14. Kapitel

Natürlich hätte ich Matze Büchel auch anrufen können. Aber mein siebter Sinn sagte mir, dass das keine gute Idee war. Damit würde ich ihn nur misstrauisch machen. Zumal er von seinem Cousin und dem Vorstadtcasanova gewarnt worden war.

Die Handstraße führte zwischen dem äußersten Kölner Osten und Bergisch Gladbach Zentrum durch die Vorstadt und war von einer schier endlosen Kette von Einfamilienhäusern und kleinen Mietblöcken gesäumt. Hin und wieder gab es mal eine Abwechslung - ein Fußbodengeschäft mit schönen Parkettmustern im Schaufenster, ein griechischer Stehimbiss, eine Apotheke und eine moderne weiße Kirche.

Ich orientierte mich an den Hausnummern, und ein gutes Stück nach der Abzweigung einer Straße mit dem lustigen Namen »Schneppruthe« hielt ich an. Wenn die Information aus dem Internet richtig war, bewohnte Büchel eines der beiden Flachdachhäuser gegenüber. Ich fragte mich, was ihn ausgerechnet nach Bergisch Gladbach verschlagen hatte. Und dann auch noch in eine solche Gegend, wo der solide Mittelstand lebte.

Keine Vorurteile, ermahnte ich mich. Der Mann kann nach seiner kriminellen Vergangenheit einen ganz normalen Beruf ergriffen und es wieder zu einem seriösen Leben gebracht haben.

Ich stieg aus und näherte mich dem Gebäude mit der richtigen Hausnummer. Die Fenster blickten schwarz auf mich herab, als ich auf den Waschbetonfliesen den Eingang erreichte. Büchel wohnte in der obersten Etage.

Ich sah zu seinen Fenstern hinauf. Beobachtete er mich? Es war sicher keine gute Idee, hier einfach so herumzustehen. Niemand war zu sehen. Auch die Straße lag ziemlich verlassen da und träumte nachmittäglich vor sich hin.

Irgendwo hinter dem Haus hörte ich jemanden sprechen. Ein Mann telefonierte. Instinktiv ging ich auf die Stimme zu und geriet in einen schmalen Durchgang zwischen Haus und Garage, hinter der sich ein Rasenstück ausdehnte. Im ersten Stock ragte ein kleiner Balkon hervor. Und dort saß Matze Büchel, das Telefon am Ohr. Ich erkannte ihn sofort, auch wenn er gesünder aussah als auf dem Polizeifoto. Schlanker. Gebräunt. Ich tippte auf Sonnenstudio.

Er hatte mich nicht gesehen, und so drückte ich mich vor das Garagentor und hörte zu, was er sagte. Jedes Wort war bestens zu verstehen.

»Ja, ganz recht, Frau Rosenau. Markgraf hier.«

Markgraf? Wieso Markgraf? Hatte Matze geheiratet und den Namen der Frau angenommen?

»Ja, es geht um die Anzeige. Hören Sie, es gibt da eine Möglichkeit. Ich weiß, es ist etwas überraschend. Aber ich bin gerade in Köln, und könnte direkt … Ja, sehr schnell. Heute noch. Wie gesagt, ich weiß …«

Und wieso machte er plötzlich den Eindruck eines smarten jungen Starverkäufers? Und das nicht nur in der Art, wie er telefonierte, sondern auch optisch. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich ihn dort oben gesehen hatte. Weißes Hemd, Schlips. Businessmäßig.

War das wirklich Matze Büchel? Hatte er vielleicht noch einen Bruder, der ihm ähnlich sah?

»Ja, ich kann Ihnen die Adresse geben. Ich würde sagen, wir treffen uns dann dort… Wann? Wo wohnen Sie denn?«

Vorsichtig schob ich mich um die Ecke, um ihn mir noch mal genau anzusehen.

»Oh, das ist günstig. Das schaffen Sie in einer halben Stunde. … Ja? Abgemacht? Also, ich gebe Ihnen die Anschrift. Schreiben Sie mit.«

Ich sah Matze jetzt wieder vor mir. Er hatte sich umgedreht und war im Profil zu sehen. War er’s oder war er’s nicht?

Während ich noch dastand und überlegte, tippte mir plötzlich jemand auf die Schulter.

»Was machen Sie denn da?«, brüllte ein Mann so laut, dass Matze aufmerksam wurde und mir das Gesicht zuwandte. Jetzt war ich hundertprozentig sicher, dass er es war, hatte jedoch ein neues Problem. Ich drehte mich um und stand vor einem fetten Mann mit rot angelaufener, schweißglänzender Kugelglatze, der mich böse ansah. In der einen Pranke hielt er einen kleinen Grill, in der anderen eine Packung Holzkohle. Hinter ihm stand ein Auto mit hochgeklapptem Heck. Im Kofferraum wartete eine Plastiktüte, die wahrscheinlich Packungen mit Würstchen enthielt, und ein Kasten Gaffel-Kölsch.

»Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«, dröhnte er wieder.

»Ich komme von den Zeugen Jehovas«, sagte ich. »Es ist Sonntag. Haben Sie heute schon in der Bibel gelesen?«

Der Fettklops steigerte seine Lautstärke und seine Aggressivität. »Bleib mir weg damit!«, brüllte er. »Ihr geht uns schon die ganze Zeit auf den Keks mit euren Käseblättchen. Runter von dem Grundstück, aber dalli!«

Ich gehorchte, schlich zum Auto zurück und beobachtete, wie die kleine Dampflokomotive den Wagen auslud. Als er die Klappe zudonnerte, drehte er sich noch einmal mit finsterem Blick um und erstarrte in der Bewegung, als er mich sah. Wahrscheinlich überlegte er, ob er mich von der Straße ebenfalls verscheuchen konnte. Aber irgendetwas sagte ihm wohl, dass das nicht ging. Dass ich ein Recht hatte, hier zu stehen, auch wenn ich einer von ihm geschmähten christlichen Vereinigung angehörte. Schließlich verschwand er in dem Durchgang zwischen Garage und Garten. Da hinten stieg wohl gleich die Grillparty.

Die Adresse, die Matze der Frau am Telefon gegeben hatte, wusste ich noch. Zurück im Wagen, nahm ich einen Zettel aus dem Handschuhfach und schrieb sie hastig auf. Es war höchste Zeit, hier zu verschwinden.

Als ich den Motor anließ, sah ich Matze gerade aus dem Haus kommen. Er hatte sein weißes Hemd um ein schickes Sakko erweitert und beachtete mich nicht, als ich vorbeifuhr. Im Rückspiegel sah ich ihn das Garagentor öffnen.

Ich folgte der Handstraße bis zur Abzweigung Paffrather, wo es in die Gladbacher Innenstadt ging. Es herrschte kaum Verkehr, und so kam ich gut voran.

Nach der Stadtdurchquerung, vorbei am Gelände der Zanders-Papierfabrik und hinter einem großen neuen Kreisel mit Schienenüberquerung und einer Menge weiß-roter Schranken, hielt ich mich auf der Mülheimer Straße Richtung Köln. Als ich durch das kleine Waldgebiet Thielenbruch fuhr und die Strahlen der langsam untergehenden Sonne auf meiner Windschutzscheibe interessante Muster bildeten, dachte ich wieder an Wonne. Ich bekam schon langsam Entzugserscheinungen.

Ich lenkte mich ab, indem ich über Matze nachdachte. Hätte ich ihn gleich zur Rede stellen sollen?

Mein Bauchgefühl sagte Nein.

Die Tatsache, dass er sich mit falschem Namen am Telefon vorgestellt hatte, machte ihn verdächtig. Und dieses seltsame Outfit …

Eine andere Stimme in mir ermahnte mich wieder: Vielleicht hat er Karriere gemacht. Ein Vorbestrafter kann ein ehrlicher Mensch werden, Remi, vergiss das nicht.

Und der falsche Name?

Ein Missverständnis. Du wirst dich verhört haben.

Neben mir wanderten die alten Thielenbrucher Villen vorbei, und als links die Dellbrücker »Alte Post« erschien - schon die zweite, die mir in diesem Fall begegnete wurde die Gegend wieder städtisch. Gesichtslos. Mietshäuser mit Geschäften im Erdgeschoss, die die typischen Vorstadtbedürfnisse befriedigten: eine Videothek, eine Autowerkstatt. Hin und wieder ein kleiner Supermarkt.

Die Adresse, die ich notiert hatte, lag in Holweide - etwas nördlich der Bergisch Gladbacher Straße. Ich hatte mir vorgestellt, dass sich dort ein Haus befand, wo Matze sich mit irgendwem traf und vielleicht krumme Geschäfte betrieb.

Krumme Geschäfte, hinter die Klara Hackenberg gekommen war.

Und deswegen sterben musste.

Ich war überrascht, als ich an einer Eigenheimsiedlung ankam, die noch im Entstehen begriffen war. Es war eine Reihe gleichförmiger weißer Rohbauten mit spitzen Giebeln, die in den Himmel stachen.

Ich hielt den Wagen auf Abstand, parkte aber so, dass ich alles gut überschauen konnte.

Ein grasgrüner kleiner Peugeot kam herangefahren, stoppte gleich vor dem Baustellenschild, und zwei junge Leute stiegen aus. Höchstens dreißig. Wahrscheinlich ein Ehepaar.

Dann kam Matze. Er rollte im großkotzigen schwarzen BMW an. Die Nummer mit dem Geschäftsmann hatte er perfekt drauf.

Der Wagen hatte weder Gladbacher noch Kölner Kennzeichen. Das Nummernschild begann mit SL. Mir dämmerte, dass es irgendwas im Osten sein musste.

Das junge Paar ließ seine Blicke über die Baustelle wandern. Über die weißen Mauern. Die hellbraune aufgerissene Erde. Die Bretter, die Wege über die ausgehobenen Gruben bahnten. Über die Berge von Baumaterial, die sich dort erhoben, wo später mal ein Garten entstehen sollte.

Ich war sicher, dass sie diesen Garten bereits sahen. Fettes, leuchtendes Rasengrün. Eine Schaukel, auf der ihr Kind spielte. Ein qualmender Grill.

Als Matze neben ihnen parkte, hatte der Mann einen Arm um die Frau gelegt und schien mit der anderen Hand den imaginären Horizont nachzuzeichnen. Als wollte er sagen: Dieses Land wird unser Land sein.

Dabei waren es nur zweihundert Quadratmeter Handtuch in der Kölner Vorstadt.

Jetzt bemerkten sie Matze, der herankam - eine schwarze Aktentasche in der Hand. Man begrüßte sich. Matze wies auf das Brett, das zu den rohen Stufen des Eingangs führte, und sie gingen hinein.

Kurz darauf tauchten sie hinter einer rechteckigen Öffnung in der Mauer wieder auf, die wahrscheinlich mal ein Fenster zur Küche oder zum Wohnzimmer werden sollte.

Ich sah Matze gestikulierend sprechen. Die junge Frau strahlte, dann hielt sich Matze das Telefon ans Ohr. Als er mit dem Telefonieren fertig war, zauberte er ein Blatt Papier hervor. Der junge Mann zückte einen Stift. Matze hielt die Aktentasche als Unterlage zum Unterschreiben hin.

Sichtlich zufrieden verließen alle drei die Baustelle.

Was willst du?, fragte meine innere Stimme, die Matzes Verteidigung übernommen hatte. Wenn das kein ordentlicher Job ist! Der Mann arbeitet in der Immobilienbranche. Und er arbeitet sogar sonntags. Daran solltest du dir mal ein Beispiel nehmen.

Hallo, was tue ich denn hier gerade?, wandte mein wahres Ich ein. Ich hätte den Tag schön mit meiner neuen Freundin verbringen können. Stattdessen hänge ich hier herum und löse Fälle.

Ja, aber dilettantisch, ließ sich die andere Stimme nicht beirren. Dieser Matze ist nämlich die völlig falsche Spur.

»Das werden wir ja sehen«, sagte ich laut vor mich hin.

Drüben wurde noch ein bisschen geredet. Matze fragte die beiden etwas, was bei dem jungen Mann für Stirnrunzeln sorgte. Matze redete weiter, schüttelte den Kopf, gestikulierte wieder. Schließlich holte der Mann eine Geldbörse heraus, entnahm ihr ein paar Scheine und zählte sie Matze in die Hand. Es war unmöglich zu erkennen, wie viel es war, aber es konnte sich ohne Weiteres um zwei-, dreihundert Euro handeln, wenn es Hunderter gewesen waren.

Und was soll das jetzt?, fragte ich mich. Seit wann nehmen Immobilienmakler Bargeld?

Die innere Stimme wusste darauf keine Antwort. Doch dann meldete sie sich wieder - wenn auch etwas kleinlaut. Wahrscheinlich eine Gebühr. Oder eine Art Anzahlung. Siehst du, es hat alles seine Richtigkeit.

Matze brachte etwas zum Vorschein, das wie ein Quittungsblock aussah, riss ein Blatt ab und gab es den beiden. Sie verabschiedeten sich, winkten Matze noch einmal zu und fuhren los. Die Freude auf dem Gesicht der jungen Frau hatte sich noch gesteigert.

Als das Auto um die Ecke gebogen war, stieg ich aus und ging hinüber. Ich erreichte Matze gerade in dem Moment, als er die Autotür schließen wollte. Ich legte die Hand auf den oberen Rand und hinderte ihn daran.

»Herr Büchel? Oder Herr Markgraf? Es tut mir leid, dass ich Sie nicht richtig ansprechen kann, aber ich bin etwas verwirrt wegen Ihrer zwei Namen.«

Matze sah sich um - und in seinem Blick erschien der Ausdruck eines gejagten Wildes, das nicht sicher ist, ob noch mehr Verfolger in der Nähe sind. Eine Sekunde später wurde sein Blick wieder selbstbewusster.

»Sie waren doch bei mir zu Hause an der Garage?«

»Ich wollte mit Ihnen reden, aber Sie waren schon weg.«

»Haben Sie was mit einer Sekte zu tun?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Worum geht es denn? Wer sind Sie überhaupt?«

»Sind Sie denn Herr Büchel?«

»Sicher. Sie scheinen mich ja zu kennen.«

»Nicht Markgraf?«

»Da haben Sie was falsch verstanden. Die Firma, für die ich arbeite, heißt so.«

Ich blickte auf die Baustelle. »Immobilien?«

»Das sehen Sie doch. Hören Sie, ich muss weiter. Was wollen Sie?«

Siehst du, sagte die innere Stimme, und ich beschloss, das Thema Büchel und Beruf abzuschließen.

»Mein Name ist Rott«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektiv und arbeite für einen Freund von Ihnen. Reinhold Hackenberg.«

Matze stutzte. »Reinhold beauftragt einen Schnüffler?« Er wirkte belustigt. »Warum das denn?«

Ich erklärte ihm knapp, was passiert war.

»Der soll einen Mord begangen haben? Glaub ich nicht.«

»Sehen Sie - seine Anwältin und ich auch nicht. Die Frage ist jetzt, wer es sonst gewesen sein könnte.«

»Sie suchen wahrscheinlich nach Leuten, die ihn gekannt haben. Die etwas gegen ihn oder gegen seine Alte hatten. Die war ein ganz schöner Drachen, da werden Sie sicher fündig.«

»Ich befasse mich erst mal mit den Freunden.«

»Aber warum? Glauben Sie, ich hätte was damit zu tun? Lassen Sie mich bloß in Ruhe, das rate ich Ihnen.« Plötzlich schlug seine aufgesetzte Souveränität in Aggressivität um. Die Businessfassade bekam Risse. »Die Alte hatte eine Menge Feinde, glauben Sie mir.«

Ich hatte Matze noch nicht verraten, was genau mich zu ihm geführt hatte. Es war Zeit, das nachzuholen.

»Und was ist, wenn jemand Sie gesehen hat? An Klara Hackenbergs Haus? Am Morgen, an dem sie starb?«

»Und wann soll das gewesen sein?«

Eigentlich hätte ich jetzt wieder Aggression erwartet. Aber Matze wirkte vollkommen ruhig und hatte auch seine Sicherheit wiedergefunden.

»Gestern früh um acht. Oder davor.«

Er wandte sich seiner Tasche zu. »Sie haben Glück«, sagte er, während er darin herumwühlte, »dass ich noch keine Zeit hatte, meine Sachen richtig aufzuräumen. Oder Pech, wie man’s nimmt.«

Er hielt mir etwas vor die Nase. Ein Mäppchen mit Blättern im Querformat.

»Nehmen Sie schon. Und schauen Sie es sich genau an. Sie können es von mir aus sogar behalten.«

Ich blätterte die Unterlagen durch. Es waren Flugscheine und andere Reiseunterlagen. Ich erkannte das Logo eines großen Reiseunternehmens auf dem Deckblatt. Dahinter waren die Tickets abgeheftet.

Ich studierte alles genau. Es gab keinen Zweifel. Matze Büchel war gestern Abend von einem zweiwöchigen Portugal-Urlaub zurückgekommen. Kein Wunder, dass er so braun gebrannt war.

»Zufrieden?«, sagte er. »Und jetzt würde ich gerne wieder arbeiten. Im Gegensatz zu Ihnen werde ich nämlich nur für wirkliche Erfolge bezahlt. Und nicht fürs Rumstehen.«

»Ich rate Ihnen, das hier gut aufzubewahren«, sagte ich und gab ihm die Unterlagen zurück. »Es kann sein, dass die Polizei Sie auch danach fragt.«

»Danke für den Tipp«, sagte er jovial. »Ich werd dann mal…«

»Und noch eins«, sagte ich und hielt immer noch die Autotür fest, die er zuknallen wollte.

»Ja?«

»Ich soll Sie herzlich von Ihrer Mutter grüßen. Sie macht sich Sorgen um Sie. Sie würde sich freuen, wenn Sie sie mal besuchen würden.«

Damit ließ ich ihn stehen und ging zu meinem Auto zurück. Die innere Stimme meldete sich sofort.

Na? Hab ich dir’s nicht gleich gesagt?

Kaum hatte ich mich in den Wagen gesetzt, übertönte ich die Stimme mit »Dancing Queen« von ABBA und fuhr los.