«Das ist doch dieser Junge aus Seaton, der ermordet wurde.»
«Dann kannten Sie ihn also?»
«Nein, ich habe ihn nicht betreut. Aber ich habe die Kollegen im Krankenhaus über ihn reden hören. Krankenhausklatsch eben. Daher weiß ich auch, dass er einige Zeit im St. George’s verbracht hat. Ich glaube, er wurde aber überhaupt nicht an die Sozialabteilung verwiesen.»
«Sie haben ihn also im Krankenhaus nie gesehen?»
«Vielleicht irgendwann mal kurz, bei einem meiner Besuche auf der Station. Ich kann aber nicht behaupten, dass ich mich daran erinnern würde. Sie sollten wirklich besser mit meiner Chefin reden. Sie wird wissen, ob die Familie Unterstützung von Sozialarbeitern erhalten hat.»
«Was ist mit Lily Marsh?», fragte Vera. «Die kannten Sie ja wohl.»
Er saß völlig reglos da. Starr wie eine Statue. Vergoldet im Sonnenlicht. So ein Kunstwerk würde sie sich jederzeit daheim in die Vitrine stellen, dachte Vera nur halb im Scherz.
«Ich habe Lily das letzte Mal mit achtzehn gesehen.»
«Sie wissen aber, dass sie tot ist?»
«Meine Mutter hat mich letztes Wochenende angerufen», sagte er. «Sie sprach von einem Unfall. Lily ist wohl ertrunken. Irgendwo oben an der Küste.»
Vera fragte sich, ob Phyllis diese Geschichte wohl im Dorf verbreitet hatte, nachdem sie vom Tod ihrer Tochter erfahren hatte. Ob sie es für ehrenrührig hielt, dass das Mädchen einem Mord zum Opfer gefallen war? Für ungehörig? So oder so würde man ihr dieses Märchen nicht lange glauben.
«Lily wurde erdrosselt. Genau wie Luke Armstrong.»
«Wollen Sie damit sagen, dass die beiden Morde zusammenhängen?»
Und schlau ist er auch noch. Nicht einfach nur ein hübsches Gesicht.
«In diesem Teil Northumberlands ereignen sich sonst nicht gerade viele Gewaltverbrechen», sagte sie und kümmerte sich nicht darum, wie sarkastisch das klang. «Zumindest nicht innerhalb einer Woche.» Dann setzte sie mit eindringlichem Blick hinzu: «Es scheint Sie ja nicht sonderlich zu schockieren. Dabei ist es doch eine schreckliche Geschichte. Und Sie standen ihr früher einmal sehr nahe.»
Ben Craven hielt ihrem Blick stand. «Natürlich bin ich schockiert. Allerdings nicht erstaunt. Zumindest nicht übermäßig. Ich glaube ja eigentlich nicht an Opfermentalitäten, aber mit Lily hatte man es wirklich nicht ganz leicht, vor allem nicht, wenn man ihr nahestand. Es gab Momente, da hätte auch ich sie am liebsten umgebracht. Dabei konnte sie nichts dafür. Das war mir damals schon klar. Ich wollte das verstehen lernen. Vielleicht bin ich deshalb zu diesem Beruf gekommen. Aber trotzdem hätte ich sie manchmal am liebsten erwürgt.»
«Erzählen Sie mir mehr.»
«Ich war total verliebt in sie», sagte er. «Diese wahnsinnige, rauschhafte Leidenschaft, die man nur erlebt, wenn man noch nicht zwanzig ist. Ich wollte Gedichte für sie schreiben, jede Sekunde meines Lebens mit ihr verbringen …»
«Sie um den Verstand vögeln», setzte Vera angelegentlich hinzu.
Craven musste lachen. «Ja, das wohl auch. Aber auf eine sehr viel lyrischere, romantischere Weise. Wir hatten gerade D. H. Lawrence gelesen, und ich malte mir aus, dass es draußen im Mondschein passieren würde, auf einem Heuballen. So was in der Art. Man ist ja so schrecklich großspurig, wenn man jung ist, finden Sie nicht?»
Vera musste an Luke Armstrong und Thomas Sharp denken, die Zeugs auf Baustellen geklaut hatten, am Kai herumgeblödelt, sich gegenseitig verteidigt hatten, wenn sie angegriffen wurden. Das gilt wohl nicht für alle, dachte sie. Eine stämmige Dame trat an den Tisch und brachte ihnen das Essen. Vera wartete, bis sie wieder an der Theke war, dann fragte sie: «Und hat die Realität Ihren Erwartungen entsprochen?»
«Anfangs schon.»
Sie hätte ihn gern gefragt, ob sie es tatsächlich draußen getrieben hatten, so wie er es sich ausgemalt hatte, fand die Frage dann aber selbst geschmacklos. Anscheinend war sie auch nicht besser als diese jämmerlichen, alternden Polizeibeamten, deren Tag schon gerettet war, wenn sie einen Stapel sichergestellter Pornohefte durchsehen mussten.
Bevor sie ihn bitten konnte fortzufahren, erzählte er schon von selbst weiter. «Es war im Herbst, am Anfang unseres vorletzten Schuljahres. Da hatte ich endlich den Mut, sie zu fragen, ob sie mit mir ausgeht. In der Stadthalle spielte eine Band, von der ich wusste, dass sie sie mag. Ich hatte Karten besorgt, dann habe ich sie gefragt, ob sie mitkommt. Ich hatte gerade meinen Führerschein gemacht und habe meine Mutter überredet, mir das Auto für den Abend zu überlassen. Sonst wäre man so spät ja gar nicht mehr nach Hause gekommen. Und als ich sie gefragt habe, ob sie mitkommt, war ich so was von nervös. Ich weiß noch, ich habe richtig gezittert. Wir standen an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Schule. Wir waren beide etwas früh dran, da habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Es war einer dieser wunderschönen Oktobertage, die es manchmal gibt. Sonnig, mit einem Hauch von Frost. Ich habe mich ständig verhaspelt und mich gefühlt, als wäre ich ungefähr acht. Aber sie hat gelächelt. Da wusste ich, dass alles gut wird. ‹Ich dachte schon, du fragst mich nie.› Mehr hat sie nicht gesagt. Dann sind auch schon die anderen aufgetaucht, die auch immer mit dem Bus fuhren.»
«Und wann war die schöne Stimmung zwischen ihnen vorbei?», fragte Vera trocken.
«Im Jahr danach, kurz vor Weihnachten. Wir mussten uns auf unseren Abschluss vorbereiten. Für sie war das eigentlich noch viel wichtiger als für mich. Sie hatte einen vorläufigen Studienplatz in Oxford bekommen. Aber plötzlich war es ihr nicht mehr wichtig, für die Prüfungen zu lernen. Sie wollte mich jeden Abend sehen, obwohl wir schon den ganzen Tag in der Schule zusammen waren. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken.»
«Und dann haben Sie mit ihr Schluss gemacht?»
«Erst mal nicht. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir uns nur an den Wochenenden sehen. Dass wir die Zeit, die wir zusammen verbringen, als etwas Besonderes betrachten.»
«Hat sie sich darauf eingelassen?»
Er schüttelte den Kopf. «Sie war mir immer noch sehr wichtig, aber langsam machte sie mich wahnsinnig. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich mich hinter ihrem Rücken mit anderen Frauen treffen würde.»
«Stimmte das denn?»
«Nein! Ich wollte einfach nur gute Abschlussnoten, um anschließend studieren zu können.» Er schwieg kurz. «Schließlich hatten wir einen fürchterlichen Streit. Wir waren im Pub gewesen, in dem Dorf, wo sie wohnte, und ich brachte sie zu Fuß nach Hause. Sie hatte ziemlich viel getrunken. Und dann ist sie plötzlich ausgeflippt, hat mich angebrüllt und beschimpft. Sie hat gesagt, ich hätte sie sowieso nie geliebt, ich hätte den ganzen Abend mit der Kellnerin geflirtet, und sie könne es nicht ertragen, was aus uns geworden sei. Da hatte ich genug. ‹Gut›, habe ich gesagt. ‹Dann lassen wir es halt bleiben.› Wir waren schon fast bei ihr zu Hause, und ich habe mich umgedreht und bin weggegangen. Sie ist mir nachgerannt, hat mich angefleht, es mir nochmal zu überlegen. ‹Es tut mir leid, Ben. Ich kann doch nichts dafür. Ich liebe dich einfach so sehr.› Es hat in Strömen geregnet, und ich fand, dass sie einfach nur noch aussah wie eine Wahnsinnige, als sie so dastand und schluchzte, bis ihre Wimperntusche ganz zerlaufen war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie war völlig außer sich. Also habe ich sie in den Arm genommen, sie bis vor die Haustür gebracht und gewartet, bis sie ihren Schlüssel aus der Tasche gekramt hatte. Dann bin ich Hals über Kopf weggerannt.»
«Wie sich das für einen Gentleman gehört», bemerkte Vera.
«Das ist mir einfach alles über den Kopf gewachsen. Eigentlich hätte ich mit ihren Eltern reden sollen, ihnen sagen müssen, warum sie so aus der Fassung war, aber das habe ich einfach nicht fertiggebracht. Sie kamen mir immer so schrecklich alt vor. Und ziemlich verklemmt. Außerdem redete man mit Eltern einfach nicht über solche Sachen.» Er schwieg, drehte sein leeres Glas in den Händen. «Das war an einem Freitag. Die ganze nächste Woche über kam sie nicht zur Schule. Ihre Eltern schrieben, sie hätte eine Mandelentzündung oder so was. Ich war erleichtert, mich nicht mit der Sache auseinandersetzen zu müssen. Und ich dachte, damit hätte sich das erledigt. Irgendwann würde sie wieder zur Schule kommen, und wir würden einfach weitermachen wie vor unserer Beziehung. Es trennten sich schließlich ständig Leute. Das war keine große Sache.»
«Aber für Lily schon.»
«Anscheinend, ja. Irgendwann rief ihre Mutter mich an und bat mich, sie zu besuchen. Sie aß nicht, schlief nicht. Ich war so klug, mich zu weigern. Ich wusste, wenn ich ihr auch nur ein bisschen entgegenkomme, geht das alles wieder von vorne los. Zwei Wochen später kam sie wieder in die Schule. Sie sah furchtbar aus, bleich und krank. Ich fragte mich, ob wohl körperlich etwas nicht mit ihr stimmte, und ich hatte diesen Albtraum, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt und ich alles nur noch schlimmer machte. Aber ihre Mutter hatte sie sicher komplett durchchecken lassen. Und auf irgendeine ganz seltsame Weise fühlte ich mich auch geschmeichelt. Dass ich diese Wirkung auf einen Menschen haben konnte, den ich selbst so angebetet hatte! Lily hat sich völlig zurückgezogen und abgesondert. Sie hatte nie viele Freunde. Bevor wir zusammenkamen, ist mir gar nicht klargeworden, wie einsam sie war. Aber irgendwie dachte ich immer noch, dass alles gut werden würde. Sie schien sich in die Arbeit zu stürzen. Ich dachte, sie wäre bereits dabei, die Trennung zu verarbeiten. Es gab keine großen Szenen mehr. Nach ein, zwei Wochen sah sie sogar wieder etwas besser aus. Sie achtete wieder auf ihr Äußeres, sprach wieder mit mir, wenn wir uns begegneten.»
«Aber es kam dann doch anders?»
«Ja, leider. Inzwischen ist mir natürlich klar, dass sie depressiv gewesen sein muss. Es ging ihr keineswegs besser. Die neuen Klamotten, die Gesprächsbereitschaft – das war alles nur Teil ihres Wahns, dass ich sie zurücknehmen würde. In den Osterferien kam es dann zu einem richtigen Eklat. Sie stand plötzlich bei mir vor der Haustür, strahlend und richtig herausgeputzt. ‹Und, wo fährst du mit mir hin?› Irgendwie hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass wir an dem Tag einen Ausflug zusammen machen würden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich habe ich sie einfach nach Hause zu ihrer Mutter gebracht. Als ihr klarwurde, was passiert, hat sie angefangen zu heulen. Es war schrecklich. Danach fing das mit den Anrufen an. Sie rief ein paar Dutzend Mal am Tag an. Mir war inzwischen klar, dass sie krank sein muss, ich habe versucht, verständnisvoll zu sein, aber es hat mich richtig mürbegemacht. Und meine Eltern sind fast wahnsinnig geworden. Wir haben unsere Telefonnummer geändert, den Eintrag aus dem Telefonbuch genommen. Ich weiß nicht, ob sie irgendwann in Behandlung war oder ob es einfach von allein wieder aufgehört hat. Das nächste Vierteljahr hatten wir nicht viel Schule, damit wir für die Prüfungen lernen konnten. Ich habe sie nicht oft gesehen. Meist nur aus der Ferne, auf dem Weg von einem Klassenzimmer ins andere. Aber ich habe auch alles dafür getan, dass sie mir fernblieb.»
«Haben Sie sie seither noch einmal gesehen?»
«Nein. Sie war nicht mal in der Schule, als wir unsere Abschlusszeugnisse bekamen. Wahrscheinlich war ihr klar, dass sie nicht gerade gut abgeschnitten haben konnte, und sie hätte es nicht ertragen, uns feiern zu sehen.»
«War sie seither einmal stationär im St. George’s? Oder auch ambulant in der Tagesklinik?»
«Ich habe sie dort nie gesehen.»
«Aber Sie müssen doch neugierig gewesen sein», sagte Vera. «Sie sagten doch schon, dass Sie sich teilweise ihretwegen auf die Sozialarbeit spezialisiert haben. Haben Sie denn nie herauszufinden versucht, ob sie irgendwo in Behandlung ist? Ich hätte das an Ihrer Stelle getan.»
Er antwortete nicht gleich. «Ich denke immer noch viel an sie», sagte er schließlich. «Sie war meine erste richtige Freundin. Und wahrscheinlich die schönste Frau, die mir je begegnet ist.» Dann sah er Vera an. «Wenn Sie wissen wollen, ob sie irgendwo in Behandlung war, müssen Sie sich an das medizinische Personal wenden. Aber Sie haben schon recht. Natürlich war ich neugierig. Ich konnte sie nur nirgends finden.»
Die Wirtin kam, um ihre Teller abzuräumen, und Ben Craven erhob sich. Vera blieb sitzen, er stand da und sah sie an. Ihm war klar, dass sie noch eine Frage hatte.
«Sagt Ihnen der Name Claire Parr etwas? Sie war Ende dreißig, schwer depressiv. Sie hat Selbstmord begangen.»
«Nein», antwortete er. Vera spürte, dass er schnell zur Arbeit zurückwollte.
«Spielt auch keine Rolle.» Sie sprach halb zu sich selbst. «Das war vermutlich sowieso vor Ihrer Zeit.»