26. Kapitel

»Wir haben sie«, sagte Hauptkommissar Kotten, als er in das enge Vernehmungszimmer trat. Routiniert quetschte er sich an dem Tisch vorbei.

»Wo haben Sie sie gekriegt?«

»Sie stand plötzlich auf dem Köln-Bonner Flughafen, die Pistole in der Hand. Als die Wachleute auf sie zugingen, versuchte sie, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Aber man hat sie in letzter Sekunde entwaffnen können. Die Kollegen bringen sie gerade her.«

Er schob mir einen Stapel Papiere hin. Ich brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, was es war. Mein Vernehmungsprotokoll. Seit drei Stunden befand ich mich in der Gladbacher Polizeidienststelle. Immer noch mit dreckigen Hosen und nassen Füßen.

Kotten setzte sich. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Und ich denke, jetzt kommt alles auf Sie an, Herr Rott.«

»Auf einmal?«

»Nun kommen Sie schon.« Er hob die Hände. »Ich gebe zu, ich habe Sie unterschätzt.«

»Aber Sie haben doch meine Aussage. Wenn Sie sie genau lesen, werden Sie sehen, dass alles zusammenpasst.«

Kotten nickte und betrachtete dabei nachdenklich die Tischplatte. »Sicher tut es das. Aber ein Windstoß, und alles bricht zusammen wie ein Kartenhaus. Wir brauchen das Geständnis von Frau Weißenburg. Sonst kommt der Staatsanwalt damit nie durch.«

»Vernehmen Sie sie. Sie wird zusammenbrechen.«

Er sah mich an. »Glauben Sie das wirklich?«

»Nein. Die ist mit allen Wassern gewaschen.«

»Nun ist es aber so, dass sie ein Geständnis ablegen will.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.«

Ich seufzte. Eine furchtbare Müdigkeit hatte mich erfasst. In mir wütete immer noch der Schmerz, die Angst um Wonne, aber anscheinend hatte sich mein Körper nun in Erschöpfung geflüchtet, um das alles zu ertragen. Seit der Notarzt ihren ohnmächtigen Körper weggeschafft hatte, war ich ohne Nachricht.

»Sie will mit Ihnen reden«, holte mich Kotten aus meinen Gedanken.

»Wer?«

»Die Bundeskanzlerin. Mensch, Rott - Hermine Weißenburg natürlich. Sie hat gesagt, wir kriegen ein Geständnis. Aber nur Ihnen gegenüber.«

Ich blickte auf. »Und was verschafft mir die Ehre?«

»Was weiß ich? Wahrscheinlich haben Sie sie irgendwie beeindruckt. Also, Rott: Wie ich schon sagte. Jetzt kommt es auf Sie an.«

Ich bat Kotten, wegen Wonnes Zustand nachzuhören. Dann betrat ich das Vernehmungszimmer.

Hermine Weißenburg hatte ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und wirkte gefasst. Eine Welle von unbändigem Hass packte mich.

Man schlägt keine älteren Damen, sagte mir mein besseres Ich, aber diese hier hatte auf Wonne geschossen. Nachdem sie auf sie eingedroschen hatte.

Es kostete mich einige Sekunden tiefen Durchatmens, bis ich mich wieder im Griff hatte.

Ich setzte mich.

»Na, Herr Rott? Probleme?«

Mit einem Mal wurde mir klar, dass sie darauf aus war, mich zu reizen. Sie wollte, dass ich auf sie losging. Vielleicht als letzte Möglichkeit, mir zu schaden.

»Ich werde mich nicht zu dem hinreißen lassen, was Sie sich vorstellen«, sagte ich.

»Was stelle ich mir denn vor?«

»Wonne wird durchkommen. Sie wird gegen Sie aussagen. Meine Aussage hat die Polizei schon.«

»Wonne?« Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Die Frau heißt Wonne? Haben Sie was mit ihr? Sie haben was mit Wonne - mein Gott, ist das komisch.« Sie kicherte vor sich hin.

»Wenn Sie fertig gelacht haben, können Sie mir ja erzählen, warum Sie das getan haben.«

»Und wenn ich das nicht tue?«

»Sie wollen eine Aussage machen, Frau Weißenburg. Ich hätte nichts dagegen, nach Hause zu gehen.«

Sie wurde ernst. Sie schien endlich begriffen zu haben.

»Es ist vorbei, nicht wahr?«

»Seit wann wissen Sie, dass Ihr Mann Gabriele Scherf getötet hat?«

Sie senkte den Blick. Sie wirkte, als würde sie sich sammeln.

»Also gut«, sagte sie. »Ich erzähle es Ihnen. Letztes Jahr war Klara Hackenberg bei uns und hat mit Siegfried gesprochen. Ich habe mir erst nichts dabei gedacht, aber ihn hat dieser Besuch schrecklich aufgeregt, und schließlich habe ich es nach und nach aus ihm herausbekommen. Damals glaubte ich, dass unsere Ehe in Ordnung sei, und habe ihn in Schutz genommen. Er hat mir beteuert, dass Gabriele ihn reingelegt hatte. Sie kam einfach nach dem Konzert zu ihm und eröffnete, dass sie mit ihm nach Salzburg gehen wollte. Sofort, verstehen Sie? Als er ihr zu verstehen gab, dass das nicht ginge, hat sie gesagt, dass sie schwanger sei. Er hat trotzdem versucht, die Sache gütlich zu regeln, mit ihr zu sprechen. Er hat ihr vorgeschlagen, sie finanziell zu unterstützen. Er wollte die Trennung. Er konnte sie in Salzburg nicht gebrauchen.«

»Ist mir klar. Weil er schon mit Ihnen zusammen war. Und Sie ihm seine Karriere bahnen sollten.«

»Und weil dieses einfache Mädchen nicht in die Salzburger Gesellschaft gepasst hätte. Da geht es um Hochkultur. Wie sieht denn das aus, wenn ein gefeierter Künstler mit so einem einfachen Ding … Nein, vollkommen ausgeschlossen.«

»Und da ermordet man das einfache Ding eben, auch wenn sie einen liebt?«

»Pah, Liebe … Die war doch nur auf ihren Vorteil aus.«

Ich unterdrückte den Zorn, der in mir aufstieg. Einen Moment lang dachte ich, er würde überkochen, doch dann sagte ich mir, dass man mit Hermine Weißenburg nur noch Mitleid haben konnte.

»Frau Hackenberg ließ also nicht locker.«

»Mir war klar, dass sie unsere Zukunft komplett zerstören konnte, wenn sie herausfinden sollte, was passiert war.«

»Hat sie Ihrem Mann von ihrer Gewohnheit erzählt, morgens zum Dom zu gehen und dabei den Weg an der Dhünn entlang zu nehmen? Oder wie haben Sie davon erfahren?«

»Nicht nur das. Sie müssen sich das so vorstellen: Da ist auf der einen Seite der ehemals bekannte Tenor, auf der anderen Seite diese vertrocknete Alte, die sich darüber freut, sich einmal mit jemandem über ihre Probleme unterhalten zu können. Sie hat meinem Mann alles Mögliche erzählt. Details über das Haus. Von den Schwierigkeiten mit ihrem Sohn. Die Verbindung ihres Sohnes zu diesem Büchel. All die Kämpfe, die sie mit dem missratenen Sprössling zu bestehen hatte. Es brach nur so aus ihr heraus. Sie kam gar nicht auf die Idee, dass Siegfried etwas mit dem Verschwinden von Gabriele zu tun haben könnte. Im Gegenteil - sie hat Siegfried bewundert. Sie hat es genossen, mit dem berühmten Künstler zu plaudern, der so herrlich Kirchenmusik singen konnte. Sie haben sich sehr nett unterhalten …«

»Aber dann war sie ja gar keine Gefahr.«

»Oh doch. Ich kenne diese Sorte Frauen. Am Ende ihres Lebens entwickeln sie eine Kraft, die einem Angst machen kann. Es war nur eine Frage der Zeit. Das wurde mir sofort klar, nachdem sie wieder weg war. Man musste diese Frau nur einmal ansehen, dann wusste man gleich, woran man war. So etwas Verknöchertes …«

»Haben Sie Ihren Plan mit Ihrem Mann abgesprochen?«

»Natürlich. Wir haben es sogar so gedreht, dass er einen Tag später aus Salzburg kam als ich, damit er ein Alibi hat. Er ist erst am Samstagmittag mit der Maschine gelandet, ich kam schon einen Tag früher.«

»Und Sie sind mit dem Bus frühmorgens von Köln nach Wermelskirchen-Tente gefahren, haben sich auf dem alten Bahndamm versteckt. Sie wussten, wo sich der Schlüssel zum Haus befand, sodass Sie den Autoschlüssel und das Messer holen konnten …«

»Reinhold Hackenberg schlief noch. Ich hörte ihn in seinem Zimmer schnarchen. Ich wusste, wann Klara Hackenberg hinunter nach Altenberg fahren würde. Ich holte das Messer und den Schlüssel und fuhr ihr in seinem Wagen nach.«

»Und dann haben Sie sie getötet.«

Sie nickte leicht. Ihr Blick zeigte kein Bedauern.

»Anschließend hatten Sie die Nerven, den Wagen zurück zum Haus in Tente zu fahren und dort wieder abzustellen?«

»Er ist nicht dorthin geflogen.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Was haben Sie eigentlich damit gemeint, als Sie von Ihren Plänen für die Zukunft sprachen?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir sind alt, Herr Rott. Wir wollten Schluss machen mit der Agentur. Wir wollten reisen. Nicht immer nur beruflich. Auch einmal aus Freude. Wir wollten …«

Sie brach ab. Tränen schimmerten in ihren Augen.

»Die Karibik?«, fragte ich und dachte an Wonne, die mir davon berichtet hatte. Jäh brandete der Schmerz wieder auf.

»Ja, die Karibik«, sagte sie. »Zum Beispiel.«

»Aber Sie hätten doch mit Ihrem Mann gehen können … Ich meine, warum haben Sie ihn getötet?«

»Er war es nicht wert.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, dass er in mir plötzlich nur noch Ekel auslöste. Können Sie das nicht verstehen? Mich widerte das an. Er machte ewig mit jungen Frauen herum. Das fing schon kurz nach unserer Hochzeit an. Er hat mehrere uneheliche Kinder. Mittlerweile kommen junge Mädchen zu ihm und glauben, dass er ihr Vater ist. Zuletzt kam diese junge Frau, Ihre Freundin, Wonne …«

Sie wusste es also. Und hatte mir bei unserem Gespräch perfekt etwas vorgespielt.

»Ist denn etwas daran?«

»Das weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich weiß, dass mein Mann mich über Jahre mit allen möglichen Frauen betrogen hat. Ich fühlte mich plötzlich so … benutzt. Ich hatte seinetwegen einen Mord begangen. Als ich heute Morgen im Hotel saß, wurde mir das klar. Als hätte jemand einen Vorhang zur Seite gezogen. Von nun an würden wir beide an diesem Mord schuldig sein. Er würde unsere Ehe noch mehr belasten. Ich würde auf eine ganz neue Art von meinem Mann abhängig sein. Dieses Gefühl lähmte mich.«

Jetzt bildete ich es mir nicht mehr ein, jetzt liefen die Tränen tatsächlich. Etwas in ihr war aufgebrochen. Sie weinte hemmungslos.

»Ich hatte mich so auf diese Zeit der Freiheit gefreut. Der Besuch Ihrer Freundin hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich stellte ihn zur Rede - fragte ihn, wie viele Sprösslinge da draußen noch herumliefen, für die er die Vaterschaft übernehmen würde. Und er verspottete mich. Ich stellte ihn zur Rede, fragte, was mit den anderen Frauen gewesen sei, und da sagte er zu mir, während er seelenruhig seinen Koffer packte: ›Die anderen sind eben besser als du. Du hast es nicht geschafft, aus mir einen Star zu machen. Aber die anderen schaffen es wenigstens, meinen Schwanz nach oben zu kriegen.‹ Können Sie sich das vorstellen? Diese gossenhafte Ausdrucksweise. Die hat er immer wieder mal an den Tag gelegt, wenn er betrunken war … aber im nüchternen Zustand hatte er noch nie so mit mir gesprochen. Und mit einem Mal überlagerte sich das alles - das Bild von dieser Gabriele und der Hass auf ihn, der keinen Deut besser war als diese primitive Person. Ich hatte endlich begriffen, dass auch er aus dem Sumpf der Gesellschaft stammte, und mir wurde klar, wie wenig Zeit mir nur noch bleibt… und in diesem Moment habe ich mich von ihm befreit. Ob Sie es glauben oder nicht - ich kann mich nicht erinnern, wie es passiert ist. Eben hatte er sich noch über das Bett gebeugt, um seinen Koffer zu schließen - und im nächsten Moment lag er tot auf dem Boden. Und ich spürte eine unglaubliche Befreiung … Ich dachte, dass mich nie im Leben jemand verdächtigen würde. Ich bin seelenruhig nach unten gegangen und habe so getan, als würde ich in der Bar auf ihn warten.«

Die Tür öffnete sich. Ein Uniformierter kam herein und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Von Hauptkommissar Kotten«, sagte er und ging wieder.

Ich überflog das Schreiben.

»Man hat in dem Schacht an der Knochenmühle die Überreste einer Leiche gefunden«, sagte ich.

»Gabriele Scherf?« Hermine Weißenburg hatte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche geholt und tupfte sich das Gesicht ab.

»Hier steht, es wurde ein charakteristischer Ohrring entdeckt. Ich nehme an, dass sie es ist.«

Sie schwieg.

»Hätten Sie Ihren Mann nicht getötet, wären Sie jetzt in der Karibik und könnten noch viele Jahre genießen«, sagte ich.

Ohne Vorwarnung hob sie ihr weißes Haar hoch. Darunter war sie vollkommen kahl.

»So viele Jahre auch nicht.«

»Krebs?«, fragte ich.

»Daher das Schmerzmittel. Ich habe noch ein halbes Jahr zu leben, vielleicht neun Monate. Diese Zeit wollte ich nicht mit einem Mann verbringen, der mich zur Mörderin werden ließ, verstehen Sie?«

Ich verstand.

Ein Polizeiwagen brachte mich nach Köln, wo immer noch Wonnes Wagen vor dem Hotel stand. Unterwegs telefonierte ich mit dem Krankenhaus. Nichts Neues. Der Arzt konnte mir nicht sagen, ob sie durchkommen würde. Er erklärte mir irgendetwas über hohen Blutverlust, aber ich hörte nicht richtig zu. In meinen Ohren rauschte es.

»Kann ich zu ihr?«

Die Stimme des Arztes war dunkel und rau. »Das ist sinnlos, Herr Rott. Ich verspreche Ihnen, wir benachrichtigen Sie, wenn sich irgendetwas verändert.«

Den Schlüssel von Wonnes Wagen hatte ich. Nun stand ich vor der roten Stupsnase, und irgendetwas in mir wollte zerreißen.

Ich zwang mich, einzusteigen. Als ich bei Mannis Haus ankam, war es bereits dunkel.

Eine Gestalt löste sich von der Mauer, als ich auf die Tür zuging. Jutta.

»Hallo, Remi.«

»Hallo. Hast du die ganze Zeit hier gewartet?«

»Ich wollte dich nicht anrufen. Ich weiß, was passiert ist. Es tut mir wahnsinnig leid.«

Das ist schon das zweite Mal in den letzten Tagen, wollte ich sagen, aber ich durfte nicht kleinlich sein. Ich war froh, dass ich nicht so viel erklären musste. Jutta hatte ihre Kanäle, ihre Informanten. Niemals hatte ich mich mehr darüber gefreut als jetzt.

Sie umarmte mich. Wir gingen hinein.

»Wie geht es Wonne?«, fragte sie.

»Als ich losgefahren bin, wusste man noch nicht viel. Sie hat eine Menge Blut verloren …«

Wir schwiegen. Jutta fragte mich, ob sie etwas kochen solle, ich lehnte ab. Ich war wie versteinert. Es gelang mir gerade noch, mich aufs Bett zu legen und die Decke anzustarren. Als es dunkel wurde, starrte ich immer noch - nur eben ins düstere Nichts.

Die Nacht verging. Ich hatte das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben, als ich die Augen aufschlug und der graue Morgen im Zimmer stand.

Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es das Telefon gewesen war, das mich geweckt hatte. Ich versuchte aufzustehen, kämpfte gegen den ziehenden Schmerz an. Als ich endlich auf den Beinen war, kam Jutta herein.

»Das Krankenhaus war dran«, sagte sie. »Sie sagen, du kannst zu ihr. Und sie ist über den Berg.«

So schnell wie an diesem Morgen hatte ich mich noch nie angezogen. Wir fuhren los.

In die gleißende Morgensonne hinein.