10. Kapitel

»Wer A sagt, muss auch B sagen.« Wonne hängte sich an den dunkelblauen Passat von Frau Dr. Rath, der uns zur JVA in Köln lotste. »Wenn du den Fall lösen willst, dann musst du auch alle Möglichkeiten nutzen, die sich dir bieten.«

Ich hatte den Schock, dass schon wieder etwas über meinen Kopf hinweggeplant worden war, noch nicht verkraftet. Wie lange würde es dauern, bis ich endlich wieder selbst die Fäden der Ereignisse in der Hand hielt?

»Du sagst ja gar nichts. Bist du sauer?«

Eigentlich schon, dachte ich. Nein, versuchte ich den Gedanken zu verdrängen. Ich bin nicht sauer. Nicht, nicht, nicht.

Ommmmm.

In mir zerbrach endgültig das Bild, das ich vorgestern noch von meinem derzeitigen Leben gehabt hatte: schön gemütlich in Mannis Haus zu sitzen und arbeiten anderen zu überlassen.

»Nein, nicht sauer«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Plötzlich bremste der Wagen - und das so abrupt, dass ich nach vorne flog. Wonne schwenkte in die Bucht einer Bushaltestelle. Kaum standen wir, löste sie den Gurt.

Ein Schreck flammte in mir auf. Was war jetzt wieder los?

Meine Gedanken platzten auseinander und zerfielen zu nichts, als sie ihre Lippen auf meine presste. Ich zuckte erst zusammen, weil ich schon wieder erschrocken war, doch nach einigen Herzschlägen entspannte ich mich. Wonnes Zunge schmeckte nach Himbeeren, und auf einmal war die Vision von dem verwunschenen Garten wieder da, die ihre selbst gemachte Marmelade in mir ausgelöst hatte. Sanft strichen ihre Finger über meine Brust; vorsichtig führte sie meine Hand an ihren Hals, dann etwas tiefer …

»Soll ich dir etwas verraten?«, sagte sie eine gefühlte Stunde später, wobei mir klar war, dass nur ein paar Sekunden vergangen waren. Ihre helltürkisen Augen waren ganz nah.

»Was?«, fragte ich heiser.

»Ich finde es superscharf, mit einem Detektiv zusammen zu sein.«

Als wir auf den Besucherparkplatz der JVA einbogen, wartete Frau Dr. Rath bereits.

»Haben Sie sich verfahren?«, fragte sie.

»Wir hatten noch was zu besprechen«, sagte Wonne sachlich.

»Verstehe.«

Wonne wollte aussteigen, aber ich legte meine Hand auf ihren Arm.

»Was ist?«

»Bleib bitte hier.«

»Aber…«

»Tu mir den Gefallen«, sagte ich leise. »Die nehmen unsere Personalien auf. Und wenn rauskommt, dass du eigentlich gar nicht… Du weißt schon …«

Sie nickte verständig.

Ich ging mit der Anwältin hinein, und wir ließen die übliche Prozedur über uns ergehen. Danach folgten wir den Beamten über die Flure und durch diverse Sicherheitsschleusen. Am Ende wurde das Schloss einer grau lackierten Metalltür vor uns geöffnet. Sie schwang auf, und Reinhold Hackenberg erschien, gefolgt von einem JVA-Bediensteten. Er trug immer noch Jogginghose und Turnschuhe, jetzt aber in Kombination mit einem verschossenen dunkelblauen T-Shirt. Offenbar hatte man ihn nach der Verhaftung noch mal nach Hause gebracht, damit er sich etwas zum Anziehen holen konnte.

Hackenberg setzte sich an den Tisch, der neben drei Stühlen das einzige Mobiliar im Raum darstellte, und blickte vor sich hin.

»Guten Tag«, sagte Frau Dr. Rath, und Hackenberg murmelte etwas in seinen aschblonden Dreitagebart.

Er schien uns kaum wahrzunehmen und wirkte wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hat.

»Herr Hackenberg, das ist …« Die Rechtsanwältin brach ab, als ich ihr ein Zeichen machte. Ich spürte, dass man an Hackenberg nur herankam, wenn man sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Ich nahm einen Stuhl und positionierte mich ihm gegenüber.

»Wir holen Sie hier raus«, sagte ich. »Wir versuchen es jedenfalls. Aber dafür müssen Sie uns helfen. Wir brauchen ein paar Informationen.«

Hackenberg ballte die Fäuste.

»Sie waren es nicht«, fuhr ich fort. »Wir wissen das. Wir brauchen nur einen Beweis.«

Die Fäuste blieben geballt. Keine weitere Reaktion.

»Wer könnte es außer Ihnen gewesen sein?«, fragte Frau Dr. Rath, die am Fenster stehen geblieben war. »Sie haben doch am Telefon eine Theorie gehabt.«

Das Licht, das durch die vor Schmutz halb blinde Scheibe hereinfiel, wirkte selbst wie befleckt. Man atmete unwillkürlich flacher, weil man das Gefühl hatte, Dreck oder Staub zu inhalieren.

»Herr Hackenberg, Sie müssen uns helfen«, sagte ich mit Nachdruck.

Als er weiter schwieg, stand ich auf, ging zu Frau Rath und deutete mit dem Zeigefinger auf mich und dann zu Hackenberg. Die Anwältin runzelte die Stirn. Sie verstand erst nicht, doch dann fiel der Groschen, und sie ging zum Ausgang. Auf ein kurzes Klopfen hin rasselte der Schlüssel in der Tür, und Frau Dr. Rath verließ den Raum. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl.

»Es ist besser, wenn wir alleine reden«, sagte ich. »Ich bin übrigens Remigius Rott.«

Der Kopf mit den blonden Haaren hob sich, und zum ersten Mal traf mich Hackenbergs Blick. Seine Augen waren dunkel und wirkten trostlos, fast tot.

»Remi… was? Wer heißt denn so?«

»Kann man sich nicht aussuchen.«

Er nickte. »Auch wieder wahr.«

»Also pass auf, Reinhold. Wir haben nicht viel Zeit. Und ich kann auch nicht so oft kommen wie Frau Dr. Rath. Es ist eh ein Wunder, dass sie mich hier reingelassen haben. Ich brauche Informationen über deine Mutter. Und ich muss wissen, wer deine Freunde sind, von denen du glaubst, dass du ihnen diesen Schlamassel hier zu verdanken hast. Sonst kann ich dir beim besten Willen nicht helfen.«

»Bist du auch Anwalt?«

»Nein. Ich ermittle. Deine Anwältin hat mich engagiert, damit ich deine Unschuld beweise.«

Er sah zum Ausgang, als blicke er Dr. Rath hinterher. »Blöde Fotze.«

»Was hast du gegen sie?«

»Die hilft mir nicht. Die ist eine Freundin von meiner Mutter.«

»Du hast sie selbst angerufen.«

»Das war ein Fehler.«

»Das glaube ich nicht. Immerhin hat sie mich engagiert.«

Er versank wieder in sein dumpfes Brüten.

»Reinhold, hör mir zu. Dein Messer steckte im Rücken deiner Mutter. Dein Auto wurde auf dem Parkplatz in der Nähe gesehen. Du hattest mit deiner Mutter Stress. Jemand hat ausgesagt, dass du dich am Abend vorher mit ihr gestritten hast. Ich glaube, das reicht, um dich eine Weile hierzubehalten. Vielleicht sogar dein Leben lang. Du musst mir jetzt erklären, was für eine Sache das war, die deine Mutter über deine Freunde herausgefunden hat. Darüber habt ihr euch doch gestritten, oder nicht?«

Es war, als würde ich gegen einen Felsen anreden.

»Rate mal, wer die ganze Kohle von deiner Mutter erbt«, versuchte ich es anders.

Ich machte eine Kunstpause, weil ich dachte, er würde sich regen, wenn ich Geld erwähnte. Dann gab ich die Antwort selbst.

»Na du. Wer sonst.«

Der Kopf hob sich. »Echt?«, fragte er.

»Aber nur, wenn wir deine Unschuld beweisen. Wenn du hier rauskommst. Du kriegst das Haus und was deine Mutter sonst so zu vererben hatte.«

Er schüttelte den Kopf. »Die hat mich bestimmt aus dem Testament gestrichen. Wahrscheinlich kriegt der Papst alles. Oder der Kölner Kardinal.«

»Auf keinen Fall.«

»Aber hallo. Du hast die Alte nicht gekannt.«

»Kinder kriegen immer einen Pflichtteil. Von dem konnte sie dich nicht ausschließen. Und so ganz nebenbei: Ich bin sicher, dass du in ihrem Testament ziemlich gut wegkommst. Das hat die Polizei sicher auch schon gecheckt. Die betrachten das als Tatmotiv. Sie glauben, du hättest es auf das Erbe abgesehen. Kann man ja verstehen. Du bist schließlich mehr als klamm, oder?«

Hackenberg schien sich zu entspannen. Langsam lehnte er sich zurück, öffnete die Beine ein bisschen und bot nun den Anblick »Fläzender Proll«.

»Klingt aber trotzdem alles nicht gut«, stellte er fest. »Sieht ganz danach aus, dass ich’s war.«

»Warst du’s denn?«

»Quatsch. Es war Matze. Oder jemand anders. Ich jedenfalls nicht.«

Ich versuchte, seine Position zu imitieren. Gar nicht so einfach. Die Sitzfläche meines Stuhls war zu glatt, sodass ich immer wieder nach vorne rutschte und mit den Schuhen auf dem Boden bremsen musste. Anstrengende Sache.

»Matze?«

»Ja. Meine Mutter hat mit ihm geredet, aber ich hab ihn seit Jahren nicht gesehen, ehrlich.«

»Wer ist Matze?«

»Ein alter Kumpel halt.«

»Geht’s nicht etwas genauer? Warum soll er deine Mutter umgebracht haben?«

»Weil er was am Laufen hat, und meine Mutter hat das rausgekriegt. Da hat er Schiss bekommen.«

»Und was hat er am Laufen? Was wusste deine Mutter?«

»Keine Ahnung.«

»Aber dass deine Mutter Matze getroffen hat, weißt du?«

»Ich denke es mir halt. Weil sie an dem Abend damit ankam. Die hat sich immer eingemischt.«

»Was heißt das genau?«

»Dass ich nicht wieder mit Matze anfangen soll. Sie hätte mit ihm geredet.«

»Wann und wo?«

»Weiß ich doch nicht. Frag ihn doch selbst.«

»Was hat deine Mutter dir denn genau vorgeworfen?«

»Weiß ich nicht mehr. Ich hab ihr kaum zugehört. Irgendwann bin ich in mein Zimmer.«

»Wer hatte einen Schlüssel zu deinem Wagen?«

Er war überrascht, dass ich das Thema Matze erst mal fallen ließ. »Na, niemand.«

»Außer dir.«

»Genau.«

»Wie viele Schlüssel gibt es?«

»Warum willst du das wissen?«

»Ich habe meine Gründe. Antworte einfach.«

»Es gibt zwei. Einen hab ich immer in der Tasche, und der andere hängt am Brett im Flur.«

»Hast du den einen auch in der Tasche, wenn du zu Hause bist?«

Er dachte einen Moment nach. »Nein, dann hängen beide im Flur. Oder sie liegen rum.«

»Also gestern Morgen auch.«

»Klar.«

»Bist du gestern überhaupt weg gewesen?«

»Nö.«

»Was ist denn mit Haustürschlüsseln?«

»Ich habe einen, sie hatte einen.«

»Wann bist du am Morgen aufgestanden?«

Wieder ein bisschen Nachdenken. »So gegen zehn. Meine Mutter war nicht da. Da hab ich mir selbst Frühstück gemacht. Und dann gesurft und so. Gespielt.«

Ich machte mir klar, was das bedeutete. »Gesurft? Gespielt? Bis die Polizei kam?«

»Ja.«

»Du hast neun Stunden vor dem PC gesessen?«

»Ist doch nicht verboten, oder?«

»Was ist mit dem Messer, mit dem deine Mutter umgebracht wurde?«

»Was soll damit sein?«

»Wo wird das normalerweise aufbewahrt?«

»Ich weiß gar nicht, was das für ein Messer gewesen sein soll.«

»Es war ein Messer aus eurem Haushalt.«

»Und wenn schon. Solche Messer gibt’s doch viele.«

»Aber bei euch fehlte eins … Was hat deine Mutter normalerweise den ganzen Tag gemacht?«

»Die war immer oben. Hat gelesen und so. Oft war sie aber auch nicht da.«

»Was hat sie unternommen? Ausflüge?«

»Ja. Ins Sauerland. Manchmal auch nach Österreich. Und Bayern. Glaub ich jedenfalls.«

»Wer hat gekocht? Du selbst?«

»Nein, sie.«

»Ihr habt euch also zum Mittagessen gesehen?«

»Sie hat mir mittags immer was runtergebracht. Wenn sie weg war, hab ich was aufgetaut. Oder Pizza bestellt.«

»Und sie hat auch deine Wäsche gewaschen, hab ich recht? Und ab und zu aufgeräumt. Und dir Geld zugesteckt.«

Hotel Mami in Reinkultur dachte ich. Und das mit vierzig.

»Ab und zu gab’s dann Krach«, sagte er.

»Weil sie das nicht mehr wollte?«

»Ach, die ist ausgeflippt. Da konnte man die Uhr nach stellen. Meistens wenn sie von einer Reise zurückkam oder ein paar Tage später. Da hieß es dann immer, ich sollte mir einen Job suchen und so was alles. Als ob das so einfach wäre. Weiß doch jeder, dass es keine Jobs gibt. Außerdem ist eh alles im Arsch.«

»Wie meinst du das?«

»Was fragst du so blöd? Klima. Krise. Alle sind pleite. Alles ist im Arsch.«

»Weil sich das Klima ändert, willst du dir keinen Job suchen?«

»Na, ist doch eh bald alles am Ende. Man soll leben, oder?«

Ich verzichtete auf eine Grundsatzdiskussion. »Deine Mutter hat es offenbar verstanden, ihr Leben zu leben. Auf ihre Weise. Was ist denn mit dir? Ich habe gehört, du warst schon mal im Knast. Warum?«

»Ist doch egal.«

»Hör mal, ich will dir helfen. Erzähl mir, warum du schon mal im Knast warst.«

»Es war nicht meine Schuld.«

»Wessen dann?«

Er presste die Lippen aufeinander, als wollte er sie mit Gewalt zuhalten.

»Du willst mir nichts erzählen? Also gut. Das ist für mich kein Problem.« Ich stand auf, ging zur Tür und klopfte. Als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, hörte ich Reinhold hinter mir: »He, Remi oder wie du heißt. Jetzt komm schon …«

Sein Rufen verhallte, als ich draußen war und der Beamte wieder abschloss. »Ist die Besprechung vorbei?«, fragte er.

»Mal sehen. Wo ist Frau Dr. Rath?«

Der Beamte zeigte den Gang hinunter, und ich sah die Rechtsanwältin ein Stück weiter neben einem glatzköpfigen Mann stehen. Kotten.

»Herr Rott«, begrüßte er mich. »Man könnte glauben, Sie suchen den Kontakt mit der Polizei geradezu.«

»Ich bin offiziell hier«, sagte ich. »Ich arbeite für Frau Dr. Rath.«

»Ich frage mich, wie Sie das hingekriegt haben«, erwiderte Kotten. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir mit Hackenberg den richtigen Mann haben. Motiv, Gelegenheit. Alles sauber ermittelt. Sie können sich Ihre Mühe sparen. Und Sie, Frau Anwältin, das Geld für diesen windigen Herrn.«

»Wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen.« Ich zog Frau Dr. Rath den Gang entlang.

»Was hat der Kommissar gegen Sie?«, fragte sie.

»Ach, das ist berufsbedingt.«

»Und wie läuft es mit Reinhold?«

»Ich gebe ihm gerade Gelegenheit, über seine Kooperationsbereitschaft nachzudenken. Furchtbar, wie negativ er drauf ist. Wie ein Ertrinkender, der noch nicht mal den Strohhalm erkennt, der an ihm vorbeischwimmt. Geschweige denn einen Rettungsring. Und jetzt brauche ich ein paar Informationen über seine Vorstrafen.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Worum es genau ging, Namen von Komplizen und so weiter.«

Sie stellte ihre Tasche auf den grauen Linoleumboden, entnahm ihr eine Mappe und reichte sie mir.

»Es geht wahrscheinlich schneller, wenn Sie es sich selbst ansehen.«

»Wie sind Sie da so fix drangekommen?«, fragte ich. »Und dann auch noch am Sonntag …«

»Ich habe auf dem Weg vorhin mit dem Staatsanwalt telefoniert.«

»Und der ließ sich stören?«

»Wenn man beherzt auftritt.« Sie lächelte, und mir wurde klar, dass sich hinter der unauffälligen Fassade eine knallharte Anwältin verbarg.

»Jedenfalls sagte er mir, dass der Hauptkommissar auch auf dem Weg hierher sei. Er hat mir die Unterlagen gleich mitgebracht.«

Ich blätterte und las. Ab und zu pfiff ich durch die Zähne. Nicht schlecht. Immerhin erfuhr ich endlich etwas über diesen ominösen Matze.

»Kann ich mir das ausleihen?«, fragte ich, als ich fertig war.

»Natürlich. Wollen Sie es zu ihm mit reinnehmen?«

»Ich geh nicht mehr zu ihm rein. Jetzt sind Sie dran. Ich hoffe, ich habe Hackenberg mit meinem Abgang ein bisschen nachdenklich gemacht. Fragen Sie ihn noch mal nach besonderen Vorkommnissen der letzten Zeit. Ich brauche auch Kontakte der Mutter. Freunde, Freundinnen. Leute, die nicht gut auf sie zu sprechen waren. Schreiben Sie alles auf.«

»Wollen Sie das nicht doch selber machen? Ich könnte veranlassen, dass unsere Besprechungszeit verlängert wird.«

»Das wird mir alles zu knapp. Ich fange schon mal an zu ermitteln. Ich melde mich. Kriege ich Ihre Handynummer?«

»Ihre Mitarbeiterin hat sie.«

»Wunderbar.«

Ich verabschiedete mich, ging den Gang entlang und ließ mich zurück in den Sommertag bringen. Dort stand Wonne und wartete. Unser nächstes Ziel war das Haus der Hackenbergs.