Als Felicity aus der Stadt nach Hause kam, sah sie einen Wagen in der Einfahrt stehen. Es war nicht derselbe, den der Spurensicherungsbeamte gefahren hatte. Wahrscheinlich war es sonst jemand im Zusammenhang mit der Mordermittlung. Felicity fragte sich, wann es endlich wieder vorbei sein würde mit dieser Invasion. Vermutlich konnte sie schon froh sein, dass die Presse noch nichts davon mitbekommen hatte, und einen Augenblick lang überlegte sie, ob der Wagen vielleicht einem Reporter gehörte. Als sie zum Gartenhaus hinüberschaute, sah sie, dass das Absperrband verschwunden war.
Sie hatte gerade die Schuhe ausgezogen und Wasser aufgesetzt, als es auch schon an der Tür klingelte. Vom Küchenfenster aus sah sie den jungen Polizisten, der am Abend zuvor Peter mit aufs Revier genommen hatte. Felicity ging barfuß zur Tür, öffnete und sah, wie sein Blick zu ihren Zehennägeln wanderte, die in einem leichten Zartrosa lackiert waren. Sie glaubte, seine Missbilligung zu spüren, und hätte ihm am liebsten irgendeinen Kommentar an den Kopf geworfen: Lackiert Ihre perfekte Ehefrau, die immer brav ins Women’s Institute geht, sich etwa nie die Zehennägel? Oder finden Sie das einfach unpassend, weil ich schon Großmutter bin? Stattdessen schwieg sie, blieb einfach nur stehen und wartete darauf, dass er etwas sagte.
«Wir haben schon versucht, Sie anzurufen», sagte er. Es klang fast wie ein Vorwurf und irgendwie auch besorgt, als ginge er vom Schlimmsten aus.
«Ich bin gerade erst wieder nach Hause gekommen.»
«Wo waren Sie?»
«In Morpeth.»
«Waren Sie mit jemandem zusammen?»
Sie antwortete nicht. Das ging ihn ja nun wirklich nichts an. «Wieso, was ist denn passiert?» Sie merkte, dass es wohl etwas Ernstes sein musste. «Etwa schon wieder ein Mord?»
Jetzt gab er keine Antwort. «Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie irgendwelche Belege dafür hätten, wo Sie heute Vormittag gewesen sind. Hat Sie vielleicht jemand gesehen?»
«Nein», antwortete Felicity zögernd. «Ich war allein unterwegs.»
«Dann vielleicht irgendeinen Kassenzettel. Etwas, das Datum und Uhrzeit verzeichnet?»
Langsam geriet Felicity ebenfalls in Panik. Sie stellte sich vor, wie man sie mit auf das Polizeirevier in Kimmerston nahm, sie in eine Zelle steckte, sie verhörte. Womöglich glaubten die ja, sie stecke mit Peter unter einer Decke. Was würde dann bloß aus James werden? «Ich habe nichts gekauft. Ich wollte, aber letztlich wurde es dann doch nur ein Schaufensterbummel.»
Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, und sie eilte, weiterhin barfuß, nach draußen, über den Kies, der sich in ihre nackten Sohlen bohrte, zum Auto. Schließlich fand sie den Parkschein des Supermarkt-Parkplatzes unter dem Fahrersitz. Datum und Uhrzeit waren klar und eindeutig darauf vermerkt, und Joe Ashworth entspannte sich ein bisschen. Er klang schon höflicher, als er fragte, ob er kurz hereinkommen dürfe.
«Eine junge Frau ist verschwunden», sagte er. Der Wasserkocher in der Küche hatte bereits einmal gekocht und sich wieder ausgeschaltet. Felicity machte einen Kaffee für Joe Ashworth, ohne ihn zu fragen, ob er einen wollte. «Möglicherweise hat das mit den beiden Morden zu tun. Ich war bereits im Gartenhaus, ich hoffe, das stört Sie nicht. Die Spurensicherungsbeamten waren dort fertig, und Sie waren leider nicht da. Und unter diesen Umständen …»
«Nein», sagte Felicity. «Natürlich nicht. Sie müssen alles tun, was nötig ist.» Dennoch schockierte es sie, dass er das Gartenhaus immer noch als möglichen Tatort betrachtete. Hieß das, die Leute in den weißen Schutzanzügen hatten dort etwas gefunden? Stand Peter etwa immer noch unter Verdacht?
«Ist Ihr Mann heute zur üblichen Zeit ins Büro aufgebrochen?», fragte Ashworth. Seine Stimme klang freundlich und beiläufig, doch Felicity ließ sich nicht täuschen. Den Teufel würde sie tun und ihm erzählen, dass Peter an diesem Morgen früher als sonst gefahren war.
«Ja», sagte sie. «Zur selben Zeit wie immer. Sie können übrigens auch überprüfen, wann er in der Universität eingetroffen ist. Man muss sich dort immer eintragen. Wegen der Feuerschutzverordnung.»
Er lächelte, und ihr wurde klar, dass sie das bereits getan hatten. Sie fragte sich, ob sie auch schon mit Peter gesprochen hatten oder nur mit seiner Sekretärin. Eigentlich hätte sie ihn gern danach gefragt, aber das ging ihr dann doch gegen den Stolz.
Die Küchenuhr krächzte. Irgendein Vogel, den sie nicht erkannte. Sie stellte fest, dass es bereits zwei Uhr war.
«Ich habe noch nichts zu Mittag gegessen», sagte sie. «Eigentlich wollte ich in Morpeth essen, aber dann habe ich das doch gelassen. Ich würde mir jetzt ein Sandwich machen. Kann ich Ihnen auch etwas anbieten?»
Joe Ashworth lächelte. «Nein danke, ich gehe dann», sagte er. «Sie würden uns doch anrufen, falls Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerken … einen Wagen, den Sie nicht kennen, Leute, die sich beim Gartenhaus herumtreiben?»
«Ja», sagte Felicity. «Selbstverständlich.»
Sie wollte ihn gerade zur Tür bringen, als das Telefon klingelte. Ihr Handy, das immer noch in ihrer Handtasche in der Küche steckte. Sie war sich sicher, dass es Samuel sein würde, und der Gedanke beschäftigte sie so, dass sie erst gar nicht verstand, was der Polizist als Nächstes sagte.
«Sind Sie heute Abend zu Hause? Nur, falls wir noch weitere Fragen haben sollten.» Das Handyklingeln schien er gar nicht zu bemerken. Vielleicht störte es ihn aber auch nur nicht weiter, dass er sie davon abhielt, ans Telefon zu gehen.
«Ja», sagte sie. «Aber ja. Wir gehen nicht oft aus.» Sie wollte nur, dass er endlich ging.
Er lächelte erneut. Anscheinend hatte er genau diese Antwort hören wollen, als wäre er nur deswegen gekommen. «Wunderbar. Dann war es das für den Moment. Ich finde selbst nach draußen.»
Als sie wieder in die Küche kam, hatte das Handy längst aufgehört zu klingeln. Keine Nachricht auf der Mailbox. Die Anruferliste verzeichnete Samuels Handynummer. Sie rief zurück, doch er hatte seines bereits wieder ausgeschaltet. Felicity sprach ihm erneut auf die Mailbox und versuchte es gleich darauf bei ihm zu Hause, erreichte ihn jedoch nicht. Sie versuchte es immer wieder, bis James nach Hause kam. Dann gab sie auf.
Peter kam ein wenig früher als sonst aus der Universität zurück. Es war erst halb sechs. Durchs Küchenfenster beobachtete Felicity, wie er aus dem Wagen stieg, einen Moment lang stehen blieb und zum Gartenhaus hinüberschaute.
Jetzt denkt er an diese Frau. Er vermisst sie. Die Eifersucht drückte ihr in der Kehle wie ein falsch verschluckter Bissen. Beinahe musste sie würgen.
James hatte seinen Vater offenbar vom Garten aus gesehen, wo er gespielt hatte, und kam jetzt ums Haus herumgerannt, um ihn zu begrüßen. Sie konnte nicht hören, was er sagte, doch er plapperte direkt los, als er vor Peter stand. Irgendwelche Neuigkeiten aus der Schule wahrscheinlich. Peter lächelte, hob den Jungen hoch und schwenkte ihn einmal durch die Luft.
Felicity sah zu und dachte sich, wie fit er für sein Alter noch war. Wie kräftig. Peter legte seinem Sohn den Arm um die Schultern, und gemeinsam kamen sie auf das Haus zu. Das Telefon klingelte. Felicity ging in Peters Arbeitszimmer, um den Anruf entgegenzunehmen, froh um diese Gelegenheit, sich erst ein bisschen zu sammeln, bevor sie die beiden begrüßte.
Am Telefon war Samuel.
«Hallo», sagte sie. «Ich hatte schon versucht, dich zu erreichen.» Auch am Morgen, als sie in Morpeth war, hatte sie es schon ein paarmal versucht, doch er war weder ans Handy noch an sein Telefon zu Hause gegangen. Schließlich hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und war in die Bücherei gegangen, doch die Frau an der Ausleihe konnte ihr nur sagen, dass er sich den Tag freigenommen hatte. Da war sie zu ihm nach Hause gegangen, hatte an seine Tür geklopft, doch er hatte nicht geöffnet.
«Warum denn? Ist etwas passiert?» Seine Stimme klang seltsam, leicht vernuschelt. Sie fragte sich, ob er wohl getrunken hatte.
«Im Moment passt es nicht so gut, Peter ist eben nach Hause gekommen, falls du ihn sprechen willst.» Sie sprach so nett und beiläufig wie immer, wenn die Gefahr bestand, dass jemand das Gespräch mithörte.
«Nein. Ich wollte dich sprechen.»
«Ist alles in Ordnung mit dir?», fragte Felicity. «Wo warst du denn den ganzen Tag?»
Samuel antwortete nicht gleich. Sie hörte Peter aus der Küche rufen, hielt den Hörer zu und antwortete: «Ich bin noch am Telefon. Ich komme gleich. Setz schon mal Wasser auf, ja?»
Samuel schwieg immer noch.
«Wo warst du?», fragte sie noch einmal.
«Eigentlich dachte ich, das könntest du dir denken.» So etwas sagte er sonst nur, wenn sie allein waren – halb im Spaß, ein gemeinsames Einverständnis voraussetzend. Doch jetzt klang er einfach nur verbittert.
«Geht es dir gut?», fragte Felicity. «Stimmt irgendetwas nicht?»
«Ich muss dich sehen.»
«Ich fürchte, das wird nicht möglich sein», erwiderte sie. «Zumindest nicht heute Abend.» Die Vorwürfe, die sie ihm hatte machen wollen, weil er ihr Peters Affäre mit Lily Marsh verschwiegen hatte, waren ebenso vergessen wie das perlende Begehren, das sie seit Beginn ihrer Beziehung verspürte, wenn sie mit ihm sprach, das sie so oft versonnen vor sich hin lächeln ließ, wenn sie allein war. Jetzt wollte sie sich nur noch so schnell und mit so viel Anstand wie irgend möglich aus der Affäre ziehen. Sie empfand Samuel plötzlich geradezu als Belastung.
«Heute vor zwanzig Jahren ist Claire gestorben», sagte er.
Natürlich, dachte Felicity, das war ja auch um Mittsommer herum. Sie erinnerte sich noch gut an die Beisetzung. Ein drückend schwüler Tag. Ganze Schwärme von Insekten unter den Bäumen, während sie draußen vor der Kirche warteten. Die allgemeine Befangenheit, weil es doch seltsam war, jemanden durch Selbstmord zu verlieren. Felicity hatte damals fast das Gefühl gehabt, man müsse Samuel das Beileid aussprechen, weil seine Frau ihn verlassen hatte. Später hatten sie ihn mit zu sich nach Hause genommen, und er hatte ihnen erzählt, wie er seine Frau gefunden hatte. «Sie sah so friedlich aus, wie ich sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Das Haar floss ihr so schön ums Gesicht.»
Mit schlagartigem Entsetzen wurde ihr klar, dass diese Beschreibung auch auf die beiden Mordopfer gepasst hätte, doch sie verdrängte den Gedanken, Samuel könnte ein Mörder sein, sofort wieder. Er war ein so sanfter Mann. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. «Entschuldige», sagte sie. «Das hätte ich wirklich wissen müssen.» Er wartete darauf, dass sie doch noch einwilligte, sich mit ihm zu treffen, das spürte sie, und einen Moment lang zögerte sie. Vielleicht sollte sie ja wirklich zu ihm fahren. Als besorgte Freundin. Im Wohnzimmer unten hatte James den Fernseher eingeschaltet, Felicity hörte die Titelmelodie einer Vorabendserie. Peter rief aus der Küche, dass der Tee fertig sei. Das, dachte sie, ist das eigentlich Wichtige. Die alltäglichen Belanglosigkeiten des Familienlebens. Dafür lohnte es sich zu kämpfen. «Hör mal», sagte sie. «Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann wirklich nicht. Wir haben es hier gerade nicht leicht. Gestern Abend musste Peter zum Verhör aufs Polizeirevier. Bist du sicher, dass du nicht mit ihm sprechen willst?»
Samuel antwortete nicht gleich. Schließlich sagte er: «Das Ganze ist so verfahren.»
«Wo bist du?», fragte Felicity.
«Vergiss es.» So verbittert hatte sie ihn noch nie gehört. Er legte auf.
Peter hatte ihr einen Earl Grey gemacht, mit einem kleinen Spritzer Milch, so wie sie es gernhatte. «Wer war denn am Telefon?»
Felicity zögerte nur kurz. «Samuel. Er klang sehr aufgewühlt. Heute ist Claires zwanzigster Todestag. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, dass er mit dir redet.»
«Heute Nachmittag war dieser junge Polizist nochmal hier. Anscheinend ist wieder eine junge Frau verschwunden.»
Peter stellte behutsam seine Teetasse ab, doch sie merkte ihm an, dass diese Nachricht ihn aufwühlte. Vielleicht dachte er wieder an Lily.
«Glaubt die Polizei, dass das mit den beiden Morden in Zusammenhang steht?»
«So habe ich Ashworth verstanden. Er wollte wissen, wo ich heute Vormittag gewesen bin.»
«Sie haben wohl auch den ganzen Tag versucht, mich zu erreichen.» Peter lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte sich, wie zum Beweis, dass er höchst beschäftigt gewesen und jetzt entsprechend erschöpft war.
«Wo warst du denn?»
«In einer Besprechung. Todlangweilig und wahnsinnig schlecht organisiert, weshalb sie auch eine halbe Ewigkeit gedauert hat.»
«Ist das wahr?»
«Du wirst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich etwas mit dieser Entführung zu tun habe?»
«Nein», erwiderte Felicity rasch. «Natürlich nicht. Das meinte ich auch gar nicht. Ich war nur heute Morgen in Morpeth und hatte versucht, dich anzurufen. Aber ich habe dich auch nicht erreicht.»
«Und da hast du dir gedacht, ich bin bei einer anderen Frau?»
«Es tut mir leid. Aber der Gedanke kam mir schon.»
«Nie wieder», sagte Peter. «So etwas werde ich nie wieder tun, das schwöre ich dir.» Er wandte den Kopf, als wollte er das ganze Haus in seinen Blick fassen, James im Nebenzimmer, den Garten. «Das ist mir einfach alles zu wichtig.» Und Felicity stellte fest, dass sie genau diesen Gedanken auch gehabt hatte, als sie mit Samuel am Telefon sprach.
Nach dem Abendessen setzten Peter und sie sich noch ein wenig mit James vor den Fernseher. Später brachten sie den Jungen gemeinsam ins Bett, gingen mit einem Glas Wein auf die Terrasse hinaus und sahen der riesigen, orangeroten Sonne zu, die hinter den Bergen im Westen versank. Peter machte einen sorgenvollen, zerstreuten Eindruck. Immer wieder kam er auf die verschwundene junge Frau zu sprechen. Was hatte Ashworth denn noch davon erzählt?
«Nichts», sagte Felicity. «Wirklich gar nichts. Aber wenn sie sie finden und denjenigen fassen, der sie entführt hat, bist du doch wenigstens frei von jedem Verdacht, oder? Dann ist das alles vorbei.»
Doch der Gedanke schien ihn auch nicht zu trösten. Er kam einfach nicht zur Ruhe. Irgendwann ging er zurück ins Haus, um zu telefonieren. Felicity vermutete, dass er wohl Samuel anrufen würde.
«Wie geht’s ihm?», fragte sie, als er wiederkam.
«Ich weiß es nicht.» Peter hatte die Stirn in Falten gelegt. «Er ist nicht rangegangen.»
Die Polizisten kamen kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Zwei neue Gesichter. Felicity schloss gerade die Haustür ab, und sie kamen ums Haus herum nach hinten. Ein Mann und eine Frau. Sie erschienen Felicity unwahrscheinlich jung und wirkten linkisch und wortkarg, obwohl sie sich alle Mühe gaben, höflich zu sein.
«Sergeant Ashworth sagte, wir könnten von hier aus den Mühlbach im Auge behalten. Sie hätten ihm gesagt, dass wir das dürfen.»
«So?» Felicity konnte sich nicht mehr recht erinnern, was sie gesagt hatte.
«Vielleicht gibt es oben ja ein Zimmer, das nach vorne rausgeht? Von da aus hätten wir einen guten Blick.»
«Natürlich», sagte sie. «Wenn wir Ihnen damit helfen können.»
Sie saßen immer noch dort im Gästezimmer, als Peter und Felicity schlafen gingen. Felicity sah die beiden dort im Dunkeln sitzen und über die Wiese weg zum Gartenhaus hinüberschauen. Der Mond stand inzwischen am Himmel. Er schien nicht hell genug, dass man Einzelheiten erkannt hätte, doch man würde sicherlich sehen, wenn sich draußen jemand bewegte. Aber was wollen sie tun, wenn wirklich jemand käme?, fragte sich Felicity. Sie sind doch noch halbe Kinder.
Sie machte ihnen eine Thermoskanne Kaffee und ein paar belegte Brote, und sie bedankten sich, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
Anscheinend war sie dann doch vor Peter eingeschlafen. Sie spürte ihn neben sich. Er lag ganz still, um sie nicht zu stören.