20. Kapitel

»Ahrens.«

»Jutta? Hier ist Remi.«

»Hast du was rausgefunden?«

»Wusstest du, dass Wonne Mathisen kennt?«

»Du meinst, näher? Nicht nur von der Party?«

Ich befand mich immer noch in Kalk. Auf der Suche nach dem Autobahnzubringer hatte ich mich verfranst. Vor mir war Stau. Absoluter Stillstand.

»Wonne war bei ihm. Ich war gerade angekommen, da rannte sie raus und Mathisen hinterher.« Ich erzählte Jutta, was geschehen war und dass ich mit Frau Weißenburg gesprochen hatte. »Sie behauptet, Wonne und Mathisen hätten ein Interview geführt.«

»Das kann doch sein. Wonne hat den Kontakt vielleicht genutzt, um über Mathisen einen Artikel zu schreiben und Material zu sammeln. Er war mal ein recht berühmter Mann.«

»Das sah mir aber gar nicht nach einem Interview aus. Wonne hat Mathisen geduzt. Sie hat ihn beschimpft. Sie wirkte … wie eine Geliebte, die herausgefunden hat, dass er fremdgegangen ist.«

»Kann es denn nicht sein, dass er sie einfach nur angebaggert hat? Vielleicht hat er sie angefasst. Ich bin mit den Leuten zwar befreundet, aber ich kann nicht ausschließen, dass er sich manchmal so verhält.«

Klar, dachte ich. Jemand, der zwei Rolex-Uhren trägt…

»Also«, fuhr sie fort. »Nur die Ruhe, okay? Das wird sich aufklären.«

Am liebsten hätte ich sofort mit Wonne geredet. Hier und jetzt. Auf der Stelle. Aber natürlich war das unmöglich. Das Beste wäre, ein Schlafmittel zu nehmen und mich so lange hinzulegen, bis sie auftauchte. Damit ich die Zeit bis dahin nicht in dieser quälenden Ungewissheit verbringen musste.

»Hast du Hermine nach Sandro Marino gefragt?«

»Sie sagt, sie kennt den Namen nicht.«

»Hm, das ist merkwürdig.«

»Wieso?«

»Ich habe auch etwas rausgekriegt.«

Ich packte meinen Schmerz, knüllte ihn zusammen wie einen Bogen Papier und warf ihn weg. Seltsamerweise sorgte das für ein wenig Linderung.

»Und was?«

»Dr. Vollrath, ein Bekannter von mir, der schon fast dreißig Jahre im Bergischen Kammerchor singt, hat mir erzählt, dass Sandro Marino Anfang der Siebziger öfter bei Veranstaltungen hier in der Gegend mitgewirkt hat. Er ist Sänger und ist unter anderem im Altenberger Dom aufgetreten. Zu einer Zeit, als auch Siegfried oft hier auftrat. Bevor er die große Karriere startete. Es soll da eine großartige Aufführung von Verdis ›Requiem‹ gegeben haben …«

Verdis »Requiem«. Die Musik, die Wonne so gerne hörte …

Jutta redete weiter. »Anfang der Siebziger hat Hermine Mathisen entdeckt. Sie hat damals ihre Agentur gerade aufgebaut und suchte Künstler, die sie nach Salzburg bringen konnte. Mit Mathisen hat das geklappt.«

»Und sie haben gleich geheiratet. Nicht unpraktisch für seine Laufbahn …«

»Ich denke, ihr muss dabei auch dieser Sandro über den Weg gelaufen sein. Sie muss ihn kennen. Zumindest den Namen.«

Plötzlich kam mir eine Idee. Eine wahnwitzige, absurde Idee, aber vielleicht war ja etwas dran.

»Kann es sein«, fragte ich, »dass Sandro ein Konkurrent für Mathisen war? Dass sie deswegen lügt? Dass sie nicht über ihn reden will?«

»Du meinst, sie ist selbst in den Fall verwickelt?« Jutta klang ehrlich erschrocken.

»Nicht sie. Mathisen. Wenn sie gelogen hat, muss das doch einen Grund haben. Ich bastele mal eine Theorie: Mathisen und Marino waren Konkurrenten. Mathisen hat ihn damals umgebracht, und Klara Hackenberg ist dahintergekommen. Deswegen musste sie sterben.«

»Remi, deine Phantasie geht mit dir durch. Erstens gibt es keinen Hinweis darauf, dass Marino tot ist. Zweitens gibt es keine Verbindung zwischen Klara Hackenberg und Mathisen. Wenn du schon eine mörderische Vorgeschichte suchst, dann solltest du dir mehr Gedanken über Gabriele machen. Sie ist verschwunden, oder nicht? Sonst hätte Klara Hackenberg diesen Meinertzhagen nicht gebraucht.«

»Und was ist mit Hermine Weißenburg, die mich wahrscheinlich angelogen hat?«

»Vielleicht hat sie sich einfach nur geirrt. Oder sich nicht mehr erinnert. Remi, du musst diesen Marino finden.«

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Sobald es dunkel war, musste ich ein zweites Mal das Haus der Hackenbergs durchsuchen. Und diesmal wusste ich, wonach ich suchte. Bis dahin waren es aber noch ein paar Stunden.

»Wie gehst du jetzt weiter vor?«, fragte Jutta.

Ich erklärte es ihr. »Ich hoffe, dass Wonne vorher noch mal auftaucht.«

»Ich wünsche es dir«, sagte Jutta.

»Es ist wirklich bemerkenswert, dass du so gar keine Lust hast, bei meinen Untersuchungen dabei zu sein.«

»Heute Abend kann ich nicht. Ich gehe in die Stadthalle ins Konzert.«

»Na, das passt ja. Sind die Weißenburg und Mathisen auch dabei?«

»Nein, aber sie haben mir die Karten spendiert.«

»Wo du ja jetzt so arm bist, dass du dir keine mehr leisten kannst.«

»Genau.«

Wir verabschiedeten uns. Die winzige Neckerei mit Jutta hatte mir geholfen, aber als ich nun aufgelegt hatte, wurde die Welt wieder grau.

Ich quälte mich durch den Berufsverkehr bis nach Mettmann. Als ich in Mannis Einfahrt einbog, sah ich es schon rot zwischen dem grünen Laub der Büsche leuchten.

Wonnes Wagen stand da. Sie selbst saß auf der Stufe, die zur Haustür führte. Die Ellenbogen aufgestützt, ihre Hände trugen den Kopf. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend.

Als ich ausstieg, stand sie auf und klopfte sich den Staub von der Hose.

Sie kam auf mich zu, legte die Arme auf meine Schultern und küsste mich. Dann ließ sie mich wieder los - vorsichtig, wie etwas, das man nicht kaputt machen will.

»Wir müssen reden«, sagte sie nur.

»Hast du mich gesehen?«

»Was meinst du?«

»Bei Mathisen. Ich war in der Agentur, und da bist du rausgestürmt.«

Sie sah mich ungläubig an. »Das hast du mitbekommen?«

»Ich stand vor dem Tor, und du warst so sauer … und da kam Mathisen dir nach …«

Ich brach ab, sah sie an. Ihr Blick war immer noch auf mich gerichtet, und nun war es vollkommen verschwunden, dieses herrliche sonnige Lächeln. Wonne - ohne Sonne.

Und ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde in mir alles ersterben, als würde sich über alles Schöne, was ich in den letzten Tagen empfunden hatte, Mehltau legen.

Wir müssen reden, hatte Wonne gesagt.

Und das konnte nur eines bedeuten: Es war aus. Da lief irgendwas mit Mathisen, was alles zunichtemachte …

»Gehen wir rein«, sagte sie.

»Halt.« Ich stellte mich vor die Tür. »Sag mir erst, worüber du reden willst. Über uns?«

»Über uns? Nein. Es geht nicht um uns.«

Ein Funke Lächeln. Ein sehr kleiner zwar, aber …

»Es geht um meine Mutter.«

»Das heißt, eigentlich geht es um meinen Vater«, ergänzte sie, als wir uns im Wohnzimmer auf das ungemein bequeme und ebenso gigantische Sofa gefläzt hatten.

Ich sah sie an. Sie wirkte nicht verwirrt, sie wusste nur nicht, wie sie anfangen sollte.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe nie erfahren, wer mein Vater war. Meine Mutter wollte es mir nie sagen. Und letztes Jahr …«

»… ist sie gestorben. Ich weiß.«

»Und ich habe Unterlagen gefunden. Briefe, die sie Männern geschrieben hat. Mehreren, verstehst du? Mehreren Männern, meine ich.«

»Ich verstehe.«

»Sie war Fotografin. Sie hat für die Werbeagentur gearbeitet, bei der auch Jutta früher beschäftigt war.«

»Und?«

»Sie musste alle möglichen Typen fotografieren, und sie ist wohl haufenweise mit ihnen ins Bett gegangen.«

Die wilden Siebziger, dachte ich. Lockere Zeiten. Kein Aids. Zumindest wusste man noch nichts davon.

»Worauf willst du hinaus?«, fragte ich.

»Ich … ich habe gedacht, Mathisen sei mein Vater.«

Meine Unruhe sank in sich zusammen. Der Klotz in meinem Magen löste sich auf.

»Bist du sicher?«

»Nein. Aber sie haben sich gekannt. Ich habe die Briefe gelesen und mir ausgerechnet, dass es zeitlich passte. Und heute bin ich zu ihm gefahren …«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Ich konnte nicht erkennen, ob sie weinte.

»Du hast ihm deinen Verdacht einfach an den Kopf geknallt. In seiner eigenen Firma, womöglich im Beisein seiner Mitarbeiterin oder seiner Frau … Und er war nicht begeistert, wie man sich vorstellen kann.«

Jetzt verstand ich auch, was Wonne auf der Party wollte.

»Du bist auf den letzten Drücker zu Juttas Geburtstagsfeier gekommen, weil du erfahren hast, dass Mathisen da sein würde.«

Sie nickte. »Ich wusste, dass Jutta ihn kennt. Und als die Einladung zur Party kam, habe ich das Interview mit ihm vereinbart. Er sagte mir frei heraus, dass er zu einer privaten Feier ins Rheinland kommen würde, und da brauchte ich nur eins und eins zusammenzuzählen. Als ich dann bei der Feier aufgetaucht bin, hat er mich nicht einordnen können, weil er mich ja nicht kannte.«

»Und du hast schon vor dem vereinbarten Interviewtermin auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihm zu sprechen.« Mir fiel ein, was ich gesehen hatte, als ich von der Feier zurückgefahren war. Wonnes Fiat in einer Einfahrt. »Du hast an dem Abend der Party irgendwo gewartet, um rauszukriegen, in welchem Hotel er wohnt. Aber das funktionierte aus irgendeinem Grund nicht. Deshalb hast du ihn in der Agentur zur Rede gestellt.«

Sie sah mich an. »Du bist echt clever, Remi. Ja, es stimmt. Mein Fiat konnte mit dem Taxi nicht mithalten …« Plötzlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. »Ich habe sogar einen Vaterschaftstest von ihm verlangt«, schluchzte sie. »Ach, Remi - ich habe als Kind ein richtiges Familienleben immer vermisst. Ich hätte gerne einen Vater gehabt. Aber meine Mutter hatte noch nicht mal eine feste Beziehung.«

Ich rückte näher heran und legte meinen Arm um sie. In mir fielen die Groschen. Ich verstand jetzt ein bisschen besser, wie Wonne tickte. Warum sie in Tente plötzlich mit diesen Familienfilmen angefangen hatte. Ihre Häuslichkeit, die auf manche sicher spießig wirkte - ganz sicher jedenfalls auf die Generation von Jutta und Wonnes Mutter.

So saßen wir eine Weile da und schwiegen. Es war ein gutes Schweigen, es hätte ewig so weitergehen können. Ich hatte das Gefühl, zuzusehen, wie es draußen immer dunkler wurde. Das Licht verwandelte sich vom Gelb-Weißlichen ins Graue mit einem Stich Blau.

»Möchtest du gar nicht wissen, was ich bei Mathisen wollte?«, fragte ich.

»Das weiß ich schon. Jutta hat mich angerufen und es mir erzählt.«

»Moment mal… Sie hat dich angerufen? Nachdem ich mit ihr gesprochen habe?«

»Aber sie musste mir das sagen, Remi. Es war wichtig. Sie wollte uns helfen. Auch wenn sie mich eigentlich nicht leiden kann. Ich glaube, sie wollte, dass wir uns wieder versöhnen.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine: Jutta hat deine Handynummer? Wieso hat sie mir nichts davon gesagt? Ich hätte sonst was drum gegeben, wenn ich sie heute irgendwie hätte bekommen können.«

»Sie ist erst darauf gekommen, nachdem sie mit dir telefoniert hat. Sie hat einfach in ihrem Adressbuch nachgeschaut und die Nummer meiner Mutter gewählt. Damit lag sie genau richtig. Ich habe den Handyvertrag übernommen.«

Rums, wieder schloss sich eine offene Frage in diesem ganzen Spiel, und es tat einfach nur gut.

Doch da war noch was. Ich kam mir albern vor, die Frage einfach so zu stellen. Deswegen versuchte ich einen Gag zu machen.

»Sag mal, was würdest du sagen, wenn wir hier in diesem Haus Zusammenleben würden?« Ich kam mir ungeheuer schlau vor.

Wonne hob den Kopf und sah mich misstrauisch an. »Du hast gesagt, das Haus gehört einem Freund, und du wohnst in Wuppertal.«

»Das stimmt auch. Aber man wird es sich ja wohl mal vorstellen dürfen. Ich will nur wissen, was du dazu sagen würdest.«

»Ist mir zu einsam.«

»Einsamer als in der Nähe von Bielefeld zu leben?«

Nun entwand sie sich ganz und gar meiner Umarmung. Ihr Körper verhärtete sich, und als sie sich aufgesetzt hatte, berührte sie mich nicht mehr.

»Worauf willst du hinaus?«

Es ging nicht anders, ich musste die Frage stellen. Die Frage, die eigentlich ganz einfach war, die aber - sobald ich sie stellte -wieder so was wie Misstrauen ausdrückte.

»Sei ehrlich, Remi. Alles andere kann ich nicht leiden.«

Das musst du gerade sagen, dachte ich.

»Es geht darum, dass ich gerne wüsste, wo du wohnst.«

»Wo ich wohne?«

»Na ja, nicht nur, wo. Sondern auch, wie, verstehst du? Ich meine, wir hängen immer nur hier bei mir, das heißt bei Manni rum …«

»Was heißt immer? Wir kennen uns gerade mal drei Tage. Und in deiner eigenen Wohnung war ich auch noch nicht. Ich weiß gar nicht, was du hast.«

»Wohnst du nun hier in der Nähe? Oder bei Bielefeld? Oder wo?«

Sie sah mich erstaunt an, und ich konnte richtig sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.

»Bist du immer noch misstrauisch? Ich habe nichts mit Mathisen, das dürfte dir ja mittlerweile klar sein. Meine Mutter hat in Ostwestfalen gelebt, und als sie ins Krankenhaus kam, zog ich erst mal in ihre Eigentumswohnung. Aber ich bin vor einer Woche umgezogen. Ich will wieder nach Köln. Nur meine Möbel stehen noch in der alten Wohnung. Fehlen jetzt immer noch Informationen? Mein Gott, Remi - warum hast du mich das nicht längst schon gefragt?«

»Das heißt, du hast eine Bleibe hier in der Nähe?«

»In Köln-Mülheim. Die Miete und alles andere zahle ich von dem Geld, das ich von meiner Mutter geerbt habe. Knapp sechzigtausend Euro. Ich habe nämlich im Moment keinen Job. Ich will wieder als Journalistin arbeiten, aber so schnell geht das nicht.«

»Du hast aber einen Presseausweis?«

»Ich habe ihn dir gezeigt, erinnerst du dich?«

»Und damit hast du es geschafft, bei der Polizei in Erfahrung zu bringen, wer die Anwältin von Hackenberg ist?«

Sie wirkte plötzlich fassungslos. »Mann, du kannst ja wirklich fragen wie ein Detektiv.«

»Ich bin einer.«

Sie umfasste mich mit beiden Armen und legte ihre Beine über meine Knie. Mit einem Mal wurde ihr Körper wieder weich. Wärme ging von ihr aus, die sich, als sie ihre Lippen auf meine drückte, zu Hitze steigerte.

»Das macht einen irgendwie …«, murmelte sie.

»Was?«

»So befragt zu werden. Es hat was.« Sie unterbrach sich. »Hast du noch mehr Fragen?«

»Wie wär’s mit Abendessen?«, fragte Wonne eine knappe Stunde später.

»Gute Idee. Was gibt’s denn?«

»Ich dachte an Pillekuchen.«

Ich ging rüber in die Küche, um mir ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Da ich noch nicht wieder angezogen war, hatte ich auch kein Feuerzeug am Mann, aber ich wusste, in welcher Schublade der Flaschenöffner war.

»Trink nicht so viel«, sagte Wonne. »Denk dran, dass wir noch in das Hackenberg-Haus wollen.«

Ich streifte mir Unterhose, T-Shirt und Jeans über. Gemächlich leerte ich meine Bierflasche und sah Wonne bei ihren Vorbereitungen zum Kochen zu. Unter ihren Händen sah es aus, als wäre das alles gar nichts. Ein paar Kartoffeln schälen, raspeln. Zwiebeln schneiden, die Kartoffelpampe mit den Zwiebeln in eine Schüssel geben. Alles wirkte elegant und ästhetisch - der Schwung, mit dem sie Eier in die Schüssel aufschlug und dann mit einer einzigen Bewegung Milch aus dem Kühlschrank holte und die Masse mit einem Schuss davon versah. Sie hob mit einer Kelle etwas davon aus der Schüssel und gab es in die Pfanne. Sofort erfüllte ein appetitliches Brutzeln die Küche.

Wonne zwinkerte mir zu. »Riecht besser als Tiefkühlpizza, oder?«

Sie schnitt Scheiben von dunklem Brot ab. Holte Butter aus dem Kühlschrank. Bald waren vier goldgelbe Pillekuchen - die bergische Variante des Reibekuchens - fertig. Mit einem Schwung, der Übung verriet, ließ sie sie auf zwei der bunten Teller rutschen.

»Erklär mir mal genauer, wonach wir diesmal in Klara Hackenbergs Haus suchen wollen«, sagte sie.

»Ich habe ja diese Unterlagen gefunden, und …«

»Du hast sie aber erst heute gelesen«, unterbrach mich Wonne. »Da war ich schon weg. Was steht denn da drin?«

War das wirklich wahr? Ich überlegte. Richtig. Wonne hatte die Auswertung des Ordners gar nicht mitbekommen.

»Ehe du anfängst, kannst du mal Getränke aus dem Keller holen? Oder wo auch immer die sind. Du hast gerade die letzte Flasche Bier genommen.«

»Was möchtest du denn?«

»Ich glaube, zu Pillekuchen passt am besten Bier. Wenn man ihn nicht gerade mit Lachs isst. Aber wir machen hier die Bergische Art. Mit Schwarzbrot und Rübenkraut.«

Rübenkraut … Den dunklen süßen Sirup hatte meine Mutter mir früher manchmal aufs Pausenbrot geschmiert. In einer Zeit, in der es noch keine Schokoriegel gab. Das heißt, es gab sie - aber man bekam sie praktisch nie.

Ich machte mich auf den Weg hinab in Mannis Keller und ging in den Vorratsraum, in dem ein zweiter großer Kühlschrank stand. Auf den Brettern ringsum waren Konserven aufgereiht; einige davon hatte ich für meine Versorgung eingekauft. Die brauchten wir nicht mehr. Die Zeiten, in denen ich von Ravioli und Erbsensuppe aus der Dose lebte, waren vorbei.

Der Kühlschrank war mit Getränken gefüllt - hauptsächlich mit Kölsch, das ebenfalls ich hier deponiert hatte.

Ich wollte mich gerade hinunterbeugen, um zwei Flaschen zu greifen, da traf mich ein Lichtreflex. Er war nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen gewesen. Als ich mich zu dem schmalen Kellerfenster umwandte, glaubte ich draußen Schritte zu hören. Schritte, die sich schnell auf dem Rasen entfernten.

Ich hatte ein Déjà-vu. Wie lange war es her, dass Jutta mich hier besucht hatte? Vier, fünf Tage …

Vorsichtig stellte ich die Flaschen auf dem Betonboden ab, ging zur Tür des Vorratsraums und löschte das Licht. Das Kellerfenster war vergittert, und dahinter stand die Dunkelheit. Wieder verwünschte ich Manni. Wenn man schon keine Alarmanlage hatte, musste man wenigstens für einen Bewegungsmelder sorgen.

Ich stellte das schmale Fenster auf Kipp und lauschte in die Nacht. Es war nichts mehr zu hören. Ich schloss es wieder.

Mit den Flaschen in der Hand schlich ich die Treppe hinauf. Zur Sicherheit öffnete ich die Haustür und blickte hinaus auf den Vorplatz. War vielleicht doch ein Auto gekommen? Nein. Nur mein Golf und die Nussschale.

Die Bäume standen schwarz und still unter dem grauen Himmel. Es hatte sich bewölkt, und die Wolkendecke reflektierte die Lichter der umliegenden Städte. Im Westen war er noch etwas heller. Zum einen weil die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, zum anderen weil dort die großen Ballungszentren lagen. Düsseldorf. Die nördlichen Ausläufer von Köln. Leverkusen. Hinten auf der Hauptstraße zog röhrend ein Motorrad vorbei. Ich schloss die Tür wieder.

Wonne hatte die beiden Teller auf den Tisch gestellt, Besteck, Gläser und Servietten gedeckt und sogar eine Kerze angezündet. In ihren Augen leuchtete der Schein der Flamme.

»Guten Appetit«, sagte sie und tröpfelte etwas von dem schwarzen Rübenkraut auf den Teller. Sie tunkte ein Stück des gelben Kartoffelkuchens ein, veredelte ihn mit dem Sirup, steckte ihn in den Mund, und auf ihren Lippen blieb eine dunkle Spur zurück.

»Du siehst sogar sexy aus, wenn du isst«, sagte ich und öffnete eine neue Flasche.

»Lenk nicht ab. Erzähl lieber.«

Ich aß, trank, und zwischen den Bissen und Bierschlucken berichtete ich.

»Sag mir noch mal, wie dieser Mann heißt, mit dem Gabriele Scherf weggegangen ist«, bat Wonne, als ich geendet hatte.

»Sandro Marino. Ein seltsamer Name … Aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass Klara Hackenberg auch über Matzes Immobilienbetrug informiert war. Das ist und bleibt eine weitere Spur. Deshalb … Was ist denn?«

Wonne wirkte plötzlich überrascht. Sogar alarmiert. Sie hatte wieder einen Bissen auf der Gabel drapiert, bereit zum genussvollen Verzehr, aber sie ließ die appetitliche Portion sinken, legte sie auf den Teller und sah mich an, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Ich kenne ihn«, sagte sie.

»Du kennst diesen Sandro?«

»Nein, aber den Namen …« Sie schob den Teller weg. Es war, als brauche sie plötzlich Platz zum Reden, zum Gestikulieren. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich die Unterlagen von meiner Mutter durchgegangen bin. Die Briefe. Die ganzen Männer, mit denen sie zusammen war … Mein Gott, das darf nicht wahr sein. Weißt du, was das bedeutet?«

»Erklär es mir.«

»Meine Mutter war mit diesem Sandro befreundet. Sie haben sich geschrieben … Ich habe von ihm einen Brief, der an sie gerichtet war.«

Selbst in dem matten Kerzenlicht konnte ich erkennen, dass Wonne blass geworden war. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater. Ihre Mutter hatte etwas mit diesem Sandro gehabt - jedenfalls nahm ich das an.

»Hieß deine Mutter zufällig Gabriele?«, fragte ich. »Stammt sie aus Wermelskirchen?«

»Mensch, Remi, auf was für Ideen du kommst… Unsinn. Sie hieß Yvonne wie ich. Manchmal geben Väter ihre Vornamen an ihre Söhne weiter. Meine Mutter hat es mit ihrer Tochter so gehalten. Außerdem hat sie nichts mit Schmuck zu tun … Nein, ich meine etwas ganz anderes.«

»Ich weiß. Dass Sandro Marino dein Vater ist. Aber kann das denn alles sein? Bist du ganz sicher, dass der Name in den Unterlagen deiner Mutter auftaucht? Und nicht irgendein anderer italienischer Name, der so ähnlich klingt?«

»Absolut.« Wonne wurde unruhig. »Wir müssen los.«

»Wohin? In Hackenbergs Haus?«

»Nein, in meine Wohnung. Wir müssen die Sachen durchgehen. Vielleicht finden wir einen Hinweis.«

»Du meinst, du hast dir die Briefe nicht so ganz genau angesehen?«

»Natürlich nicht jeden. Ich war komplett auf Mathisen fixiert… Das passte irgendwie am besten …«

Mein Mund war trocken. Ich griff nach dem Bier und trank einen Schluck. In meinem Kopf überkreuzte sich alles. Suchten wir nun nach Klara Hackenbergs Mörder? Oder nach Wonnes Vater? Es gab keine Verbindung. Es waren zwei parallel verlaufende Geschichten ohne jeden Berührungspunkt, oder nicht? Der Mord, dessen Motiv immer noch im Dunkeln lag. Und Klara Hackenbergs Versuche, ihre Nichte wiederzufinden. Wonnes Vatersuche. Und Klara Hackenbergs Informationen über Matze. Der ein Alibi hatte. Aber was war mit seinen Kumpels? Oder mit Komplizen aus der Immobilienfirma, die es vielleicht gar nicht gab? Oder arbeitete er allein? Wie hieß die Firma noch mal? Markgraf … Aber wenn es doch um Gabriele ging - um ihr Verschwinden … Ich grübelte und grübelte. Und auf einmal stand eine neue Idee vor mir.

»Wenn Marino wirklich etwas mit dem Mord zu tun hat«, sagte ich, »könnten wir Folgendes annehmen: Sandro Marino hat Gabriele Scherf ermordet, kurz nachdem er sie nach Österreich mitgenommen hat - warum auch immer. Klara Hackenberg sucht heute, alt und einsam, nach ihrer Nichte, und findet heraus, was Marino getan hat. Und er hat dann wiederum sie umgebracht.«

»Ziemlich konstruiert«, sagte Wonne.

»Immerhin eine Theorie, von der wie ausgehen können.«

»Aber wenn Gabriele Scherf umgekommen ist, wo ist dann ihre Leiche?«

»Es gibt immer wieder Fälle von unidentifizierbaren Toten … Der Mord könnte sonst wo passiert sein. Wenn Marino Musiker war, hat er sicher im Ausland Tourneen unternommen.« Ich nahm noch einen Schluck Bier und phantasierte munter drauflos. »Vielleicht waren sie in Südamerika. Oder in Asien. Und sie machen einen Ausflug. Eine Safari oder so was. Und dabei stürzt Gabriele irgendwo runter. Alles sieht nach einem Unfall aus … Sie hat keine Verwandten …«

»Aber wie soll Klara Hackenberg einem solchen Mord denn hier auf die Spur gekommen sein? Und auch dann würde man den Tod der Frau irgendwo amtlich vermerken.«

»Wenn sie einen anderen Namen hatte … Aber es stimmt natürlich. Klara Hackenberg hätte bestenfalls die offizielle Version erfahren. Aber nicht, dass es ein Mord war. Wenn sie einen Verdacht hatte, muss es hier passiert sein. Zu Hause.«

»Du meinst, Gabriele ist gar nicht nach Österreich gegangen? Marino hat das nur vorgetäuscht?«

»Möglich. Aber Klara Hackenberg hat Reisen nach Österreich gemacht…«

Ich trank. Plötzlich war die Flasche leer. Ich fühlte mich luftig und leicht. Die Gedanken galoppierten nur so. Ein Freiheitsgefühl überwältigte mich. Doch dann näherte sich wieder ein Hindernis.

»Kann man einen Menschen verschwinden lassen und dann so tun, als sei er ausgewandert?«, überlegte ich laut.

»In den Siebzigern vielleicht schon. Es gab kein Internet. Noch nicht mal Kreditkarten …«

»Ich muss Jutta anrufen«, rief ich.

»Wieso?«

»Erzähl ich dir gleich. Die Zeit drängt.«

»Gib mir bitte solange den Ordner. Ich will mir das mal ansehen.«

Ich stand auf. Das Bier hinterließ Wirkung. Seltsam - sonst konnte ich drei oder vier Flaschen trinken, bevor ich den Alkohol spürte. Wahrscheinlich hatte ich heute tagsüber zu wenig gegessen. Ich brachte Wonne die Unterlagen.

»Das hier sieht aus wie eine Telefonnummer«, sagte sie und legte den Extrazettel zur Seite.

»Da meldet sich jemand, der keine Ahnung hat, wer Klara Hackenberg oder Gabriele ist«, sagte ich, schon auf dem Weg zum Telefon.

»Dann bedeuten die Ziffern vielleicht etwas anderes.«

Juttas Stimme meldete sich nach dem dritten Klingeln. Ich wollte gerade etwas sagen, als mir klar wurde, dass es nur der Anrufbeantworter war. Mir fiel ein, dass sie ins Konzert wollte.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich dem AB. »Es geht um Sandro Marino. Du hast gesagt, du hast etwas über seine Konzerte in den Siebzigern rausgefunden. Ich brauche Konzertdaten. Wann ist er hier in der Gegend auf getreten und wo? So konkret wie möglich. Danke.«

»Bist du immer so unhöflich Jutta gegenüber?«, fragte Wonne vom Tisch her.

»Wieso? Ich hab doch Danke gesagt.«

»Aber nicht bitte.«

»Egal.«

»Kann es sein, dass du ein bisschen zu viel getrunken hast?«

»Nö«, sagte ich und ließ mich auf den Esszimmerstuhl fallen.

Im selben Moment donnerte etwas. Ein lautes Klopfen, das durch das Haus drang. Kaum hatte ich mich von meinem Schreck erholt, donnerte es wieder.

Schlagartig war ich nüchtern.

»Da stimmt was nicht«, sagte ich mit gedämpfter Stimme.

Alarmiert überlegte ich, wo ich meine Pistole gelassen hatte. Sie lag am Eingang, in der Garderobe. Auf einer Ablage unter den Haken für die Mäntel.

»Geh rauf ins Schlafzimmer«, sagte ich leise.

Wieder Klopfen. Jetzt rief jemand.

»Herr Rott?« Eine dunkle Männerstimme.

Ich gab Wonne ein Zeichen und ging in Richtung Haustür. An der Garderobe angekommen, zog ich die Pistole aus dem Holster.

»Wer ist da?«

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Gut. Aber wer sind Sie?«

Ich wandte mich um. Wonne saß nicht mehr am Tisch. Da war nur noch der Ordner.

»Machen Sie schon auf. Bitte.«

Ich lud die Waffe durch und hielt sie bereit.

»Sagen Sie mir erst Ihren Namen.«

»Brinkmann. Ich wohne zwei Häuser weiter.«

Ich überlegte. Wo sollte das denn sein? Mannis Hütte stand ganz allein. Zwei Häuser weiter gab es nicht.

»Was wollen Sie, Herr Brinkmann?«

»Haben Sie etwas von den Einbrüchen mitbekommen? Da sind welche unterwegs. Ich wollte Sie nur warnen. Überprüfen Sie Ihre Kellerfenster.«

»Danke für die Info. Auf Wiedersehen.«

»Darf ich einen Moment reinkommen? Ich muss Ihnen etwas zeigen. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber …«

Ich behielt die Pistole in der linken Hand. Mit der rechten öffnete ich die Tür einen Spalt.

Das Türblatt knallte mit Wucht nach innen und traf meine Schulter. Die Waffe flog scheppernd über den Steinboden und ging los. Auf den ohrenbetäubenden Knall folgten ein Schmerzensschrei und ein Fluch. Ich konnte nicht erkennen, was passiert war, denn sofort drängten mehrere dunkel gekleidete Gestalten in den Flur. Einer davon packte mich, nahm mich in den Schwitzkasten und drückte meinen Kopf nach unten. Einen Moment lang erkannte ich den Umriss meiner Beretta auf dem Boden, aber ich konnte sie nicht aufheben, weil der Typ, der mich festhielt, mir gerade fast den Arm auskugelte.

Die beiden anderen rannten ins Wohnzimmer. Irgendetwas klirrte. Wieder ein Fluch. Ich malte mir aus, was passieren würde, wenn sie Wonne fanden. Der Gedanke verlieh mir Riesenkräfte, aber sie waren nicht riesenhaft genug, um loszukommen.

Ich gab auf und entspannte mich.

»Bleib ruhig, Arschloch«, zischte der Mann hinter mir, und ich spürte etwas Schmieriges auf meinem Gesicht. Es roch metallisch. Blut. Es tropfte von oben auf den Steinboden, und ich kombinierte messerscharf, dass der Typ von dem Schuss aus meiner Waffe getroffen worden war. Trotzdem verließ ihn nicht die Kraft, mich in seinem eisernen Griff zu halten.

»Macht schon!«, schrie er den anderen zu. »Beeilung.«

Ein Schrei. Von einer Frau.

Wonne.

»Halt schön still«, zischte der Mann. »Und lass diesmal die Bullen aus dem Spiel.«

Die Schritte der anderen näherten sich, und ich wurde losgelassen. Mühsam wollte ich mich aufrichten, aber mein ganzer Oberkörper schmerzte, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten. Ich versuchte, jeden Muskel einzeln zu lockern, doch dann holte der Schatten über mir aus, und etwas traf mich mit solcher Wucht, dass schlagartig Dunkelheit herrschte.