16. Kapitel

Wonne hatte ihre Marmelade und das selbst gebackene Brot dagelassen.

Du wirst tatsächlich zum Kulinariker, dachte ich, als ich mich auf den Weg machte, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.

Es war kurz nach halb neun. Ich hatte mich vom Handy wecken lassen.

Sofort sprang mir die Schlagzeile entgegen: »Mord in Altenberg«.

Ich überflog den Bericht, der mit einem Foto des Kinderspielplatzes bebildert war. Deutlich war das hölzerne Fort mit der Brücke zu sehen, dahinter der liegende Baumstamm vor dem Unterholz. Hier hatte der Bildredakteur einen weißen Pfeil angebracht, der auf die Fundstelle der Leiche hinwies.

Ich las den Text genauer. Die Polizei, so hieß es, ging von einem Familiendrama aus. Der Sohn der Getöteten sei festgenommen worden.

So weit, so bekannt.

Dann erfuhr ich etwas Neues: Die Kripo hatte den Tathergang rekonstruiert. Klara Hackenberg war ein Stück von der Fundstelle entfernt angegriffen worden. Der Täter hatte die Leiche nach der Tat etwa dreißig Meter weit über den Spielplatz geschleift und hinter dem Baumstamm abgelegt. Grenzte das den Täterkreis auf besonders kräftige Menschen ein? Der Journalist zitierte Hauptkommissar Kotten: »Die Tote wog nicht viel. Der Täter muss nicht unbedingt über besonders viel Kraft verfügen.« Reinhold Hackenberg, der wenig auf den Armen hatte, blieb also weiterhin Hauptverdächtiger.

Nachdenklich ließ ich die Zeitung sinken. Dahinter wurde die Mappe sichtbar, die wir heute Nacht aus Klara Hackenbergs Haus geholt hatten.

Junge, du hast eine Menge zu tun, dachte ich. Räum den Frühstückstisch ab und leg los.

Ich begann im Ordner zu blättern. In dem Artikel, den Klara Hackenberg ordentlich ausgeschnitten und auf ein Blatt geklebt hatte, ging es nicht um Matze konkret, aber die Masche, von der Wonne mir erzählt hatte, wurde genau erklärt. Dahinter fand ich Briefe und ein Foto in einer Klarsichthülle. Darauf war eine junge blonde Frau zu sehen, die vor einem Haus stand. Fachwerkbalken waren zu erkennen. Möglich, dass das Bild vor dem Hackenberg’schen Haus aufgenommen worden war. Sie trug ein Kleid mit kleinen Kreisen im Stil der Siebziger, wie es bei manchen Retrofans heute wieder modern war. Die Farben auf der Fotografie waren verblichen; es war nicht zu erkennen, ob der Stoff lila oder blau war.

Der erste Brief war schreibmaschinengeschrieben und auf den 20. Dezember 1975 datiert.

Liebe Tante Klara!

Es tut mir leid, daß ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber hier in Salzburg ist alles noch so neu für mich. Es hat die drei Monate seit meiner Abreise gebraucht, bis wir uns einigermaßen einrichten konnten. Sandro hat auch viel zu tun hier, wie Du Dir denken kannst. Ich wollte dir nur mitteilen, daß es mir gut geht. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Konzerte sind hier auch viel schöner als zu Hause. Und ich habe viele Gelegenheiten, welche zu besuchen. Vielleicht klappt es ja auch mit einem Schmuckladen. Du weißt ja, daß ich davon immer geträumt habe. Ich habe sogar schon wieder angefangen, ein bißchen zu arbeiten. Leider mußte ich aber letzte Woche eine Pause machen, denn ich habe mir beim Einräumen unserer Wohnung die Hand verstaucht. Deswegen schreibe ich auch mit der Schreibmaschine.

Viele Grüße Gabriele

Ihren Namen hatte sie mit der Hand hingekrakelt; vermutlich mit der linken, weil die rechte verletzt war. Ich legte Brief und Foto nebeneinander und ging einfach mal davon aus, dass das Mädchen auf dem Bild besagte Nichte Gabriele war.

Sie stellte Schmuck her, so viel hatte ich verstanden. Jetzt entdeckte ich auf dem Foto auch einen markanten länglichen Ohrring. Ein Gehänge aus kleinen bunten Perlen, mit Ketten verbunden und zu einem Muster gearbeitet: ein auf der Ecke stehendes, länglich verzogenes Rechteck. Eine Raute.

Der Ohrring war schön. Ein Kunstwerk. Wenn ich gewusst hätte, wo Gabriele zu finden war, wäre ich sofort zu ihr gefahren und hätte Wonne so ein Ding gekauft.

Ich blätterte weiter in dem Ordner und fand einen handbeschriebenen Zettel, auf dem eine Zahlenkolonne stand, möglicherweise eine Telefonnummer.

Es gab noch einen zweiten Brief und - ganz hinten eingeheftet - einen schmalen, nicht verklebten Briefumschlag, der etwas unregelmäßig Geformtes zu enthalten schien. Ich senkte die Öffnung nach unten, und da rutschte es auf den Tisch. Das Kunstwerk von dem Foto. Der Ohrring. In Wirklichkeit sah er noch schöner aus.

Ich sah mir den zweiten Brief an. Auch er war mit der Schreibmaschine geschrieben - mit derselben, wie ich an dem leicht schief stehenden kleinen a erkannte.

Sehr geehrte Frau Hackenberg!

Danke für Ihre Briefe, aber leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Gabriele und ich uns getrennt haben. Wenn es Sie einmal nach München oder nach Bayern verschlägt, würde ich mich gerne persönlich darüber mit Ihnen unterhalten. Sie wissen ja, daß Gabriele ein sehr eigenwilliger Mensch ist, der sich nicht halten läßt, wenn er nicht will. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, wo sie heute lebt. Unsere Trennung liegt nun schon zwei Jahre zurück. Ich war in dieser Zeit viel unterwegs und habe deshalb auch Ihre Post erst recht spät bekommen.

Herzlich

Ihr Sandro Marino

Dieser Brief war sechs Jahre jünger: Er stammte vom Juli 1981.

Es war nicht schwer, sich einen Reim auf die Geschichte zu machen. Was meinen Fall betraf, war ich damit allerdings auf dem Holzweg. Super, dachte ich. Riesenleistung.

Es blieb nur noch die Telefonnummer auf dem Zettel.

Bringen wir’s zu Ende, dachte ich und rief sie einfach an. Die ersten Zahlen, die die Vorwahl darstellten, deuteten auf das Oberbergische hin.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich jemand.

»Hollrich.«

Ich konnte nicht unterscheiden, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

»Ja, guten Tag, Rott hier.« Ich machte eine kleine Pause und legte mir schnell eine Strategie zurecht. Die abweisende Stimme brachte mich darauf, die Story mit dem Erbfahnder herauszuholen.

»Ich arbeite für die Rechtsanwaltskanzlei Rath in Leverkusen«, sagte ich. »Wir sind in einer Erbschaftsangelegenheit auf der Suche nach Verwandten einer gewissen Klara Hackenberg.«

»Kenn ich nicht.«

»Ihre Telefonnummer war bei ihren Unterlagen. Es sieht so aus, als hätte sie Kontakt zu Ihnen gehabt.«

»Wie hieß die?«

»Hackenberg.«

»Sagt mir nichts.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Klar. Hackenberg sagt mir nichts. Aber gibt’s nicht einen im Fernsehen, der so heißt?«

Ich überlegte. Mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung hatte recht. Das war der Mann mit dem Quiztaxi.

»Fragen Sie den doch mal«, setzte die Stimme nach.

»Und es gibt auch in Ihrem Haushalt niemanden, der Frau Hackenberg gekannt haben könnte?«

»Ich wohne alleine hier.«

»Kennen Sie eine Gabriele? Oder einen Sandro Marino?«

»Nein.«

»Darf ich mir zur Sicherheit Ihren Namen notieren? Falls wir eine Rückfrage haben.«

»Von mir aus. Tschö.«

Es krachte, die Leitung tutete, und ich versuchte mich zu erinnern, wie der Name gewesen war. Dann fiel er mir wieder ein. Hollrich.

Ich behielt das Telefon gleich in der Hand und wählte.

»Rechtsanwaltskanzlei Dr. Rath - was kann ich für Sie tun?«

Es war eine junge Stimme, die die Begrüßungsformel runterleierte. Wahrscheinlich gehörte sie der Frau, die uns Kaffee gemacht hätte, wenn sie bei unserem Besuch gestern Morgen da gewesen wäre.

»Rott hier. Ist Frau Rath da?«

»Frau Dr. Rath ist in einer Besprechung. Worum geht es denn?«

Okay, das Mädchen kannte mich noch nicht.

»Das weiß sie dann schon. Sie erwartet meinen Anruf.«

Ich musste ziemlich eindringlich geklungen haben, denn plötzlich klimperte irgendwas in der Art von Vivaldis »Frühling«, und eine Stimme vom Band sagte mehrmals hintereinander: »Warten Sie bitte.«

Dann war das Mädchen wieder dran: »Frau Dr. Rath ruft Sie zurück.«

»Aber bitte bald«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder unterwegs. Frau Rath hat auch meine Handynummer.«

Ich legte auf und nutzte die Zeit: Ich fuhr Mannis gewaltige Rechenmaschine, die mit dem Begriff »PC« nur unzureichend beschrieben war, hoch und googelte ein bisschen. Zuerst suchte ich nach dem Namen Sandro Marino, was mich aber nur auf einen Italiener brachte, der irgendetwas mit einer Großbank zu tun hatte und die Menschheit vor der Inflation warnte. Ob das der Gesuchte war?

Schließlich nutzte ich noch die segensreiche Einrichtung der Rückwärtssuche auf telefonbuch.de, mit der wir auch Matze gefunden hatten, und erkundete die nähere Identität von Herrn oder Frau Hollrich. Es war ein Mann, wohnte in Hückeswagen und hieß laut Eintrag Klaus mit Vornamen.

Die Zeit verging. Das Handy lag empfangsbereit neben mir.

Dr. Rath rief nicht an. Wo ich schon mal beim Googeln war, probierte ich »Yvonne Freier«.

Außer den üblichen Werbeeinträgen spuckte die Seite gerade mal sechs Links aus. Einer davon erklärte irgendwas zur Herkunft des Nachnamens Freier. Die anderen verwiesen auf die Mitgliedschaft bei Stayfriends. Ich klickte und bekam die Namen eines Abschlussjahrgangs von 1998 aufgelistet, bei dem eine Yvonne Freier dabei war. Wenn das meine Wonne war, musste sie etwa 1980 geboren sein.

Dreißig Jahre alt. Passte das? Durchaus.

Das eigentlich Merkwürdige war aber nicht, dass ihr Name auf einer Liste von Schülern zu sehen war.

Das Seltsame war, dass sie im Internet kaum vorkam.

Sie hat gesagt, sie sei Journalistin, dachte ich. Zeig mir den Journalisten, der so selten im Netz auftaucht.

Und das war nicht das einzige Seltsame an ihr. Schon einmal war mir etwas Rätselhaftes aufgefallen. Die Verbindung zu Mathisen. Ich hatte das fast schon wieder vergessen.

Als ich gerade in einem Strudel von Überlegungen zu versinken drohte, meldete sich die Rechtsanwältin.

»Haben Sie gesehen?«, sagte sie. »Es steht schon in der Zeitung.«

»Das war ja nicht zu vermeiden.«

»Jedenfalls wächst der Druck. Was haben Sie bisher ermittelt, Herr Rott?«

Nichts, hätte ich am liebsten gesagt. Und am allerliebsten hätte ich auf der Stelle mehr über Wonne herausgefunden. Stattdessen musste ich mich hier mit einem Fall rumschlagen, den sie mir zugeschanzt hatte. Irgendwie stand das alles auf sandigem Boden. Auf tönernen Füßen. Oder mit welchen blumigen Vergleichen man das sonst noch benennen wollte.

Ich musste geseufzt haben.

»Ist irgendwas, Herr Rott? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Nein, geht schon.« Reflexartig nahm ich einen Schluck Kaffee. Die Tasse war noch halb voll, aber der Kaffee war kalt geworden und schmeckte wie Brackwasser. Ich schluckte schnell und berichtete sachlich und knapp, was ich bisher unternommen hatte. Als ich Matzes Alibi präsentierte, entfuhr der Anwältin ein überraschtes »Oh«.

»Immerhin wusste Klara Hackenberg von seinen Machenschaften«, sagte ich. »Sie hat sich jedenfalls mit dem Thema befasst. Ich werde das so schnell wie möglich Hauptkommissar Kotten mitteilen.«

»Wie haben Sie das denn rausgekriegt?«

Ich berichtete von dem Besuch in Klara Hackenbergs Haus. Wie erwartet, betrachtete Frau Dr. Rath diese Vorgehensweise mit gemischten Gefühlen.

»Was Sie da gemacht haben, ist unzulässig. Ich hoffe, das wissen Sie. Haben Sie sonst noch etwas in der Wohnung gefunden?«

Ich fasste zusammen, was in dem Ordner gewesen war.

»Das ist nun wirklich mehr als dürftig, Herr Rott. Briefe einer Nichte, über zwanzig Jahre alt. Was soll das mit dem Mord zu tun haben?«

»Da fällt mir eine Menge ein«, sagte ich vage. Doch ich war selbst nicht besonders überzeugt, dass das eine Spur war.

»Bringen Sie Beweise. Dann können wir uns weiter darüber unterhalten.«

»Wann treffen Sie Reinhold Hackenberg wieder?«

»Heute Nachmittag.«

»Fragen Sie ihn bitte, ob ihm diese Gabriele etwas sagt.«

»Wenn ich das richtig sehe, war er noch ein Kind, als sie nach Österreich zog.«

»Trotzdem. Vielleicht hat seine Mutter irgendwann etwas darüber erzählt. Oder sonst jemand. Fragen Sie bitte auch nach Sandro Marino.«

Ich hörte, wie sie etwas notierte. Sie machte das sehr ordentlich, denn es vergingen ein paar Sekunden.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte ich.

Papier raschelte. Die Anwältin nahm sich offenbar andere Notizen vor.

»Wir haben Namen und Anschrift einer Freundin von Klara Hackenberg. Sie heißt Renate Siebert und wohnt in Altenberg.« Sie diktierte mir die Adresse und die Telefonnummer.

»Und weiter?«

»Nichts weiter.«

»Eine einzige Freundin? Keine Verwandten? Oder noch jemand, der etwas gegen sie hatte?«

»Herr Hackenberg hat mit seiner Mutter zwar in einem Haus gewohnt, aber sie hatten keine sehr enge Beziehung. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Frau Hackenberg zu Hause nie Besuch empfangen. Sie hat ihre Kontakte offenbar woanders gepflegt. Oder sie hat kleine Reisen gemacht. Verwandte scheint es nicht zu geben. Bis auf diese Gabriele.«

»Und Sie selbst? Sie nennen Frau Hackenberg immer Klara. In welchem Verhältnis standen Sie denn zu ihr?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich habe sie Vorjahren mal beraten, weil meine Eltern sie kannten. Die sind aber schon lange tot. Ich selbst habe Klara seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Und was ist mit den kleinen Reisen, die Sie erwähnt haben? Wohin gingen die? Reinhold erwähnte Bayern und Österreich.«

»Dann wird es so gewesen sein.«

»Was hat Frau Hackenberg eigentlich beruflich gemacht?«

»Sie war Rentnerin.«

»Ich meine davor.«

»Sie hat gearbeitet. Ich glaube, in einem Verlag. Fragen Sie Frau Siebert.«

»Noch eine Frage: Hat jemand den Tascheninhalt von Frau Hackenberg untersucht? Da könnte ja auch noch ein Hinweis verborgen sein. Ich meine, außer dass sie ihren Haustürschlüssel nicht dabeihatte.«

»Das wird die Polizei getan haben.«

»In Ordnung. Kotten steht eh auf meiner Liste. Rufen Sie mich an, wenn Sie bei Hackenberg waren?«

»Sobald ich außerhalb der JVA mein Handy wieder einschalte.«

Wir verabschiedeten uns.

Erneut behielt ich den Hörer in der Hand und wählte sofort wieder. Kotten war nicht am Platz. Dafür ging Frau Siebert gleich ans Telefon.

»Herr … Wie war noch mal Ihr Name?«

»Rott.«

»Herr Rott, ich habe ehrlich gesagt keine Lust, das alles noch mal zu erzählen. Gestern hat mich schon die Polizei besucht, und das war anstrengend genug.«

Sie klang pikiert. Ich versuchte, sie mir vorzustellen. Wahrscheinlich war sie so eine Grande Dame, ziemlich etepetete.

»Es tut mir leid, Frau Siebert, aber wir müssen alles tun, damit der Mörder Ihrer Freundin gefasst wird. Das wird doch auch in Ihrem Interesse sein.«

»Da haben Sie vollkommen recht. Aber soviel ich weiß, ist das bereits erledigt. Also belästigen Sie mich nicht weiter. Außerdem bin ich heute unterwegs.«

»Fahren Sie weit weg?«

»Das geht Sie nichts an. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«

»Frau Siebert - es könnte doch sein, dass Reinhold nicht der Mörder war.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Geben Sie mir eine Chance, das herauszufinden.«

»Was sind Sie von Beruf? Privatdetektiv? Welche Möglichkeiten haben Sie denn, die die Polizei nicht hat? Wie können Sie eine vernünftige Ermittlung durchführen? Sie haben ja noch nicht mal die Möglichkeit, die Spuren richtig zu untersuchen.«

»Dafür kann ich auf andere Weise Informationen sammeln.«

»Sie haben ja keine Ahnung, welche Auseinandersetzungen es zwischen Reinhold und seiner Mutter gegeben hat. Ständig hatte er Geldprobleme. Niemals hat er regelmäßig gearbeitet. Er hat Klara andauernd belogen und betrogen, hat ihr Geld gestohlen. Er hat sogar die Geheimnummer ihres Kontos ausgekundschaftet und während ihrer Abwesenheit Geld abgehoben, das er dann mit seinen kriminellen Freunden durchbrachte. Er wartete einfach nur darauf, dass Klara endlich starb, damit er das Haus und ihre Ersparnisse erben konnte. Das ging ihm anscheinend nicht schnell genug. Und da hat er es in seiner Verkommenheit eben selbst herbeigeführt.«

Sie hatte sich in Rage geredet und machte eine Pause, offenbar um nach Luft zu schnappen. Ich nutzte die Gelegenheit und ging dazwischen.

»Das ist aber alles noch kein Beweis, Frau Siebert. Ich bitte Sie inständig, kurz mit mir zu sprechen.«

»Geben Sie mir ein Stichwort.«

»Was?«

»Irgendeine Spur, die Sie haben. Einen Hinweis. Die Richtung. Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber sagen Sie mir etwas dazu.«

Ich dachte nach. Eigentlich hatte ich mehr Entgegenkommen erwartet. Frau Siebert sollte mir Informationen liefern und nicht ich ihr.

»Gabriele«, sagte ich schließlich.

»Gabriele?«

»Ich glaube, das ist Frau Hackenbergs Nichte. Sie ist weggezogen. Schon vor längerer Zeit. Ich habe den Eindruck, Ihre Freundin hing sehr an ihr. Aber der Kontakt ist eingeschlafen.«

»Was soll das mit ihrem Tod zu tun haben?«

»Sagt Ihnen der Name Gabriele denn etwas?«

»Ja, schon. Aber …«

»Ich möchte gerne mehr darüber wissen. Geben Sie mir die Chance bitte.«

Sie schwieg. Offenbar dachte sie nach.

»Also gut. Ich will den Ermittlungen nicht im Wege stehen. Sie können mich heute gegen halb eins treffen.«

»Wunderbar.« Ich atmete innerlich auf. »Und wo?«

»Kennen Sie Maria in der Aue?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Das ist ein Restaurant in Wermelskirchen. Ich esse dort regelmäßig zu Mittag. Vor allem bei schönem Wetter. Dort finden Sie mich. Auf Wiederhören.«

Damit legte sie auf. Ich spielte weiter meine eigene Sekretärin. Endlich erreichte ich Kotten.

Er war abweisend.

»Was wollen Sie denn? Ich kann Ihnen keine Informationen geben, das wissen Sie doch.«

Ich spürte, wie Ärger in mir hochkroch. »Wer sagt denn, dass ich das will? Eigentlich wollte ich Ihnen eine kleine Freude machen.«

»Eine kleine Freude? Sonst machen Sie immer nur großen Ärger.«

»Sehen Sie es als kleinen Ausgleich.«

»Also schön, worum geht es?«

»Ich erkläre es Ihnen in Ihrem Büro.«

Es gelang mir, mit ihm einen Termin um elf zu vereinbaren.

Als ich das Telefon weglegte, brannten mir die Ohren. Wie bekamen das die Leute in den Callcentern nur hin?

Ich zündete mir eine Zigarette an, holte meine Schlüssel und blickte noch einmal in die Runde.

Es war so still hier. Wonne fehlte mir. Wonne, über die ich immer noch nichts wusste. Oder viel zu wenig. Und die - das wurde mir immer klarer - ein Geheimnis hatte. Ein Geheimnis, das ich auch noch lösen musste.

Meine Stimmung begann sich einzutrüben. Was, wenn sich Wonnes Geheimnis als etwas entpuppte, das unsere Beziehung in Frage stellte?

Ich verzog den Mund. Beziehung. Ich hasste dieses Wort. Es schmeckte nach Psychologie und Selbsthilfegruppe. Nach Beratungsstellen. Was sollte man stattdessen sagen?

Liebe: Viel zu abgenutzt.

Affäre: Nicht ernst genug. Immerhin klang es romantisch, was wahrscheinlich an dem französischen Einschlag lag.

Was hatte ich mit Wonne?

Keine Ahnung. Ein Freundschaftspflänzchen, das langsam aufging.

Das aber gefährdet war. Durch ein wie auch immer geartetes Geheimnis. Von einem brennenden Gefühl begleitet, hatte ich plötzlich wieder das Bild von ihrem Telefondisplay vor Augen. Die Kontaktliste mit Mathisens Namen.

Ich stieg ins Auto, ließ den Motor an und freute mich, als »Movie Star« von Harpo die schlechten Gedanken vielleicht nicht hinwegfegte, aber wenigstens übertönte.

Ich sagte dem Pförtner der Gladbacher Polizeibehörde, dass ich einen Termin mit Herrn Kotten hatte, und wurde mit dem Hinweis auf eine Zimmernummer zum Dezernat für Tötungsdelikte geschickt.

Als ich den Raum erreichte, stand die Tür offen, aber niemand war zu sehen. Auf dem Schreibtisch lag eine durchsichtige Tüte -eine von den Modellen, in denen die Polizei Spuren und Indizien sammelte. Ich war noch in den Anblick vertieft, da kam jemand den Gang entlang. Es war Kotten, in der Hand einen Pappbecher mit einer dunklen, dampfenden Flüssigkeit.

»Sie können so viel starren, wie Sie wollen. Ich bin nicht da drin«, sagte er.

»Auch Ihnen einen guten Tag, Herr Kotten«, antwortete ich. Eigentlich hätte ich ihm gerne die Hand gegeben, aber er schob mich schon in den Raum hinein. Ich betrachtete die durchsichtige Tüte, die da zwischen Aktendeckeln und zwei aufgestellten Fotorahmen lag.

Das eine Bild zeigte eine Frau, das andere zwei Kinder - ein Mädchen und einen etwas älteren Jungen. Beide mit den gleichen hellblonden Haaren wie die Mutter.

Er setzte sich, deutete auf den Platz vor dem Schreibtisch und legte die Hände auf den Tisch.

»Das ist nicht zufällig der Handtascheninhalt von Frau Hackenberg?«, fragte ich und wies auf die Tüte.

»Ich bewundere ein zweites Mal Ihre Beobachtungsgabe.«

Ich versuchte, mir über den Tisch hinweg ein Bild zu machen. Soweit ich das erkennen konnte, waren es ein kleiner Kalender oder ein Notizbuch, ein paar Zettel, ein Kuli. Ein Labello.

Ich hätte viel drum gegeben, in die Tüte hineingucken zu dürfen.

»Haben Sie das schon ausgewertet?«, fragte ich.

»Kein Kommentar.«

»Ich schlage einen Deal vor. Ich verrate Ihnen, in welche Geschäfte Matthias Büchel, genannt Matze, verstrickt ist, und Sie lassen mich einen Blick auf den Inhalt werfen.«

»Sind es illegale Geschäfte?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Und Sie wissen davon?«

Ich nickte nur. Mir war klar, was nun kam.

»Dann sind Sie ohnehin verpflichtet, sie uns mitzuteilen, Herr Rott«, sagte Kotten. »Das muss ich Ihnen ja wohl nicht erklären.«

»Das ist richtig. Aber Sie werden nie erfahren, worum es geht, wenn ich es nicht sage.«

»Außer wir kommen von selbst drauf. Oder wir ermitteln das schon längst. Es wäre nicht das erste Mal, dass uns jemand einen wertlosen Deal anbietet.«

Kotten nahm die Kunststofftüte, legte sie ordentlich vor sich hin und strich sie glatt. Er wollte mich reizen, das war mir klar. Die kleinen Notizzettelchen verschoben sich und gaben den Blick auf eine Visitenkarte frei. Ich konnte sie nicht lesen, aber das Logo war zu erkennen …

»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben«, erklärte Kotten feierlich, »und Sie dürfen das hier ansehen.«

Ich glaubte nicht daran, aber dann fielen mir die Rosenaus ein - das junge Paar, das Matze wahrscheinlich gelinkt hatte. Es freute sich so auf das Eigenheim. Schon deswegen musste ich Kotten davon berichten.

»Na? Warum überlegen Sie so lange?«

Jetzt knetete er die Tüte, und das Logo auf der Visitenkarte wurde deutlicher sichtbar. Es war blau.

»Matze Büchel hat sich eine neue Betätigung gesucht«, begann ich. »Und ich habe ihn dabei beobachtet.«

»Hat es etwas mit diesem Fall zu tun?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Es geht also nicht um ein Tötungsdelikt?«

»Nein. Es geht um Betrug, soweit ich das beurteilen kann.«

Er zog die Tüte zurück. »Dann sind Sie hier falsch. Wir sind das KK1. Ich bringe Sie gerne zu dem zuständigen Kriminalkommissariat. Das wäre das KK2.«

In mir geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Zum einen überlegte ich fieberhaft, wo ich das Logo auf der Visitenkarte in Klara Hackenbergs Tasche schon mal gesehen hatte. Ich kannte es, da war ich mir ganz sicher. Zum anderen versuchte ich, den Ärger über Kotten zu verarbeiten, der ein blödes Spiel mit mir spielte.

»Ich sage Ihnen, was ich weiß«, erklärte ich, die Sanftmut in Person. »Und dann machen Sie damit, was Sie wollen.«

Ich fasste zusammen, was ich beobachtet hatte. Kotten nickte vor sich hin. »Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte er am Ende.

»Berufsgeheimnis.« Ich musste ihm ja nicht auf die Nase binden, dass ich Matze überwacht hatte.

Ich nannte ihm die Handstraße und den Namen der Geschädigten. »Der Wagen hatte ein Kölner Kennzeichen«, erinnerte ich mich.

Kotten schrieb sorgfältig mit. Schließlich legte er den Stift zur Seite. »Es kann sein, dass Sie in der Sache als Zeuge aussagen müssen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich.«

»Ist mir klar. Noch etwas: Klara Hackenberg wusste von Matzes Immobilienbetrug.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich weiß es eben.«

»Für Ihre Hellseherei kann ich mir nichts kaufen.«

»Wie Sie wollen. Was ist mit unserem Deal?«

»Welchem Deal?«

»Dass ich Frau Hackenbergs Sachen ansehen darf. Schon vergessen?«

»Sie werden darin keine Hinweise finden. Das haben wir schon überprüft.«

»Darf ich mir vielleicht selbst ein Bild machen?«

»Sie wissen genau, dass das nicht geht. Es ist nicht erlaubt. Wenn wir auf Beweismittel stoßen, wird es Hackenbergs Anwältin erfahren. Und sofern sie damit einverstanden ist, auch Sie.«

»Aber wir hatten einen Deal.«

»Ja, dass Sie das hier ansehen dürfen.«

Er nahm den Beutel und hielt ihn mir vor die Nase.

»Haben Sie genug gesehen? Von Aufmachen war nicht die Rede.«

Er verstaute den Beutel in einer Schublade. In mir ratterte es immer noch: das blaue Logo … verdammt noch mal.

Ein liegendes Oval.

»Wenn es nicht beleidigend wäre, würde ich sagen, Sie sind ein Blödmann.«

»Vorsicht, Vorsicht«, fuhr er auf. »Das ist beleidigend. Ich kann Sie anzeigen.«

»Deswegen habe ich es ja auch nicht gesagt. Ich habe gesagt, wenn es nicht beleidigend wäre, würde ich es sagen. Es ist aber beleidigend. Deswegen sage ich es nicht.«

Ich rauschte hinaus, den Gang entlang und die Treppe hinunter.

Als ich durch die Glastür war, fiel mir endlich ein, was es mit dem Logo auf sich hatte. Das liegende Oval war ein Auge. Ein Auge, das etwas ausspionierte. Und das Logo gehörte zu jemandem, der solche Mätzchen nötig hatte.

Ich musste meine Aufregung herunterschrauben, während ich den kleinen Berg hinunterfuhr und vor einer Ampel zum Stehen kam. Der Verkehr auf der Mülheimer Straße donnerte vorbei, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis die Ampel grün wurde. Als es endlich so weit war, hielt ich mich stadtauswärts. Ein Stück weiter, hinter der Bahndammunterführung, erschien auf der rechten Seite eine Tankstelle. Eine gute Gelegenheit, um anzuhalten und zu telefonieren.

Ich hatte die Nummer nicht mehr im Kopf, aber die Auskunft fand sie schnell.

»Detektei Meinertzhagen, was kann ich für Sie tun?«

Eine junge Frauenstimme. Sie klang fast genauso wie die Vorzimmerdame von Frau Rath. Und dann immer dieses »Was kann ich für Sie tun?«. Das war doch sonnenklar: Zuhören.

»Rott hier«, sagte ich. »Guten Tag.«

»Was kann ich für Sie tun?«, wiederholte sie, und ich überlegte, ob ich vielleicht mit einem Computer redete. Als ich das letzte Mal mit Meinertzhagen zu tun gehabt hatte, war er noch ohne Vorzimmer ausgekommen. Sein Laden musste wirklich gut laufen. Im Gegensatz zu meinem. Mir wurde klar, dass ich auch eine Visitenkarte mit Logo brauchte. Ein Zeichen in Form einer Nase wäre vielleicht passend. Privatschnüffler Rott. Schnüfflerei Rott. Rotts Nase. Rotznase.

»Ich hätte gerne den Chef gesprochen. Wir sind Kollegen«, erklärte ich so flapsig, dass es Philipp Marlowe angemessen gewesen wäre.

»Tut mir leid, Herr Meinertzhagen ist noch bis heute Mittag unterwegs. Worum geht es denn?«

»Er soll mich bitte zurückrufen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, diktierte ich meine Handynummer.

»Und der Name war … ?«

»Rott. Remigius Rott. Wie gesagt: Wir kennen uns.«