Herbert Feuerstein

«Ich bin die Macke an sich.»

Herbert Feuerstein wurde am 15. Juni 1937 in Zell am See geboren und ist somit neben Frau Berger und Herrn Schneyder der dritte Ösi im Buche.

Wenn die liebe Lesenation ihn googelt, liest sie, «Feuerstein» – wie Harald Schmidt ihn jahrelang in «Schmidteinander» nannte – sei Journalist, Kabarettist und Entertainer. Dem möchten wir hinzufügen: Und er ist GILBERT HUPH.

Deutsche Komikarbeiter und -arbeiterinnen werden ja häufig herangezogen, wenn es gilt, amerikanische Animationsfilme zu synchronisieren. Aber dass jemand genauso aussieht wie die Rolle, die er spricht, ist neu. Herbert leiht in dem Film «Die Unglaublichen» Gilbert Huph die Stimme und sieht gespuckt so aus. Na gut, Huph ist kein Wurm, keine Kuh, keine Hyäne, sondern ein Mensch. Dennoch. Frisur, Brille … und nicht zuletzt die Größe, oder soll’n wir schreiben, die Kleine, ist 1 zu 1.

Wenn frau dann weitergoogelt, liest sie, «Feuerstein» sei ein hartes, isotropes, sedimentäres Kieselgestein.

Und das trifft’s.

Ich (Hella) hatte immer ein bisschen Angst vor Herbert Feuerstein, bellte er mich doch einst bei einer der ersten Begegnungen mit seinem harten R an: «Du hast deinen Künstlernamen bei mir abgeschrrrieben!!!»

Damit hat er nicht unrecht. Feuerstein war bis 1991 Chefredakteur des deutschen MAD und auch verantwortlich für die Übersetzung der Sprechblasen. Don Martin ist mein Lieblings-MADest Cartoonist. In Deutsch hießen seine Protagonisten «Konrad Kaputtnik» «Friedemann Fröhn» und eben auch «Mafalda von Sinnen». Als Margit Otterbach mich damals bei ihrem Abitur-Umzug anschrie: «Ich bin Margit von Sinnen!», und ich zurückschrie: «Das ist mein Künstlername – kann ich den haben?», und sie: «Ja bitte! Ich schenk ihn dir!», schnallte ich nicht, dass der Name a) aus MAD war und b) Herbert ihn kreiert hatte. Heute weiß ich, dass Herbert Feuerstein auch Erika-Fuchstechnisch für «BAZONG!» Besitzansprüche geltend macht.

 

Seine Arbeit an – für – mit – MAD hat ihn wohl letztlich auch befähigt, die Anleitung für das Brettspiel «Spion & Spion» zu schreiben, die mit der «Essener Feder» für die «beste Spielanleitung» prämiert wurde.

 

Wir durften Herbert bei der Arbeit zu «Genial daneben» besser kennenlernen. Unter den manchmal etwas schroffen, schnellen, sarkastischen Sprechblasen verbirgt sich ein feiner, selbstkritischer, philosophischer Geist, den wir liebenswert finden.

Er scheint uns auch zu mögen, bekamen wir doch tatsächlich zu seinem 70. Geburtstag eine AUSladung, wie alle nichtgewollten Gäste. Zudem besuchte er uns überraschenderweise daheim, obwohl ihm vier Milliarden Termine ein enges Korsett schnüren und wir sicher waren, er würde sagen: «Wenn ihr mich wollt, kommt gefälligst zu mir!» Da ahnten wir noch nicht, dass bei Feuersteins wohl kein Fremder wirklich willkommen ist. Die Gründe dafür erfuhren wir bei folgendem Gespräch. Herbert gab schon zigmal den Frosch in der «Fledermaus» … an dem Tag war er kein Frosch.

 

HvS: Lieber Herbert, gibt es Dinge, die du als Kind getan hast und heute als Erwachsener noch tust?

 

HF: Ihr redet über Sex. Ganz eindeutig.

 

Eher Angewohnheiten. Wir fragen uns, ob du als Kind schon ein verschrobenes Zeitgenösselchen warst, das skurrile Hobbys hatte oder nicht auf Fugen treten konnte, und du denkst: «Eigentlich bin ich als 70-Jähriger noch genauso!»

 

Ich war nicht etwas verschroben, sondern total verschroben, weil ich in meiner Ablehnung gegen Elternhaus und Umwelt völlig isoliert dagestanden habe. Das hat zum Teil zeitgeschichtliche Gründe. Ich war sieben, als der Weltkrieg zu Ende war. Und hatte natürlich die Spannungen mit dem Nazi-Vaterland später in der Pubertät. Meine Familie war mir eher fremd, ich hatte mich immer fast als «selbst gezeugt» gesehen. Das ist bis heute so geblieben. Natürlich bin ich als Kind wie alle sorgfältig über Fugen gestiegen, aber ich habe nie einen Aberglauben daraus entwickelt. Nur einen sehr, sehr frühen Größenwahn. Ich habe mich als Acht- oder Neunjähriger gern in Rollen hineinversetzt: Wenn ich jemand Interessanten im Radio hörte, dann war ich das. Wenn es in der Nachkriegszeit eine Parade von amerikanischen Soldaten gab und da ein Panzer fuhr, dann saß ich drin. Das habe ich gegenüber meinen Schulkollegen frech behauptet. Ich gehe davon aus, dass mir niemand geglaubt hat. Ich habe mit zwölf meine ersten Gedichte geschrieben und hatte einen unerträglichen Schwager, der mich so was von reingelegt hat, weil er sagte, er würde sie drucken lassen, das aber dann nie gemacht hat. Der war eine ganz große Enttäuschung. Ich hatte Schulhefte angelegt, da stand drauf: «Werke I – Herbert Feuerstein», und auf dem zweiten Heft dann «Werke II», wie ich es bei den Prachtbänden von Goethe und Schiller gesehen hatte …

 

Hihi. Du hast die Hefte gedanklich neben den «Faust» und «Die Räuber» ins Regal gestellt?

 

Ja. Ich musste immer irgendwelche besonderen Dinge machen, um zu zeigen, dass ich anders bin. Ich habe mit 15 eine Messe komponiert, die in der Schule aufgeführt wurde. Ich habe selber Orgel gespielt. Oder als 13-Jähriger ein Theaterstück, das ebenfalls aufgeführt wurde, ein kolossales Drama mit fünf Akten, dauerte aber nur etwa 15 Minuten.

 

CS: Waren denn deine Eltern stolz auf dich?

 

Überhaupt nicht. Der Vater war abwesend, in der Endkriegszeit ebenso wie in der Nachkriegszeit. Und die Mutter hatte eigentlich nur einen einzigen Satz zu meiner Erziehung beizutragen, und der lautete: «Wann wirst du endlich normal?»

 

Du sprachst von deinem Schwager – bist du mit einer Schwester groß geworden?

 

Ich hatte eine Schwester, die neun Jahre älter war. Das ist natürlich schon auch ein Fluch. Da leidet man ganz enorm. Die hatte sich dann für einen Typen entschieden, den ich wirklich abgrundtief hasste. Ein Muskelmensch, der immer in Unterhosen durch die Wohnung marschiert ist und geprotzt hat, und ein Nazi war er auch noch.

 

Weißt du, was ich mich gerade frage, weil ich mit einem sozialdemokratischen Vater groß geworden bin: Wie schafft man es denn als Kind schon, sich politisch gegen einen Nazi-Vater durchzusetzen? Zu wissen, dass dessen Position Kacke ist?

 

Das passierte nicht als Kind. Eher in der Vorpubertät, wo man dann sowieso seine Meinung gegenüber Autoritäten, Eltern und Schule grundsätzlich ändert. Als Kind war das nicht so. Ich konnte relativ früh lesen, und man hat mir erzählt, dass ich als Sechsjähriger unter dem Klavier saß und dort Hitler-Reden rezitierte. Durch den Resonanzboden des Klaviers hatte das ein ähnliches Echo wie im Radio. Das fand ich todschick. Das Zerwürfnis mit meinem Vater ist erst gekommen, als er dann zurückkam, da war ich schon zehn. Da war er mir ein Fremder. In der Oberschule begann dann politische Entwicklung und Distanzierung. Ich muss aber im Nachhinein sagen, dass er recht oft versucht hat, auf mich einzugehen und mit mir zu reden. Ich habe das total verweigert. Das tut mir heute leid. Ich wüsste heute gerne sehr viel mehr, was passiert ist, aber ich weiß gar nichts. Ich bin dann als 20-Jähriger in die USA und kam erst wieder zurück, als er tot war.

 

Hast du in Amerika Musik studiert?

 

Nein, das war in Salzburg. Vorher.

 

Warst du musikalisch, künstlerisch «vorbelastet» in der Familie?

 

Nicht von der Familie her. Ich hatte eine alte, pensionierte Schuldirektorin, die einen Narren an mir gefressen hatte. Die hat mich gerettet. Sie hat mich als Sechsjähriger angenommen und mir alles beigebracht, über Mozart, die ganze Klassik, aber auch Literatur. Die hat mich bestärkt, sonst wäre ich wahrscheinlich in dieser Isolierung stecken geblieben.

 

Was würdest du denn sagen, was der große Herbert Feuerstein noch vom kleinen Herbert Feuerstein hat?

 

Die Neugierde. Auf Impulse reagieren. Mein Leben ist nie linear verlaufen. Alle sieben bis zehn Jahre habe ich alles gewechselt.

 

Ist das vielleicht so eine Art Macke, dass du dich alle sieben Jahre häuten musst?

 

Könnte sein. Aber es ist kein Zwang. Es passiert einfach. Irgendwann denke ich mir, man müsste völlig neu anfangen. Ich habe meine verschiedenen Zeiten. Erst die Tageszeitung, dann Verlagsleiter, dann Macher von MAD. Ich war über 50, als ich mit dem Fernsehen angefangen habe. Und dann waren es nochmal sieben, acht Jahre, bis zu meinen letzten vier Büchern. Die sind alle in einem kurzen Zeitraum entstanden, nachdem ich mich vom Fernsehen langsam verabschiedet habe. Es war einfach nicht spannend genug. Und jetzt die Musik.

 

Bist du ein rastloser Mensch?

 

Ja, ziemlich neurotisch. Der enorme Druck, der in mir drin ist, die sofortige Bereitschaft, krank zu werden, wenn ich brachliege. «Der Körper muss leiden» als Grundhaltung. Ich komme ja auch aus dem Katholizismus, wollte Priester werden. Ganz früh. Als Acht-, Neunjähriger habe ich mir ein buntes Tischtuch umgehängt und danach sehr viel über Sex erfahren, weil ich Erwachsenen die Beichte abgenommen habe. Ich habe nicht verstanden, was sie mir erzählten, aber ich habe sie trotzdem von ihren Sünden freigesprochen und ihnen die Absolution erteilt. Ich habe meinen kleinen Bruder, der auch wieder neun Jahre jünger war als ich, öfter aufgebahrt, Blumen um ihn drapiert und die Totenmesse gehalten, was ziemlich makaber war und meine Mutter schwer irritiert hat. Er musste ganz still liegen, und wenn er nicht still gelegen hat, hat er eine gescheuert bekommen.

 

Zwischen dir und deinem kleinen Bruder lagen auch wieder neun Jahre? Ob dieser Rhythmus der neun Jahre auseinanderliegenden Geschwister eventuell etwas mit deinem Lebensrhythmus zu tun haben könnte?

 

Weiß ich nicht.

 

Okay. Überlassen wir das Psychologisieren Lucy van Pelt. Was mich aber noch interessiert: Der kleine Herbert wollte ja gerne berühmt sein … ist es für dich als Erwachsener ein Erfolgserlebnis, dass dein Name aus der deutschsprachigen Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken ist?

 

Nicht wirklich. Das liegt an meiner Negation von Erfolg. Ich kann mit Erfolg überhaupt nicht umgehen. Es ist eigentlich ein Widerspruch: Auf der einen Seite ist der Prahlhans da, und der möchte ihn gern genießen. Auf der anderen Seite steht das Bewusstsein, ein Nichts in einem Universum von Nichtsen zu sein. Diese Demut, die habe ich absolut. Ich habe mit meinen inzwischen 74 Jahren gelernt, dass es sinnlos ist, sich irgendwo «finden» zu wollen. Man muss das annehmen, was man hat.

 

Wieso bist du eigentlich in deinem Alter so topfit?

 

Sport habe ich eigentlich immer abgelehnt. Ich bewege mich viel und heftig, ich trinke kaum Alkohol, und mit Süßigkeiten kann man mich jagen. Das kommt noch aus meiner Kindheit.

 

Weil es damals nichts gab?

 

Stimmt. Und ohne Süßigkeiten keine Karies. Vom Zahnarzt kriege ich immer einen Pokal. Ich habe zwei kleine Plomben und sonst nichts. Keinen einzigen Zahnersatz.

 

Nein!

 

(Herbert öffnet den Mund, und unsere Unterkiefer klappen auch runter vor lauter bewunderndem Staunen über sein makelloses Gebiss.)

 

Hammer! Jetzt, wo du’s sagst.

 

Silvia!

 

Hä?

 

Neid. Neid. Neid.

 

Ich weiß. Ich höre immer 20-Jährige jammern, die weiß Gott was schon alles mit ihren Zähnen haben.

 

Ich dachte immer, wenn man in der Jugend überhaupt nichts Süßes bekommen hat, hat man später einen besonderen Jieper darauf.

 

Da war ich immer auf der asketischen Seite. Da kommt der Urchrist raus, der sagt: «Du kriegst jetzt dein Essen, weil du gearbeitet hast. Wenn du nicht gearbeitet hättest, würdest du jetzt nichts kriegen.» Man kann mich auch mit erlesenen Speisen jagen. Ich weiß nicht, ob ihr’s gesehen habt: Der Schmidt hat zu meinem 70-Jährigen eine Sendung gemacht. Er wusste genau, womit er mich quälen kann: Mit einem 20-Gänge-Menü von irgendeinem Chefkoch. Da litt ich wie ein Tier. Ich war natürlich höflich, konnte aber überhaupt nichts anfangen damit. Und wenn dann noch so ein Pinguin dabeisteht und mir erklärt, dass das gestreichelte Rinder sind … schrecklich ist das.

 

Wo liegt denn dein Genusszentrum? Womit kannst du dich denn verwöhnen?

 

Im Leiden. In der Entsagung.

 

Puuuh. Das ist echt Thema bei dir. Du bist aber nicht mehr in der Kirche?

 

Nein. Ich bin absolut ungläubig. Das war so eine Jugendphase. Aber es zieht mich immer wieder zurück nach Salzburg, da werden dann die Fresken in den Kirchen lebendig und beschimpfen mich.

 

Hat das was mit dem Alter zu tun, dass du dich gerne an die Zeit zurückerinnern möchtest?

 

Das ist fast eine Zwangshandlung.

 

Wobei kannst du denn entspannen?

 

Ich werde ruhig und gelöst beim Wandern in den Bergen, diese Verbindung ist absolut da. So wie Leute, die vom Meer kommen, den Strand brauchen. Allerdings darf ich nicht zu lange in Fels und Firn sein, sonst spüre ich in den Sohlen, wie das zieht, weil da Wurzeln rauswachsen wollen. Ich habe keine Wurzeln.

 

Du hast keine Wurzeln – warum nicht?

 

Ich fühle mich wie ein Findling und habe kein Nationalgefühl, weder als Österreicher noch als Deutscher oder Amerikaner. Familie, Bindungen sind mir unwichtig. Mit Ausnahme meiner Frau. Das ist in der dritten Ehe tatsächlich eine Symbiose geworden. Aber ich habe keinen Freundeskreis. Ich könnte gar nicht damit umgehen.

 

Du hast nie einen Freundeskreis gehabt?

 

Den habe ich mir stetig dadurch zerstört, indem ich weggezogen bin. Einen Freundeskreis muss man im Alter zwischen 15 und 30 aufbauen, danach geht das nicht mehr.

 

Wenn du lange in den Bergen bist und du spürst die Wurzeln, die du nicht hast, aus deinen Sohlen wachsen, wäre als Eremit zu leben eine Option für dich?

 

Damit nerve ich immer meine Frau, wenn wir irgendwo oben auf den Bergen sind. Eine alte Sennhütte, ein hölzernes Jagdhaus, da werde ich sentimental. Gern hätte ich dann auch ein Komponierhäuschen wie Gustav Mahler. Aber das ist zu spät, das wäre die andere Lebensform. In meinem Leben gab es viele Weichen. Wäre ich in Salzburg geblieben, wäre ich heute was ganz Furchtbares. Kultusminister in Österreich oder Festspielpräsident oder irgendjemand, der andere Leute quält oder den Fortschritt verhindert …

 

Vermisst du keine Freunde? Kompensierst du es mit etwas anderem? Der Mensch braucht doch etwas, was ihn aufbaut?

 

Ich kann Nähe schlecht zulassen. In dem Augenblick, wo ein Publikum da ist, mit einer Rampe vorn, kann ich gerne Sympathie entgegennehmen. Aber diese Schwelle zu überschreiten, fällt mir sehr schwer. Ich kann nicht unbefangen in eine Kneipe gehen, eine Hand auf meiner Schulter spüren und eine Stimme hören, die sagt: «Hallo! Komm! Trink einen mit!» Da müsste ich fliehen. Das geht nicht. Also vermeide ich es. Vermisse es auch gar nicht.

 

Gibt es Ängste in deinem Leben, die dein Denken oder Handeln bestimmen?

 

Die Urangst bei mir war immer, abhängig von anderen Menschen zu sein. Das hat mich auch zu manchen beruflichen Schritten bewogen, die weder notwendig noch gut waren. Ich brauche mein «Leck mich am Arsch»-Geld, also genug Kohle, um jederzeit zu dem NEIN sagen zu können. Das war meine Lehre aus New York. Ich bin dort ziemlich mittellos angekommen und hatte keine Chance zu arbeiten. Ich habe also wirklich diese unterste Stufe Amerikas erlebt, die sehr gnadenlos ist. Die hat mir große Angst gemacht, weil ich aus dem sozialen österreichischen Netz gekommen war. Jetzt war ich irgendwo allein und konnte nicht mehr zurück. Daraus habe ich gelernt, dass die existenzielle Grundsicherung für mich wichtig ist, um nicht durchzudrehen oder um die Ängste nicht ins Übermächtige, in die Krankheit umschlagen zu lassen. Ich hatte damals auch große Angst vor Krankheiten, vermutlich die Narbe aus meiner Jugend, als mitten in der Pubertät meine linke Niere entfernt werden musste, in einer Zeit also, wo das noch ein großes medizinisches Spektakel war. Damals hatte ich eine sehr sympathische Berührung mit dem Tod. Denn damals, am Tag vor der Operation, war meine Mutter zum ersten Mal nett zu mir – übrigens auch zum letzten Mal. Sie hat sich verabschiedet und mich angefasst, was sonst nie vorgekommen war. Da freut man sich auf den Tod – als Zustand, in dem Mütter nett werden …

 

(Wir werden bedrückt.)

 

Ihr dürft jetzt nicht betroffen gucken.

 

Wenn du so wenig Zärtlichkeit von deiner Mutter bekommen hast, hast du ja Nähe auch gar nicht gelernt?

 

Na und? So war es eben, und man muss damit umgehen. Mich da jetzt verrückt zu therapieren, das würde nie in Frage kommen.

 

Hast du denn mal ’ne Therapie gemacht?

 

Habe ich tatsächlich, damals in den Sechzigern in New York, als die Psychiater an jeder Straßenecke rumschwirrten wie die Mücken. Aber ich habe es nie ernst genommen. Ich weiß noch, wie mir der Psychoonkel sagte, die Mutter wäre der Grund für alles. Ich habe naiv zurückgefragt: «Ah, Ihre Mutter, die kenne ich doch gar nicht!» Ich habe das gemacht, weil man das erwartet hatte – es war ein Spiel. Ich glaube, in mir gibt es ein paar Ähnlichkeiten mit der ständigen Erwartung von Katastrophen, wie Woody Allen sie hat. Der hat sich ja lebenslang in Therapien begeben und immer an sich «gearbeitet». Daran glaube ich überhaupt nicht. Ich gehe davon aus, dass man nun mal in seiner Persönlichkeit gefangen ist. Sie ist das einzige, was ich habe, damit muss ich umgehen, und das tue ich auch. Zu erwarten, dass sich da was ändert, daran glaube ich nicht.

 

Du hast dich auch ein Leben lang nicht an ein Haustier gebunden?

 

Das hätte ich sehr gerne. Aber dazu sind wir zu umtriebig und mobil. Irgendwann, wenn die große Ruhe kommt, kommt auch der Hund.

 

Ist das so?

 

Das möchte ich gerne. Ich hatte Hunde, ich hatte mal ein Haus in Kenia mit vielen Hunden, das war eine schöne Zeit. Endlich richtige, loyale Freunde …

 

Leidest du unter Lampenfieber?

 

Habe ich bisher kaum, doch nimmt es blöderweise im Alter zu. Der Druck wird größer, weil man an sich mehr zweifelt. Eigentlich habe ich einen ganz einfachen Mechanismus gegen Lampenfieber, denn ich schlage mich nie selber für irgendwas vor, sondern warte geduldig auf Angebote. Und wenn ich dann was annehme, weiß ich, die anderen sind verantwortlich. Wenn ich Scheiße baue, kann ich nichts dafür. Man hätte mich ja nicht nehmen müssen.

 

Wie praktisch!

 

Bist du abergläubisch?

 

Nein.

 

Gar nicht?

 

Gar nicht. Mein Transzendenzbild ist nicht existent. Ich bin ein absoluter Atheist, ein sehr gläubiger Anhänger von Stephen Hawking und seinen Theorien. Ich fange gerade an, die ersten Begriffe der Relativitätstheorie zu verstehen. Versuche, mich in die M-Theorie reinzutasten, in der Hoffnung, mich darin endgültig aufzulösen. Den Anstoß dazu gab mal ein Blick im Keck-Observatorium auf Hawaii, in Entfernungen von mehr als zehn Milliarden Lichtjahren. Wo man angesichts eines Universumalters von 14 Milliarden Jahren und dem Vorher und Nachher, aus dem die Unendlichkeit besteht, ganz schnell erkennt, dass man sehr gut ohne Gott auskommt.

 

Du hast ja Musik studiert und arbeitest derzeit viel mit Musik. Was bedeutet Musik für dich?

 

Musik – und damit meine ich die klassische, ist seit meiner Kindheit eine Herausforderung. Übrigens nicht ungefährlich, weil sie an die Bruchstellen meines Seins führt und jene Teile berührt, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Ich bin scheu und misstrauisch gegenüber Emotionen. Mit meiner Angst vor Nähe lasse ich Emotionen nur ungern an mich herankommen. «Meine» Musik löst manchmal Momente aus, die mich sehr berühren. Da findet mich dann plötzlich meine Frau heulend im Bett und hat keine Ahnung, was jetzt passiert ist. Ich habe deshalb auch ein bisschen Angst vor Musik. Oder eigentlich sehr viel Angst.

 

Herbert, du bist sehr offen. Dafür danken wir dir. Fällt dir spontan etwas ein, wo du sagst, das ist eine Macke von mir?

 

Ich bin übertrieben diszipliniert.

 

Du bist die Macke?

 

Ich bin die Macke an sich, als Ganzes. Wenn man das von außen sieht, würde man sich wundern, dass einer so lebt.

 

Sich wundern? Worüber?

 

Dass man ohne Freunde lebt, in dieser – tja, ich kann es nicht Isolation nennen, weil sie keine ist. Dieses «wesentlich mehr machen, als eigentlich nötig ist». Das Sich-Verbeißen in Arbeit. Diese Angst, etwas nicht mehr bewältigen zu können, nicht mehr damit fertig zu werden, zeitlich wie inhaltlich. Über dem Ganzen liegt auch eine Wolke der Depression, die mich aber nie behindert hat. Im Gegenteil, die Depression befruchtet auch. Sie zwingt einen ja auch zur Stellungnahme, zum Kampf, zur Auseinandersetzung. Es kommt nicht vor, dass ich immobil daliege und sage: «Ich lasse mich jetzt von der Tragik überschütten!» Ich habe auch kein Selbstmitleid. Aber sie ist da, die Sinnlosigkeit der Existenz.

 

Gibt es trotzdem Momente, in denen du sagst: «Ich bin entspannt und glücklich»?

 

Mit Sicherheit. Es kommt vor, wenn ich mich länger in der Natur verlieren kann. Gerade waren wir eine Woche in den Salzburger Bergen wandern. Aber es dauert immer ein Weilchen, bis es funktioniert. Die ersten Tage sind schrecklich. Da habe ich alle möglichen Albträume. Ab dem fünften Tag beginnt das sich einfach aufzulösen. Trotzdem traue ich mich nicht, so zu leben. Ich glaube, das würde nicht gutgehen auf längere Zeit.

 

Welche Charaktereigenschaften braucht deine Frau, damit ihr beide euch gut versteht? Wo seid ihr euch einig?

 

Wir sind uns darin einig, dass ich mit einem wie mir nicht zusammenleben wollte.

 

Prima. Ihr habt also schon mal den gleichen Humor.

 

Es gibt so viele Unterschiede zwischen uns, dass sich dadurch das Näheproblem vielleicht aufhebt. Sie ist ein Ossi, die sind sowieso stark. Sie ist sehr viel jünger, das heißt also, sie hat nach mir demnächst eine zweite Chance auf ein erfüllteres, besseres Leben. Das sage ich ihr ja auch die ganze Zeit.

 

Damit wirst du ihr sehr auf die Nerven gehen …

 

Ja, hör mal, das ist besser als ignoriert werden. Sie ist stark und sehr in sich geschlossen. Ich versuche, ihr in der letzten Zeit einzureden, dass sie ihren Freundeskreis ein bisschen erweitern soll, denn der ist sehr eng gefasst, weil sie gern und schnell Stacheln nach allen Seiten ausfährt. Es stört uns jedenfalls nicht, tagelang niemanden zu sehen. Und wir erschrecken beide fürchterlich, wenn das Telefon klingelt. So gut wie niemand hat meine Telefonnummer.

 

Na, jedenfalls wird deine Frau sich nicht mit dir fadisieren …

 

Das ist das einzige Kompliment, das ich regelmäßig von ihr höre: «Du bist schrecklich, aber amüsant.» Das habe ich auch gelernt im Laufe von drei Ehen, dass man einen Partner, egal ob Mann oder Frau, unterhalten muss. Aber sie kennt auch meine destruktiven Seiten. Ich leide ja selber manchmal drunter, da ist sie auch hilflos, kann aber gut damit umgehen, indem sie sie einfach zulässt. Da gibt es auch nicht den Ansatz des Therapierens.

 

Das habt ihr gemeinsam, dass ihr euch zulassen könnt?

 

Absolut. Das ist die Voraussetzung jeder Beziehung, glaube ich.

 

Fällt dir nicht noch eine Albernheit ein? Wo du sagen kannst: «Oh, oh, da habe ich aber noch einen kleinen Lattenschuss, den ich euch mit auf den Weg geben werde.»

 

So gern würde ich das für euch tun … hm.

 

Also ich weiß aus gut unterrichteten Kreisen, dass du ein sehr schönes Auto fährst.

 

Einen Jaguar.

 

Na also! Den gönnst du dir!?

 

Ach, so wichtig ist der auch wieder nicht. Eigentlich eine banale Sache. Als ich vor 40 Jahren von Amerika zurückkam, hatte ich mir ein bisschen Geld erspart und habe mir auf Anraten einer Frau, in die ich mal für zwei Wochen wahnsinnig verliebt war, einen Jaguar gekauft. Die meinte, ein weißer Jaguar stünde mir.
Das war 1969. In einem Satireverlag, politisch total links, da fährt man nicht Jaguar. Aber das wusste ich nicht, ich kam von Amerika rüber, absolut unschuldig, dort war das nicht so wichtig. Aber dadurch wurde ich in Deutschland politisch unglaubwürdig, ich durfte nicht Steine werfen in Frankfurt, durfte bei keiner Demo mitmachen, ich war einfach ausgegrenzt mit meinem Jaguar. Weil der Wagen unschuldigerweise auch mitgelitten hat und diskriminiert wurde, bin ich der Marke treu geblieben. Seit 40 Jahren. Inzwischen ist das eine ästhetische Beziehung geworden. Außerdem hat die Marke den Vorteil, dass sie nicht dominant ist, sondern sanft, geradezu als Konstruktionsgen. Ein Jaguar macht einfach, was man will. Ich sehe ihn inzwischen als Grabbeigabe. Ich nutze ihn manchmal zwei Monate lang nicht, freue mich aber dann, wenn die Tür aufgeht und er anspringt.

 

Hast du denn auch einen Nato-Knochen wie ich in meiner Elsa? Ich kann meinen alten Jaguar von der Batterie abnippeln, weil Elsa auch gern mal zwei Monate steht, und dann ist die Batterie leer.

 

Ich wüsste gar nicht, wo die Batterie ist. Ich habe noch nie die Motorhaube geöffnet. Ich wäre absolut hilflos. Ich fahre auch mit plattem Reifen. Ich fahre, bis die Felge rattert. Ich habe in Amerika gelernt, dass Autos zur Fortbewegung dienen und nicht als Fetisch-Sexobjekt. Außerdem sehe ich nicht ein, dass man da irgendwo stehen bleiben muss. Da bin ich eher gnadenlos.

 

Du siehst nicht ein, «dass man irgendwo stehen bleiben muss». Danke, Herbert. Ich denke, das war Lebensmotto und Schlusswort in einem.

Des Wahnsinns fette Beute: Macken und Marotten auf der Spur
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