Die Presse hatte Lily Marshs Eltern wohl noch nicht ausfindig gemacht; falls doch, legte sie ein völlig untypisches Zartgefühl an den Tag. Der junge Polizist, der bei ihnen geblieben war, berichtete, es habe keine Anrufe gegeben und auch keine Besucher, bis auf den Pfarrer aus dem Dorf und Mrs Marshs Schwester.
«Ich glaube, es ist noch nicht ganz zu ihnen durchgedrungen», setzte er hinzu. «Die Mutter redet, als wäre ihre Tochter einfach nur eine Zeit lang verreist und würde irgendwann wiederkommen.»
Das Ehepaar Marsh war um einiges älter, als Vera erwartet hatte. Phyllis, die Mutter, war bei Lilys Geburt schon vierundvierzig gewesen, ihr Mann fünf Jahre älter. «Wir hatten die Hoffnung längst aufgegeben, Inspector. Es war wie ein Wunder.»
Dann besteht für mich ja fast noch Hoffnung. Doch im Grunde wusste Vera, dass sie keine Kinder bekommen würde. Und die Sehnsucht danach war auch längst nicht mehr so stark.
Lilys Eltern lebten in einer gepflegten Doppelhaushälfte. Sie wohnten dort schon, seit sie geheiratet hatten, das erzählte Phyllis, während sie Tee machte. «Es ist alles längst abbezahlt. Wir wollten unserer Tochter wenigstens das hinterlassen. Andere Ersparnisse haben wir ja nicht.» Zum zweiten Mal in dieser Woche lauschte Vera einer trauernden Mutter, die viel zu viel redete, um ihrer Gedanken und Erinnerungen Herr zu werden. Als Vera und Joe eintrafen, war der Ehemann, Dennis, in dem kleinen Gewächshaus hinten im Garten beschäftigt, und dorthin ließen sie ihn auch gleich wieder flüchten, nachdem sie sich vorgestellt hatten. Phyllis begrüßte Joe Ashworth wie einen alten Freund, doch Dennis fiel es offenbar schwerer als seiner Frau, sich zusammenzureißen. Er blickte benommen und verstört drein. «Ich komme später noch zu Ihnen nach draußen», sagte Vera zu ihm, «dann können wir uns ein bisschen unterhalten. Nach dem Tee.»
Vom Fenster des kleinen Wohnzimmers aus sahen sie ihn auf einer umgedrehten Kiste hocken und vor sich hin starren.
«Seine Nerven machen ihm schon immer sehr zu schaffen», erklärte Phyllis, und Vera glaubte, eine Spur von Vorwurf herauszuhören. Gerade jetzt, wo sie seine Unterstützung so dringend brauchte, verlor Phyllis’ Mann die Nerven und stellte auch noch Ansprüche an sie.
Sie saßen zu dritt da, die Teetassen auf dem Schoß. Phyllis entschuldigte sich, weil sie den Zucker vergessen hatte, und sprang noch einmal auf, um ihn aus der Küche zu holen, obwohl niemand welchen nehmen wollte. Sie war eine zierliche, lebhafte Frau Ende sechzig und trug das weiße Haar in einer akkuraten Dauerwelle. «Meine größte Sorge war immer, dass einer von uns sterben könnte, ehe Lily alt genug ist, für sich selber zu sorgen», sagte sie. «Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass sie vor uns gehen würde.» Es war, als müsste sie über Lilys Tod reden, weil sie es sonst nicht glauben konnte.
Im Zimmer hing und stand alles voll mit Erinnerungsstücken an die Tochter. Immer wieder wies Phyllis auf irgendetwas hin. Die Ballett- und Stepptanz-Diplome, die Zertifikate aus der Klavierschule. «Sie stand kurz vor der Meisterklasse, hat dann aber aufgehört, weil sie zu viel für die Schule tun musste. Trotzdem hat sie immer noch sehr gut gespielt. Eigentlich wollte sie auch wieder damit anfangen. Sie meinte, das sei sehr sinnvoll für den Schulunterricht.» Auf dem Kaminsims, auf den Fensterbänken, auf dem Klavier, überall standen Fotos. Lily mit fünf oder sechs bei einem Geburtstagsfest, strahlend vor einem Kuchen in Igelform. Die alljährlichen offiziellen Schulfotos. Mit vierzehn war Lily bereits so hübsch, dass sie sicher einiges Aufsehen erregt haben musste, sogar ungeschminkt und mit Schulpullover. Das war immerhin eine Gemeinsamkeit mit Luke Armstrong. Sie waren beide auffallend attraktiv gewesen. Vera versuchte, aus all dem Gerede einen Hinweis herauszuhören, der ihr half, eine weitere Verbindung zwischen den beiden herzustellen. Dann fiel ihr Blick auf das vergrößerte, gerahmte Foto, das an der Wand hing: Lily bei der Abschlussfeier, mit geliehenem Talar und Barett. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und strahlte übers ganze Gesicht.
«Da scheint sie ja einigen Spaß zu haben», bemerkte Vera. «Mochte sie das Studentenleben?»
«Und wie», sagte Phyllis. «Sie hat es richtig genossen. Ich habe mich so für sie gefreut. Natürlich fiel es mir sehr schwer, sie gehen zu lassen. Ich habe sie fürchterlich vermisst. Aber wir hatten ihr hier ja nicht viel zu bieten. Keine Geschwister, und auch sonst kaum noch junge Leute im Dorf. Und dann auch noch ihr Vater mit seinen Launen … Er wollte, dass sie weiter hier zu Hause wohnt und jeden Tag mit dem Bus in die Stadt fährt, aber mir war gleich klar, dass das nicht gehen würde. ‹Sei froh, dass sie nicht nach Kent oder Exeter gegangen ist›, habe ich zu ihm gesagt. Die hatte sie nämlich auch als Studienorte auf der Liste. ‹Es wird höchste Zeit, dass wir ihr ein bisschen mehr Freiheit lassen.› Und das hat er dann irgendwann auch eingesehen.»
«Hat sie während des Studiums gejobbt?», fragte Vera. «Das machen heutzutage ja die meisten Studenten.»
«In den Ferien hat sie immer gearbeitet, und auch während der Vorlesungszeit am Samstag. Nach dem ersten Jahr im Studentenwohnheim hat sie sich in der Stadt eine Wohnung genommen, zusammen mit zwei anderen jungen Frauen. In West Jesmond. Eine sehr hübsche Wohnung. Mir war nicht ganz klar, wie sie sich das leisten konnte, aber offenbar gehörte die Wohnung dem Vater eines der Mädchen. Er hat sie als Geldanlage gekauft und sie den dreien vermietet. Wir haben sie natürlich unterstützt, so gut wir konnten. Dennis hatte von den Schieferwerken eine Abfindung bekommen, als sie schließen mussten, wir hatten also ein paar Rücklagen.»
«Und wo hat sie während der Ferien gearbeitet?», fragte Vera.
«Bei Robbins, dieser schicken Boutique.»
Vera nickte, sie kannte den Laden. Sie hatte ihn zwar noch nie betreten, aber immerhin schon ins Schaufenster geschaut. Figurbetonte Leinenkleider, blütenweiße Blusen. Blazer ab 250 Pfund aufwärts.
«Ich hatte ja gehofft, dass sie eine Arbeit in der Nähe von Hexham findet, vielleicht in einem Hotel. Dann hätte sie wenigstens den Sommer über zu Hause sein können. Aber sie sagte immer, sie müsste die Miete für ihre Wohnung ja schließlich weiterzahlen, und ein so gutes Gehalt wie bei Robbins bekommt man hier draußen einfach nicht. Und sie hatte auch solche Freude an schönen Kleidern. Schon als kleines Mädchen war sie immer ausgesprochen schick. Sie bekam Prozente auf die Kleider, die sie im Laden kaufte. Sie hat mir immer so schöne Sachen zum Geburtstag geschenkt …» Ihre Hand zitterte, die Teetasse klapperte auf der Untertasse. Ashworth stand auf und nahm ihr die Tasse ab, und Phyllis zog ein kleines Stofftaschentuch aus dem Ärmel und begann zu weinen. «Wir dachten doch, dass sie jetzt wiederkommen würde», stieß sie unter Tränen hervor. «Sie ist doch ein Mädchen vom Land, und die Dorfschulen suchen alle händeringend nach Lehrpersonal. Ich hatte immer dieses Bild im Kopf, dass sie einen netten Jungen heiratet und hier in der Nähe wohnt. Oder zumindest irgendwo, wo ich mit dem Bus hinfahren kann. Und dann ein Enkelkind, solange ich noch nicht zu alt bin, um noch etwas von dem Kleinen zu haben.» Sie atmete tief durch. «Das ist ja alles Unsinn. Achten Sie nicht auf mich.» Wieder schwieg sie, unterdrückte ein weiteres Schluchzen. «Finden Sie einfach nur heraus, wer sie umgebracht hat.»
Vera bedeutete Ashworth, die weitere Befragung zu übernehmen. Er besaß von Natur aus viel mehr Taktgefühl, als sie sich ein Leben lang aneignen konnte. Und sie hatte sich bereits ihr Bild von der Familie gemacht. Das einzige Kind später Eltern, eine übertrieben fürsorgliche Mutter, ein depressiver Vater. Kein Wunder, dass Lily in den Semesterferien nicht nach Hause wollte und sich ihr gutes Gewissen damit erkaufte, dass sie ihrer Mutter reduzierte Kleider von Robbins zum Geburtstag schenkte. Das konnte man ihr nicht mal vorwerfen. Doch Vera brauchte noch weitere Details, und die würde Ashworth besser aus Phyllis herausbekommen, ohne ihr die Illusion von Lily als liebender Tochter zu nehmen.
«Wann haben Sie Lily denn zum letzten Mal gesehen?», fragte er. «Sie konnte sicher nicht oft von der Uni weg. Die Lehrerausbildung ist ja sehr zeitaufwendig. Akademisch anspruchsvoll. Und dann noch die vielen Schulpraktika.»
Das war genau der richtige Ansatz, dachte Vera. Keinerlei indirekte Kritik an Lily. Andernfalls hätte Phyllis auch gleich dichtgemacht.
«Sie hat uns über Ostern besucht», antwortete die Frau.
«Und das war ein schöner Besuch?»
«Wunderbar. Es war fast wieder so wie früher. Am Sonntag hat sie mich sogar in die Kirche begleitet. Es war so ein windiger, sonniger Tag. Die Narzissen haben schon geblüht.»
«Und seither haben Sie sich nicht mehr gesehen?»
«Eigentlich wollte sie ja über Pfingsten kommen», sagte Phyllis rasch. «Aber sie musste eine Hausarbeit schreiben. Da brauchte sie die Bibliothek in der Nähe.»
«Natürlich.» Ashworth lächelte. «Es war ja ihr letztes Semester. Da hatte sie sicher viel zu tun.» Er schwieg einen Moment. «Was für einen Eindruck hat sie denn an Ostern gemacht?»
«Ganz fidel. Sie hatte den Praktikumsplatz bekommen, den sie sich gewünscht hatte. Eine kleine Dorfschule etwas weiter nördlich an der Küste. Man merkte schon, dass ihre Planungen in die Richtung gingen. Sie wollte die richtigen Erfahrungen vorweisen können, um irgendwann hierher zurückzukehren.»
Und Vera wurde klar, wie Phyllis sich das gedacht hatte: der nette Junge und das Enkelkind, das Häuschen ganz in der Nähe. Lily hatte von ihrem Schulpraktikum erzählt, und Phyllis hatte alles Übrige dazugedichtet.
«Sie wird wohl niemanden mitgebracht haben, oder? Einen Freund beispielsweise?»
«Nein. Ich habe ihr zwar immer gesagt, dass ihre Freunde jederzeit willkommen sind, aber sie kam jedes Mal allein.»
«Aber hat sie vielleicht jemanden erwähnt? Bei einer so hübschen jungen Frau muss es doch eigentlich jemanden gegeben haben …»
«Ich wollte sie nicht ausfragen», sagte Phyllis.
«Natürlich, das verstehe ich.»
«Mädchen in ihrem Alter sind ja immer sehr verschlossen. Sie erzählen einem gar nichts mehr.»
«Aber Sie haben doch seit Ostern sicher einmal mit ihr telefoniert?»
«Ich rufe sie jede Woche an. Immer sonntags. Da ist es billiger. Sie hat ja nicht viel Geld, da kann man nicht erwarten, dass sie uns auch noch anruft.»
«Haben Sie sie auf dem Festnetz angerufen oder auf dem Handy?»
«Auf dem Handy. Dann brauchte sie nicht extra zu Hause zu bleiben.»
«Und wie ging es ihr in letzter Zeit?»
«Sehr gut. Sie klang ganz glücklich. Fast euphorisch.»
«Wissen Sie, weshalb es ihr so gutging? Oder war sie einfach immer so?»
«Nein, keineswegs immer. Wir haben ja alle unsere schlechten Tage, nicht wahr? Hinterher habe ich mich natürlich schon gefragt, warum sie wohl so fröhlich war. Ich wollte wissen, ob sie sich schon eine Stelle für September organisiert hat. Da hat sie gesagt, es wäre so einiges ‹in der Pipeline›. Genau so hat sie das ausgedrückt. Es hört sich blöd an, aber ich konnte hören, wie sie dabei lächelt. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht in der Gegend beworben. Hier in der Gegend, meine ich. Vielleicht war sie sogar zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Aber sie wollte nichts weiter erzählen. Wahrscheinlich wollte sie uns keine falschen Hoffnungen machen, damit wir hinterher nicht enttäuscht sind.»
Eine Pause entstand. Draußen vor dem Gewächshaus zog Dennis Marsh eine Dose Tabak aus der Jackentasche und drehte sich eine Zigarette. Phyllis runzelte die Stirn. Wahrscheinlich hielt sie Selbstgedrehte für ordinär und fand, dass man so etwas nicht machte, wenn Besuch da war. Nicht einmal, wenn die eigene Tochter gerade gestorben war.
Ashworth beugte sich vor. «Hat Lily jemals ein Schulpraktikum am Gymnasium in Whitley gemacht?»
«Nein, sie wollte Grundschullehrerin werden. Sie unterrichtete nicht am Gymnasium.»
«Dann hat sie also nie einen Jungen namens Luke Armstrong unterrichtet? Oder hat sie ihn vielleicht irgendwann erwähnt?»
«Wieso? Hat er sie umgebracht?» Sie spuckte die Worte regelrecht aus, so laut und heftig, dass Vera und Ashworth erschraken.
«Nein», sagte Ashworth sanft. «Er wurde ebenfalls ermordet. Und es gibt da gewisse Parallelen.»
Vera ließ die beiden allein. Phyllis war aufgestanden, um neuen Tee zu kochen, und indem sie wieder eifrig plauderte, die Teekanne anwärmte und sich auf die Suche nach Gebäck machte, gelang es ihr mehr schlecht als recht, die Fassung wiederzugewinnen. Joe Ashworth erschien ihr wie der ideale Schwiegersohn, das spürte Vera. Womöglich dachte Phyllis genau in diesem Moment darüber nach, als sie ihm ein weiteres Feigenbrötchen anbot. Von der Küche aus führte eine Glastür in den Garten hinaus, und Vera ging hindurch und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte dieses Gespräch nicht mehr mit anhören. Sie wusste, wie feige das war, aber sie ertrug es einfach nicht.
Dennis hatte sie sicher kommen gehört, doch er schaute erst auf, als sie in der offenen Tür des Gewächshauses stand. Vera zog sich einen Gartenstuhl aus Plastik heran, stellte ihn direkt vor die Tür und setzte sich. Dennis hatte die ausgezehrte, mitgenommene Miene eines Gefängnisinsassen oder Obdachlosen. Davor zumindest hatte Phyllis ihn bewahrt. Bestimmt sorgte sie dafür, dass er sich täglich wusch und rasierte, sich regelmäßig die Fingernägel schnitt und saubere Kleidung trug.
«Erzählen Sie mir von Lily.» Vera stellte beide Füße fest vor sich auf den Rasen.
«Ich hätte nie ein Kind bekommen dürfen», sagte er.
Am liebsten hätte Vera erwidert, dass sie Kinder im Grunde auch für völlig überbewertet hielt, dachte sich dann aber, dass er das wohl kaum hören wollte.
«Ich glaube, es hat kaum jemand das Gefühl, bei seinen Kindern alles richtig gemacht zu haben.»
«Ich kann mich ja kaum um mich selber kümmern.»
«Aber Lily schien sich doch ganz gut zu entwickeln. Das Studium. Die Pläne, Lehrerin zu werden.» Vera hörte die falsche Fröhlichkeit einer Sozialarbeiterin in ihrer Stimme und verabscheute sich selbst dafür.
«Aber sie war niemals glücklich», sagte Dennis. «Nicht richtig zumindest. Schon in der Schule nicht.»
«Wie war sie denn in der Schule?»
«Sehr gut», sagte er. «Doch, doch, an ihrer kleinen Schule war sie sogar immer Klassenbeste. Als es auf den Abschluss zuging, hieß es sogar, sie könnte es vielleicht nach Oxford schaffen.»
Vera wunderte sich kurz darüber, dass Phyllis nichts davon erwähnt hatte, doch als Dennis fortfuhr, begriff sie, warum. «Aber dann war sie bei den Prüfungen längst nicht so gut, wie alle erwartet hatten. Es gab da einen Jungen … ich weiß auch nicht, sie war regelrecht besessen von ihm. Sie war sich sicher, ihn zu lieben. Und dann konnte sie sich nicht mehr richtig konzentrieren. Sie hat zwar alle Prüfungen bestanden, allerdings nicht mit den Noten, die sie für Oxford gebraucht hätte.»
«So was kommt vor», sagte Vera. «Bei jungen Mädchen …»
«Aber das war schon nicht mehr normal», sagte Dennis. «Es war nicht einfach nur die übliche Verliebtheit. Sie war völlig auf ihn fixiert. Sie hat nicht mehr geschlafen, nichts mehr gegessen. Ich war mir sicher, dass sie krank ist. Sie hätte professionelle Hilfe gebraucht. Aber Phyllis wollte das nicht einsehen.»
Vera schwieg.
«Ich wusste Bescheid», fuhr er fort. «Ich kenne mich aus damit. Seit Jahren muss ich immer wieder in psychiatrische Behandlung. Inzwischen nicht mehr ganz so häufig, weil sie anscheinend endlich das richtige Medikament gefunden haben, aber meinen ersten Zusammenbruch hatte ich, als ich ungefähr in Lilys Alter war. Schon ein ziemlicher Zufall, finden Sie nicht auch? Wahrscheinlich hatte sie es von mir. Sie hat die Intelligenz ihrer Mutter geerbt. Und meinen Wahnsinn.»
«Wissen Sie noch, wie der Junge hieß, in den sie auf der Schule so verliebt war?»
Er legte die Stirn in Falten. «Mein Gedächtnis ist nicht mehr besonders gut. Ich würde ja gern behaupten, das liegt an den Elektroschocks, aber wahrscheinlich ist es nur das Alter.»
Sie wartete, hoffte, dass es ihm noch einfallen würde. Sie hatte wenig Lust, Phyllis danach zu fragen und ihr damit nur noch größeren Schmerz zu bereiten.
«Craven», sagte Dennis schließlich. «Ben Craven. Ein sehr netter Junge. Ihn trifft keine Schuld an der Sache.»
«Was ist aus ihm geworden? Hat er ein Studium angefangen?»
Dennis schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, das weiß ich nicht.»
«Sie sagten, Sie sind häufig in psychiatrischer Behandlung gewesen, Mr Marsh. Verraten Sie mir, wo?»
«Im St. George’s. Das ist die psychiatrische Klinik in Morpeth.»
Die erste Verbindung, dachte Vera, zwischen Luke Armstrong und Lily Marsh. Dürftig zwar, aber immerhin ein Ansatzpunkt.
«Und Lily? Wissen Sie, ob sie je in Behandlung war? Vielleicht, nachdem sie von zu Hause ausgezogen ist? Natürlich kann sie nicht in stationärer Behandlung gewesen sein, das hätten Sie ja doch mitbekommen. Aber vielleicht ambulant?»
«Ich habe es ihr empfohlen», sagte Dennis. «Ich habe ihr sogar die Visitenkarte meines Therapeuten gegeben. Aber ich habe keine Ahnung, ob sie den Rat befolgt hat.» Er rang sich ein tapferes Lächeln ab. «Zwei Frauen im Haus, wissen Sie? Glauben Sie, die hören auf mich?»