KAPITEL VIERZEHN
«Also, womit haben wir es hier zu tun?», fragte Joe Ashworth. «Irgendein Verrückter, der sich darauf verlegt hat, andere Verrückte zu erwürgen?»
Sie saßen im Wagen und fuhren nach Newcastle, wo sie sich Lily Marshs Wohnung ansehen und mit den beiden Studentinnen reden wollten, mit denen sie zusammengewohnt hatte.
«Kann sein.» Doch Vera fand das alles viel zu konstruiert. Ein Spiel. Irgendein raffinierter Mistkerl, der sie an der Nase herumführen wollte. «Aber lassen wir die Deko doch mal außen vor. Das mit den Blumen auf dem Wasser. Wenn wir einfach nur zwei Morde hätten, gleiches Einzugsgebiet, gleiche Mordmethode – was würden Sie dann denken?»
«Ich würde immer noch denken, dass es ein Verrückter sein muss.»
«Vielleicht auch ein Serienmörder?»
«Vielleicht.» Er blieb zurückhaltend und war sichtlich erstaunt, dass sie dieses Wort überhaupt in den Mund nahm, selbst ihm gegenüber. Serienmörder, das würde bedeuten, dass sie es bald mit wild gewordenen Reportern und hysterischen Politikern zu tun haben würden, und das konnte sie doch auf keinen Fall wollen. So etwas sagte man nicht mal so leichthin.
«Aber was, wenn es doch nicht so völlig wahllos war, wenn es nicht einfach nur ein Psychopath ist, der etwas gegen hübsche junge Menschen hat?»
Ashworth ließ sich Zeit mit der Antwort. «Der zweite Mord könnte ein Versuch sein, vom ersten abzulenken. Wir wissen bereits, dass Lily Marsh in der Gegend verkehrte. Sie hat in Hepworth gearbeitet. Das ist … wie weit weg von Seaton, wo Julie Armstrong wohnt? Keine zehn Kilometer. Wenn wir nachweisen können, dass sie zum Zeitpunkt von Lukes Ermordung in Seaton war, hätten wir doch eine brauchbare Erklärung. Sie hat etwas gesehen oder gehört. Oder sie kannte den Mörder, hat etwas geahnt, ihn zur Rede gestellt.»
«Denken Sie da an einen Freund?»
«Warum nicht? Es ist allerdings schon seltsam, dass die Eltern nichts davon wissen.»
«Also, was machen wir jetzt?» Vera kniff die Augen zu, weil Ashworth zu schnell um die Kurve gefahren war und jetzt scharf bremsen musste, als ihnen ein Traktor entgegenkam. Ashworth fluchte nicht, das hätte auch gar nicht zu ihm gepasst; nur Vera zischte ein Schimpfwort.
«Wir stellen die Verbindung her», sagte Ashworth, während er den Wagen fast in die Hecke am Straßenrand lenkte, um den Traktor vorbeizulassen. «Wir finden heraus, was sie an dem Abend gemacht hat, als Luke Armstrong ermordet wurde. Wir reden mit all ihren Freunden. Ihren Dozenten. Ihren Kollegen.»
«Dann ist ja nichts weiter dabei.» Vera streckte sich und gähnte. «Ein Klacks.» Und damit schlief sie ein, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Sie wachte erst wieder auf, als sie vor dem Haus hielten, in dem Lily gewohnt hatte. Glücklicherweise war direkt davor ein Parkplatz frei. Es war Samstagvormittag, und die Einkaufsbummler sparten sich die Parkgebühren, indem sie das Auto in West Jesmond abstellten und mit der Metro in die Stadt fuhren. Die Wohnung lag im Erdgeschoss eines Reihenhauses aus Edwardianischer Zeit; ziemlich nobel für eine Studenten-WG, dachte Vera. Vor der Tür hing blau-weißes Absperrband, drinnen war Billy Wainwright zugange. Vera rief ihn durch das offene Fenster.
«Ihr könnt schon reinkommen», sagte er. «Wir sind fast fertig. Ich kann’s kaum erwarten, endlich ins Bett zu kommen. Das Durchsuchungsteam müsste auch bald hier sein.»
Einen Moment lang blieben sie in der Wohnungstür stehen. Billy sah müde aus, war aber wahrscheinlich viel zu aufgedreht, um schlafen zu können. Er spielte nervös an der Schließe seines Tatortkoffers herum.
«Und, Billy, was haben Sie für mich?»
«Nichts spricht dafür, dass sie hier getötet wurde. Kein Einbruch, keine Hinweise auf einen Kampf in ihrem Zimmer. Die Mädchen, mit denen sie hier wohnt, waren an dem Abend gar nicht da. Sie sind jetzt bei einer Freundin hier in der Straße, falls Sie sich noch mit ihnen unterhalten wollen.»
«Im Bad haben Sie sich wahrscheinlich auch umgeschaut?»
«Klar. Im Abfluss waren ein paar Haare, aber ich würde mein Jahresgehalt drauf verwetten, dass die von den Mitbewohnerinnen stammen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dieser Wohnung hier und dem Luke-Armstrong-Tatort.»
«Badeöle?»
«Massenhaft. Und wir werden sie natürlich alle testen, aber meines Erachtens riecht keins davon wie das Badewasser, aus dem wir den kleinen Armstrong gefischt haben.» Er gähnte. «Wenn ihr noch zehn Minuten hier seid, würde ich dann jetzt gehen. Wie gesagt, das Durchsuchungsteam ist schon unterwegs. Das Zimmer des Opfers ist ganz hinten links.»
Als er fort war, blieben Vera und Joe eine Zeit lang schweigend stehen. Es war kühl im Flur. Gefliester Boden, hohe Decken.
«Nicht gerade die typische Studentenbude», bemerkte Joe. Er schob die Tür zum Wohnzimmer auf, und sie betrachteten die gebeizten Holzdielen, den gusseisernen, offenen Kamin. Ein Sofa mit einem terrakottafarbenen Überwurf, ein Klavier. Alles auffallend ordentlich und pieksauber. «Also, ich könnte mir so eine Wohnung von meinem Gehalt nicht leisten. Wie machen die das bloß? Außerdem dachte ich, Studentinnen sind notorisch unordentlich.»
Vera war schon weiter in die Küche gegangen, die aussah wie die Küchen in einer der Hochglanz-Zeitschriften, in denen sie immer beim Zahnarzt blätterte. Sie machte den Kühlschrank auf. Ein Karton mit Eiern, zwei Plastiktüten mit Salat, Naturjoghurt. In der Tür zwei Flaschen französischer Weißwein.
Es gab drei Zimmer: Zwei gingen nach vorne raus, mit Blick auf die Straße und den kleinen Garten, und eines, Lilys Zimmer, nach hinten. Vera hob sich Lilys Zimmer bis zuletzt auf. Die beiden vorderen Zimmer entsprachen dem Rest der Wohnung: so entsetzlich geschmackvoll, dass Vera am liebsten einen billigen Kunstdruck an die Wand gehängt oder eine scheußliche, billige Vase auf das Fensterbrett gestellt hätte. Die Wohnungen, die sie sich in den Zeitschriften anschaute, waren ihr immer wie Traumgebilde vorgekommen, sie hatte nicht glauben wollen, dass es so etwas wirklich gab. Ihre Arbeit führte sie normalerweise nicht an solche Orte.
Lilys Zimmer war ganz anders. Es war das kleinste Zimmer der Wohnung, kleiner noch als das Badezimmer, und die Möbel darin waren längst nicht so elegant. Sie sahen aus, als hätten die Vorbesitzer sie beim Verkauf der Wohnung dagelassen. Vor dem Fenster, das auf einen kleinen Hof mit Mülltonnen schaute, hingen Spitzengardinen. Im Zimmer standen ein schmales Bett, ein Schreibtisch mit einem Computer und ein funktionaler Kleiderschrank, wie Vera ihn auch hatte, um ihre Kleider zu verstauen. An einer Wand waren billige, unlackierte Regalbretter angebracht, auf denen Taschenbücher standen. Vera streifte ihre Kunststoffhandschuhe über, blieb dann aber einfach nur stehen und sah sich um, ohne etwas anzufassen. Das Zimmer war so klein, dass Ashworth im Türrahmen stehen geblieben war.
«Ein Taschenkalender wäre nicht schlecht», sagte Vera. «Oder ein Adressbuch.»
«Das hat sie doch sicher alles auf dem Computer?»
«Wahrscheinlich. Aber den überlassen wir mal lieber den Experten.» Den speziell für solche Dinge ausgebildeten Durchsuchungsbeamten. Sie hätten sicher einiges dagegen, wenn Vera Beweismaterial befingerte, bevor sie sich der Sache richtig angenommen hatten. Vera zog die Schreibtischschubladen auf. Ringbücher, Schnellhefter. Auf dem Schreibtisch lagen zwei Bibliotheksausweise, einer für die Universitätsbibliothek und einer für die Northumberland Library. Alles so, wie man es im Zimmer einer mustergültigen Studentin erwarten würde. Und doch war dieses Zimmer ganz anders als die Studentenzimmer, die Vera kannte. Die anderen beiden Zimmer enthielten zumindest persönliche Gegenstände: Familienfotos, Geburtstagskarten, Einladungen. Doch Lily hatte fast drei Jahre in diesem Zimmer gelebt, und trotzdem gab es dort absolut nichts von ihr. Keine Fotos, keine Poster. Genauso gut hätte es ein Zimmer in einer anonymen Pension sein können. Erst als Vera den Kleiderschrank öffnete, bekam sie endlich einen Eindruck von der Toten.
Auf den ersten Blick sah man nur Farben. An einem Haken hingen bernsteinfarbene Perlen, ein Seidenschal in Türkis mit eingewobenen Silberfäden, lange rote Satinhandschuhe. Vera zog einzelne Kleiderbügel hervor: eine weite, brombeerfarbene Samtjacke, ein Kleid in Blau- und Grüntönen, Röcke aus bunt bedruckten Baumwollstoffen. In den Regalfächern lagen gefaltete Blusen, Spitzenunterwäsche. Nichts davon konnte billig gewesen sein.
«Soso», sagte Vera. «Anscheinend hat sie sich gerne aufgedonnert.» Sie warf einen Blick auf die Etiketten in der Jacke und in den Blusen. «Einiges ist von Robbins», bemerkte sie. «Aber keineswegs alles. Das hat sie sicher nicht bloß mit Rabatt bekommen. Sie scheint ihr ganzes Geld für Kleider ausgegeben zu haben.»
Das blieb aber auch alles, was sie über Lily Marsh erfuhren. Nichts sonst in diesem Zimmer half ihnen weiter. Sie warteten in der Küche auf das Durchsuchungsteam, ohne ein Wort zu wechseln, und waren froh, als sie den Transporter draußen vorfahren hörten und endlich gehen konnten.