KAPITEL ACHT
Felicity lag bei leicht geöffnetem Badezimmerfenster in der vollen, heißen Badewanne und dachte über die Vergangenheit nach. Eigentlich neigte sie nicht zum Grübeln, und sie fragte sich, woher das jetzt plötzlich kam. Vielleicht weil Peters sechzigster Geburtstag bevorstand, bei solchen Gelegenheiten wurde man ja mitunter ein wenig sentimental. Oder eine Stimmungsschwankung, bedingt durch die Wechseljahre? Oder die Begegnung mit Lily Marsh hatte sie ein wenig aus der Bahn geworfen. Sie beneidete die junge Frau um ihre Jugend und ihre Lebenslust, ihre straffe Haut und ihren flachen Bauch, und sie beneidete sie auch um ihre Unabhängigkeit.
Felicity selbst hatte zu jung geheiratet. Sie war Peter auf einer Party begegnet, ganz zu Anfang ihres Studiums, als sie gerade einmal sechs Wochen an der Uni war. Ihre Eltern hatten versucht, sie dazu zu bewegen, sich an einer Universität zu bewerben, die etwas weiter von zu Hause entfernt war, doch Felicity hatte auch so schon genug Angst vor dem Leben im Studentenwohnheim. Sie brauchte die Sicherheit des Pfarrhauses in erreichbarer Nähe, nur eine Stunde Fahrt entfernt, als Fluchtmöglichkeit. Ihr Vater war Pfarrer, ein sanfter Mensch, der es mit der Theologie nicht so genau nahm, mit der Nächstenliebe dagegen umso mehr. Schließlich fühlte Felicity sich aber überraschend wohl mit dem Studentenleben, sie genoss die neuen Freundschaften, die langen Nächte und vor allem die Begegnungen mit Männern. Sie stellte fest, dass sie anziehend auf sie wirkte. Ihre Schüchternheit schien gut anzukommen – vielleicht betrachteten Männer solche Zurückhaltung ja als Herausforderung. Felicity wusste allerdings nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte, und so ließ sie sich treiben und fühlte sich verwirrt und ein klein wenig verloren dabei, wie Alice im akademischen Wunderland.
Eines Abends landete sie bei einer Party in einer studentischen Hausgemeinschaft in Heaton. Abgeschliffene Bodendielen, indische Baumwolltücher an den Wänden, fremdartige Musik und der betäubende Duft von Gras, den sie erkannte, ohne ihn eigentlich zu kennen. Sie erinnerte sich noch, dass es ziemlich kalt dort war, obwohl sich so viele Leute in den Zimmern drängten. Es war Herbst, es hatte zum ersten Mal gefroren, und es gab keine Heizung im Haus. Draußen auf der Straße war das durchweichte Laub zu kleinen Hügeln gefroren.
Was hatte Peter überhaupt dort verloren? Eigentlich konnte er solche Veranstaltungen nicht ausstehen und fand es unter seiner Würde, nähere Kontakte mit Studenten zu pflegen. Und trotzdem war er da, in Cordhose und handgestricktem Wollpullover, und wirkte so völlig aus der Zeit gefallen, als käme er geradewegs aus einem Kingsley-Amis-Roman. Er trank Bier aus der Dose und schaute trübsinnig drein. Und obwohl er so gar nicht auf diese Studenten-Party passen wollte, war er für Felicity ein irgendwie vertrauter Anblick oder zumindest ein vertrauter Typus. In der Gemeinde ihres Vaters gab es einige solcher einsamen Männer, die sich zur Kirche hingezogen fühlten, weil man sie dort nicht abweisen würde. Der letzte Hilfsgeistliche war ganz entsetzlich schüchtern gewesen. Ihre Mutter hatte sich hinter seinem Rücken über ihn lustig gemacht, und die alternden Jungfern aus dem Dorf hatten mit Lammschmortopf und Früchtebrot um seine Zuneigung gewetteifert.
Doch als Felicity mit Peter ins Gespräch kam, stellte sie fest, dass er ganz anders war als die schmächtigen jungen Christen, die sie aus dem Sommerlager kannte, oder auch der liebenswürdige Hilfspfarrer. Peter war schroff und arrogant und trotz seiner seltsamen Aufmachung sehr von sich eingenommen.
«Eigentlich war ich hier mit jemandem verabredet», erklärte er verärgert. «Aber die Person ist nicht aufgetaucht. Eine kolossale Zeitverschwendung.»
Felicity war sich nicht einmal sicher, ob die unzuverlässige Verabredung nun ein Mann oder eine Frau war.
«Dabei muss ich noch Seminararbeiten korrigieren.»
Erst da wurde ihr klar, dass er gar kein älterer Student war. Man sah ihm nicht an, dass er dreizehn Jahre älter war als sie. Sein Status beeindruckte sie ungemein. Sie hatte sich schon immer zu Männern in verantwortlichen Positionen hingezogen gefühlt und mochte den Gedanken, mit jemandem zusammen zu sein, der die Zügel fest in der Hand hielt, Felicity anleiten und ihr den Weg weisen würde. Schließlich hatte sie wenig Erfahrung mit Männern und war überzeugt, alles falsch zu machen. Da war es doch besser, sich der Führung eines Menschen zu überlassen, der wusste, was er tat.
Sie stellte ihm ein paar schüchterne Fragen nach seiner Arbeit, und er antwortete mit so viel Begeisterung und Elan, dass sie völlig fasziniert war, obwohl sie im Grunde kein Wort verstand. Sie gingen hinaus in die Diele, wo die Musik nicht ganz so laut war, und setzten sich auf die Treppe. Nebeneinander konnten sie nicht sitzen, weil sie ja Platz für die Gäste lassen mussten, die sich schwankend in Richtung Bad bewegten, und so setzte Peter sich auf die oberste Stufe, und Felicity saß zu seinen Füßen.
Das Gespräch war keineswegs einseitig. Er fragte auch nach ihr und hörte aufmerksam zu, als sie von ihrem Zuhause und ihren Eltern erzählte. «Ich bin ein Einzelkind. Ich glaube, ich bin sehr behütet aufgewachsen.»
«Dann muss das alles hier ja ein richtiger Schock für dich sein», bemerkte er. «Das Studentenleben, meine ich.» Und Felicity brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, dass sie den Lärm, das Chaos und die Freiheiten des Lebens an der Universität eigentlich genoss. Offenbar gefiel ihm die Vorstellung, ein verwundbares Geschöpf vor sich zu haben, und es erschien ihr herzlos, ihm zu widersprechen. Sogar für ihren Glauben brachte er Verständnis auf, als fände er das bei jemandem mit ihrem Erfahrungshorizont ganz natürlich, als wäre sie eine Sechsjährige, die ihm gerade anvertraut hatte, dass sie noch an die Zahnfee glaubt. «Ich muss ja auch zugeben, dass sich nicht alles wissenschaftlich erklären lässt», sagte er. Und dann hatte er sie zum ersten Mal berührt, strich ihr übers Haar, wie um ihr zu beweisen, dass er das keineswegs lächerlich fand. Oder allenfalls ein bisschen. Und sie war ihm dankbar für sein Verständnis.
Sie gingen, als die Party noch in vollem Gange war. Peter bot ihr an, sie zu ihrem Studentenwohnheim zurückzubegleiten. Sie fuhren mit dem Bus in die Stadt zurück und spazierten über das Town Moor. Es war bitterkalt; ringsum glitzerte es weiß und silbrig, in allen Senken sammelte sich Nebel, und auch ihr Atem bildete kleine Nebelwölkchen. Am Himmel hing ein dicker weißer Mond. «Wie schwer er aussieht», sagte Felicity. «Als würde er gleich auf die Erde stürzen.»
Eigentlich hatte sie schon mit einem kleinen Vortrag über die Schwerkraft und die Planeten gerechnet, doch stattdessen blieb Peter stehen, wandte sich ihr zu und umschloss ihr Gesicht mit den behandschuhten Händen. «Du bist wunderbar», sagte er. «Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen.»
Erst später wurde ihr klar, wie recht er damit hatte. Er war auf einer Jungenschule gewesen und von dort direkt auf die Universität gewechselt, wo er sich dann voll und ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete. Vielleicht hatte er ja von Frauen geträumt, vielleicht hatten diese Träume ihn auch gequält, wenn sie alle sechs Minuten in sein Bewusstsein drangen. Und ganz sicher hatte er auch erotische Abenteuer gehabt. Aber er hatte sich nie erlaubt, sich ernsthaft ablenken zu lassen. Bis jetzt. Als sie weitergingen, legte er ihr den Arm um die Schultern.
Vor ihrem Wohnheim zog er sie an sich, küsste sie und strich ihr dabei wieder durchs Haar, doch diesmal nicht sanft, sondern mit einer heftigen, rubbelnden Bewegung, die ihr zeigte, wie viel sich in ihm angestaut haben musste. Diese Geste blieb die einzige Ausdrucksform, die er seinem Begehren gestattete. Und Felicity spürte die unterdrückte Leidenschaft, die in ihm knisterte und zuckte wie kleine Stromschläge.
«Wollen wir uns zum Mittagessen treffen?», fragte er. «Gleich morgen?»
Und als sie ja sagte, hatte plötzlich sie das Gefühl, die Zügel in der Hand zu halten. Sie hatte die Macht.
Als er ging, trat eine Kommilitonin aus der Tür. «Wer war das denn?»
«Peter Calvert.»
Die Kommilitonin war beeindruckt. «Von dem habe ich schon gehört. Er soll brillant sein. Ein Genie geradezu.»
Am nächsten Tag führte Peter sie nach Tynemouth zum Essen aus, sie fuhren mit dem Auto hin. Felicity hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie in der Stadt essen würden, irgendwo in der Nähe der Universität. Das Auto und das Restaurant, das zu einem Hotel gehörte und von Geschäftsleuten bevölkert war, zeigten wieder, wie sehr Peter sich von Felicitys Unifreunden unterschied. Es brauchte gar nicht viel, um sie zu beeindrucken. Nach dem Essen stiegen sie den Hang bis zum alten Kloster hinauf und schauten über den Fluss hinweg nach South Shields. Sie gingen am Ufer des Tyne entlang, und Peter zeigte ihr eine Schwarzkopfmöwe. Er hatte ein Fernglas dabei, was sie merkwürdig fand, wo er doch Botaniker war. Damals wusste sie noch nicht, welchem Gebiet seine eigentliche Leidenschaft gehörte.
«Hast du noch Termine heute?», fragte er sie. «Eine Vorlesung vielleicht?» Er nahm ihre Hand, zeichnete mit dem Finger die Linien ihrer Handfläche nach. Die Sonne schien, und so trug er diesmal keine Handschuhe. «Ich will dich zu nichts verführen.»
«Ach nein?»
Er lächelte sie an. «Na, möglicherweise doch. Lass uns noch einen Tee bei mir trinken.»
Er wohnte nicht weit entfernt, in North Shields, in einer Dachwohnung mit Blick auf den Northumberland Park. Das Haus gehörte einem ältlichen Schwesternpaar, das selbst darin wohnte. Eine der beiden arbeitete im Garten, als sie ankamen, und rechte Laub auf dem Rasen zusammen. Sie winkte ihnen freundlich zu und setzte dann ihre Arbeit fort, ohne Felicity ungebührlich viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Wohnung war auffallend ordentlich, und Felicity fragte sich, ob er wohl extra aufgeräumt hatte. Überall standen Bücher. An einer Wand hing eine großformatige topographische Karte, die das Gebiet seiner Feldstudien zeigte, und wenn man hereinkam, fiel man fast über ein Teleskop auf einem Stativ. Es gab ein Wohnzimmer, von dem eine winzige Küche und ein Bad abgingen, und eine weitere Tür, hinter der Felicity das Schlafzimmer vermutete. Diese Schlafzimmertür schien eine fast magische Anziehungskraft auf sie auszuüben, sie musste immer wieder hinschauen, während Peter in der Küche Tee machte. Es war eine getäfelte Tür, unter der weißen Lackfarbe schimmerte die Holzmaserung hervor. Der Türknauf war rund und aus Messing. Felicity fragte sich, ob das Schlafzimmer wohl auch so aufgeräumt war, ob er vielleicht sogar das Bett frisch bezogen hatte. Am liebsten hätte sie heimlich einen Blick hineingeworfen, doch da kam er bereits mit dem Teetablett ins Zimmer zurück. Er hatte Tassen und Untertassen mitgebracht, die nicht zueinander passten, und ein paar Scheiben Früchtebrot mit Butter bestrichen.
Später am Nachmittag betraten sie schließlich dieses Schlafzimmer und schliefen miteinander. Für sie war es das erste Mal und nicht gerade ein weltbewegendes Ereignis. Eine Zeit lang fummelten sie etwas ungeschickt mit einem Kondom herum, mit dem er anscheinend kaum besser umgehen konnte als sie, und am Ende hatten sie es dann wohl doch falsch gemacht, oder es war sonst etwas schiefgegangen, denn bald danach merkte Felicity, dass sie schwanger war. Es musste bei diesem ersten Mal passiert sein. Im Lauf der Zeit wurden sie routinierter, und Felicity begann, Spaß daran zu finden. Selbst an jenem ersten Nachmittag hatte sie bereits eine Art Ahnung davon bekommen, wie wunderbar die Liebe sein konnte, und das war sehr viel mehr, als sie erwartet hatte.
Wenig später, noch ehe sie wusste, dass sie schwanger war, nahm sie Peter mit zu ihren Eltern. Es war ein nasser, unfreundlicher Tag, und obwohl es erst Mittag war, sahen sie bei der Anfahrt zwischen den Bäumen das Licht im Wohnzimmer schimmern und ein Feuer im Kamin. «So war es immer, wenn ich von der Schule nach Hause kam», erzählte Felicity. «Einladend und heimelig.» Peter sprach nicht viel von seinen Eltern. Sie waren Geschäftsleute und offenbar sehr beschäftigt. Felicity gab er das Gefühl, ihr Verhältnis zu ihren Eltern sei sentimental und übertrieben romantisch.
Ihre Mutter hatte eine dicke Gemüsesuppe gekocht, Felicitys Leibgericht, und dazu gab es selbstgebackenes Brot. Nach dem Essen setzten sie sich mit Kaffee und Schokoladenkuchen vor den Kamin. Peter war anfangs recht schweigsam gewesen. Er schien sich ähnlich fehl am Platz zu fühlen wie Felicity an der Universität. Er tastete sich voran. Doch jetzt, als sie vor dem Kamin saßen, schien er sich langsam zu entspannen. Felicity ihrerseits fühlte sich unnatürlich müde. Sie lauschte dem Gespräch wie im Halbschlaf. Peter erzählte von seiner Arbeit, ihr Vater stellte ihm Fragen – nicht aus Höflichkeit (Felicity merkte immer sofort, wenn ihr Vater einfach nur höflich sein wollte), sondern weil es ihn ernsthaft interessierte. Ein Glück, dachte Felicity. Sie verstehen sich. Dann musste sie wohl tatsächlich eingeschlafen sein, denn sie schreckte urplötzlich hoch, als ein Holzstück herunterfiel und Funken schlug, die auf den Kaminvorleger stoben. Ihre Mutter lächelte nachsichtig und machte eine kleine Bemerkung über wilde Partys. Dieselbe bleierne Müdigkeit hatte Felicity auch zu Beginn ihrer späteren Schwangerschaften verspürt.
Es war Peters Idee gewesen zu heiraten. Felicitys Eltern hatten sie überhaupt nicht unter Druck gesetzt; sie schienen sogar ihre Zweifel zu haben, ob diese Eile überhaupt angebracht war: «Ihr seid doch erst so kurz zusammen.» Vermutlich hätten sie Felicity auch unterstützt, wenn sie sich für eine Abtreibung entschieden hätte. Doch Peter bat darum, allein mit ihren Eltern reden zu dürfen. So fuhren sie also ein zweites Mal ins Pfarrhaus, und die drei unterhielten sich in der Küche, während Felicity mit einem Buch im Wohnzimmer saß und mal wieder einnickte. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr die ganze Sache völlig aus der Hand genommen, und war ohnehin viel zu erschöpft, um eine Entscheidung zu treffen.
Auf der Fahrt zurück nach Newcastle fragte sie Peter, was er denn nun mit ihren Eltern besprochen habe. «Ich habe ihnen erzählt, dass ich dich schon in dem Moment heiraten wollte, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.» Felicity glaubte, nie etwas Romantischeres gehört zu haben, und so heirateten sie.
Sie war so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie überrascht aufschreckte, als unten eine Tür zufiel. Das Badewasser war inzwischen nur noch lauwarm. Felicity stieg aus der Wanne, wickelte sich in ein Badetuch, trat auf den Flur hinaus und rief die Treppe hinunter: «Peter? Ich bin hier oben.»
Keine Antwort. Sie schaute über das Geländer nach unten, sah ihn aber nicht. Immer noch in das Badetuch gewickelt, ging Felicity die Treppe hinunter und hinterließ auf jeder Stufe einen feuchten Fußabdruck. Es war niemand im Haus. Sie hatte sich wahrscheinlich nur eingebildet, dass die Tür zugefallen war, und doch wurde sie an diesem Tag das Gefühl nicht mehr los, dass jemand in ihr Haus eingedrungen war.