4. Kapitel

In Richtung Wermelskirchen tauchten wir aus dem Tal auf, um nach einer schönen Strecke auf der Landstraße parallel zur A1 wieder hinunterzugleiten. Kurz vor Altenberg absolvierte Wonne erneut eine Reihe von Serpentinen, die in Motorradfahrerkreisen legendär waren. Zwischen den Kurven zeigte sich ein Bauwerk. Ein spitzes Dach. Ein verziertes Kirchenfenster. Der Altenberger Dom.

Wann war ich das letzte Mal hier gewesen? Ich versuchte mich zu erinnern. Sonntagsausflugsziel Nummer zwei. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Spaziergänge um einen Teich, der sich irgendwo hinter der Kirche befinden musste. Sonntägliches Schwitzen in unbequemen feinen Klamotten. Drückende Schuhe. Essen im Hotel gegenüber. Stillsitzen. Sich benehmen. Braten mit Kartoffeln, Rotkohl und massenhaft dicker Soße.

Wonne bremste hart, als ein Schild auf einen Parkplatz verwies: »Rösberg« stand dort, daneben hing ein blaues Schild mit weißem P.

»Am besten, wir lassen den Wagen hier.« Sie bog in eine Zufahrt ein, die steil ein Stück hinunterführte und uns auf einen Parkplatz aus festgestampfter Erde brachte. Im Schatten hatten sich ein paar Pfützen vom gestrigen Regen gehalten.

Ein Stück weiter war die weiße Fassade eines Gastronomiebetriebes zu sehen, der gleich drei Funktionen in sich vereinte: »Hotel, Restaurant, Cafe« stand in grüner Schrift auf der Wand und darunter der Name: »Wißkirchen«.

»Wo ist jetzt der Dom?«, fragte ich.

Wonne war ausgestiegen und hielt die Mappe in der Hand. Sie deutete auf eine betonierte Unterführung neben dem Parkplatz. »Wenn ich mich nicht irre, geht’s da lang. Das ist der normale Fußweg. Unter der Hauptstraße durch.«

Ich zwängte mich aus der Nussschale auf Rädern.

»Wie lautet denn die Aufgabe?«

Wonne blätterte im Schnellhefter und las vor: »Nun seid ihr in Altenberg. Wo ein Heiliger sein Herz verlor, müsst ihr die Quadrate in den Gittern zählen. Links und rechts der Eisentür.«

»Damit kann Jutta nur mich gemeint haben. Sie sagt immer, ich sei ein komischer Heiliger.«

»Und du hast dein Herz verloren?« Wonne sah mich schelmisch an.

»Nicht erst in Altenberg. Schon früher.«

»Soso.«

Wonne schien wieder kurz vor einem Lachanfall zu stehen und schüttelte den Kopf. »Na komm schon, du Komischer. Heiliger würde ich dich nicht nennen.«

»Warum nicht?« Ich tat entrüstet.

»Na, weil Heilige … Ach, ist ja auch egal.« Sie ließ mich stehen und ging los.

Ich folgte ihr und schloss zu ihr auf, als sie gerade die Unterführung erreichte.

»Was meinst du?«

Sie blieb stehen und sah mich an. Sie hatte die Sonnenbrille wieder in die Haare geschoben, und zum ersten Mal wurde mir klar, dass ihre Augen gar nicht blau waren, wie ich die ganze Zeit gedacht hatte, sondern grün. In einem ganz hellen Ton, der leicht ins Türkise überging.

»Heilige machen manche Sachen nicht, die du vielleicht gerne tust.«

»Und das wäre?«

Sie verkniff sich die Antwort und ging davon, wieder kopfschüttelnd.

»He, ich will eine Antwort.«

Sie drehte sich um. »Weißt du eigentlich, dass der Altenberger Dom gar kein Dom ist?«

»Ist das jetzt der plötzlichste Themenwechsel unseres Lebens, oder was?«

»Konzentrieren wir uns auf die Rallye. Nutzen wir den Vorsprung.«

Mir wurde warm. Vom schnellen Gehen und überhaupt. Wonne schien ziemlich sportlich zu sein. Es war ein flottes Tempo, das sie vorlegte. Ihre zackigen Schritte brachten den Rock zum Wippen.

Sie hatte ja recht. Man sollte es nicht übertreiben mit den Andeutungen. Oder Taten folgen lassen.

Bei dem Gedanken wurde mir etwas schwummrig. Die kleinste Tat konnte die nette Stimmung sofort zum Kippen bringen. Und wir hatten noch die ganze Rallye vor uns … Wie weit durfte ich mich vorwagen? Wann hörte das Spiel auf? Wann begann die Belästigung? Wann gab man Anlass zu einem ernsten Gespräch, das anfing mit: Hör mal, ich flirte ja gerne mit dir, du bist ein netter Typ, aber weiter will ich nicht gehen. Nichts für ungut, aber lassen wir das doch jetzt bitte …

Schweißperlen rollten kitzelnd unter meinem Hemd. »Also kein Dom, hm?« Ich hatte das so dahingesagt. Mein Unterbewusstsein hatte mitgemacht und ebenfalls das Thema gewechselt. »Wieso sagen dann alle Dom dazu?«

»Es handelt sich um ein Kloster, besser gesagt um eine im 12. Jahrhundert errichtete Zisterzienserabtei. Der sogenannte Dom ist die Klosterkirche.«

»Was ist überhaupt genau genommen ein Dom?« Reden, dachte ich. Das schadet bestimmt nicht.

»Ein Dom deutet darauf hin, dass es ein Bistum gibt. Einen Bischof. Wie in Köln zum Beispiel.«

»Und deswegen ist der Kölner Dom ein echter Dom, und das hier ist eine Attrappe?«

»Das kann man nun auch nicht sagen. Der Altenberger Dom ist eben als Dom bekannt. Oder auch Bergischer Dom. Er ist sozusagen ein umgangssprachlicher Dom.«

Der Fußweg führte an einem weißen, modernen Gebäude vorbei zu einer mit Kopfstein gepflasterten Brücke. Darunter floss ein breiter, aber flacher Bach. Die Dhünn.

»Und hier sollen wir nun unseren Heiligen suchen. Bei dem es Gitter gibt. Mit Quadraten …«

»Das ist leicht zu lösen. Gehen wir rein. Das ist immer ein besonderes Erlebnis.«

»Bist du katholisch?«, fragte ich. »Ich meine … wo du doch Kirchenmusik hörst und so …«

»Na, du stellst Fragen …«

»Oder bist du Kunsthistorikerin?« Mir wurde klar, dass ich gar keine Ahnung hatte, was Wonne beruflich machte. Genau betrachtet wusste ich praktisch nichts über sie.

»Was heißt hier oder? Es gibt auch katholische Kunsthistorikerinnen. Du darfst noch dreimal raten. Aber rate gut. Wer richtig rät, wird belohnt.« Es folgte ein unergründlicher Blick.

Wir überquerten die Brücke und erreichten das eigentliche Klostergelände. Baumkronen beschatteten hübsche Natursteinmauern und niedrige Hecken. Rechts lagen lange, weiß leuchtende Gebäude.

Wonne ging zur nächsten Hausecke und blieb dort vor etwas stehen, das ich zunächst für eine Gedenktafel hielt. Erst als ich näher kam, sah ich, dass es sich um ein metallenes Modell der ganzen Anlage handelte - aufgesetzt auf einen Stein und etwa so groß wie die Hälfte meines Küchentischs. Wie das echte Klosterareal wurde die Miniaturnachbildung ebenfalls vom Dom beherrscht. Die Dachkonstruktion erinnerte an winzige Rippen. Hier erkannte man auch, dass zur Domfront, wo sich der Eingang befand, eigentlich ein anderer Weg führte. Gegenüber befand sich noch ein langes Haus, das von einem kleinen Tor unterbrochen war. Ich stellte mich so, dass ich durch diesen Zugang auf den Dom sah.

»Ja, das hat mich auch immer gewundert«, sagte Wonne, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Seltsam, dass man sich früher als Mönch oder Pilger von der Dhünn her dem Kloster genähert hat. Und nicht über den breiten Weg, den man heute nutzt.«

»Das ist Bequemlichkeit. Die Leute wollen mit dem Auto an den Dom heranfahren«, sagte ich.

»Vor Kurzem hat man eine Umgestaltung geplant. Sie wollten den Weg wieder so legen, dass man durch das Tor auf den Dom zukommt. Wie früher. Ist jedoch wieder gecancelt worden.«

Versonnen ließ sie die Finger über das Modell gleiten. Als ihre Kuppen die Ränder berührten, bemerkte ich die Beschriftung, die in erhabenen Buchstaben hervorragte. Sie war nicht nur mit normalen Buchstaben geschrieben, sondern auch in Blindenschrift.

»Die haben an alles gedacht«, sagte sie, erneut so, als könnte sie wissen, was in mir vorging.

Ich vertiefte mich in den Anblick ihrer streichelnden Finger, bis sie weiterging. Hinter der Hausecke standen wir endlich dem großen Domportal gegenüber. Der größte Teil der schmalen Fassade bestand aus einem riesigen Fenster in Spitzbogenform mit vielen Unterteilungen. Die Glasflächen wirkten fast schwarz, was dem Dom etwas Abweisendes gab.

»Das berühmte Westfenster«, sagte Wonne und schritt auf den Eingang zu, der im Vergleich zu dem gigantischen Spitzbogen darüber wie ein Mauseloch wirkte.

»Gibt’s hier keinen Kirchturm?« Mir fiel ein, dass ich schon auf dem Modell keinen bemerkt hatte.

Wonne schüttelte den Kopf. »Das gab’s bei den Zisterziensern nicht. Bei denen musste alles ganz einfach und schlicht sein. Deswegen hat das Fenster auch nur wenige Farben.« Sie öffnete die Tür, und wir gingen hinein. »Das ist auch der Grund, warum hier drin alles ein bisschen grau wirkt. Aber es ist ein feierliches, edles Grau.«

Unsere Schritte hallten in dem riesigen Kirchenraum. Wonne hatte nicht übertrieben. Das Grau lebte. Es lebte, weil es in so vielen verschiedenen Tönungen vorkam. Es lebte in den schmalen Säulen, die kraftvoll in klaren Formen in die Höhe wuchsen und dort oben das Gewölbe trugen - ehrfurchtgebietend und ernst. Kühle und ein kreidiger, feuchter Geruch umgaben uns.

»Wo willst du hin?«, flüsterte ich.

»Ich suche das Herz. Komm mit.«

Wir gingen abseits der Bänke das linke Seitenschiff entlang, bis wir an die dem Eingang genau entgegengesetzte Seite gelangten. An einer Seitenkapelle blieben wir vor einem schwarzen Metallgitter stehen, das die Rundung vom eigentlichen Kirchenraum abtrennte.

»Schau mal.« Sie deutete durch die Eisenstäbe.

Ich blickte hinein und sah an der Wand so etwas wie einen kleinen Altar. Darauf befand sich ein dunkler Kasten, der mit einem goldfarbenen Herz geschmückt war.

»Da ist es drin«, flüsterte Wonne, die mit ihrem Gesicht ganz dicht an meines gekommen war. »Das Herz.«

»Wessen Herz?«, fragte ich und bewegte mich keinen Millimeter.

»Engelberts.« Sie stellte sich wieder gerade hin. »Einer aus dem Geschlecht der Grafen von Berg. Er war Kölner Erzbischof und wurde im Mittelalter umgebracht. Im 13. Jahrhundert.«

»Ermordet?«

»Soviel ich weiß in der Nähe von Hagen. Er lebte zum Teil auf Schloss Burg. Insofern hat sich Jutta mit den Zielen ihrer Rallye etwas gedacht.«

»Sollte man den Mord nicht aufklären?«

»Du denkst immer an deinen Job, was? Er ist aufgeklärt. Es war irgendein gräflicher Verwandter. Eine Familienfehde, glaube ich. War mir aber klar, dass dich das interessiert.«

Sie wandte sich wieder dem Schrein zu. »In diesem Reliquiar ist sein Herz beigesetzt.«

»Und der Rest?«

»Weiß ich nicht.«

»Also gut. Wenn ich die Frage richtig verstanden habe, sollen wir die Quadrate hier zählen.« Ich trat ein Stück zurück und deutete auf die Stäbe. Vor dem Schrein befanden sich vier vergitterte Fenster in einer schützenden Mauer - je zwei links und rechts einer ebenfalls vergitterten Tür. Das Gitter bildete gleichmäßige Vierecke. »Jedes Fenster hat vierundzwanzig«, sagte ich. »Mal vier-macht sechsundneunzig.«

Wonne nickte. »Perfekt. Aufgabe gelöst.«

»Und wohin fahren wir als Nächstes?«

Sie brauchte nicht in die Unterlagen zu gucken.

»Erst mal nirgendwohin. In Altenberg sind zwei Aufgaben zu lösen. Die eine ist die mit Engelbert. Die andere hat nichts mit der Historie zu tun. Wir sollen einen Spielplatz finden, der sich hier irgendwo befindet. Und von dort etwas mitbringen. Eine weiße Blume.«

»Wir sollen Blumen klauen? Hm … und wo soll dieser Spielplatz sein?«

Ich erinnerte mich wieder an etwas. Es war deutlich vor meinen Augen. Und es hatte wieder etwas mit meiner Kindheit zu tun. »Sag mal, gibt’s hier nicht einen Märchenwald? So einen mit einzelnen Stationen - kleinen Häuschen, in denen man die wichtigsten Szenen aus verschiedenen Märchen sehen kann? Da gab’s doch auch einen Esel«, redete ich mich in Fahrt, von Erinnerungen überschüttet, »auf dem man reiten konnte!«

Plötzlich war mein stärkster Wunsch, diesen Märchenwald noch einmal zu besuchen. Na ja, vielleicht nicht mein allerstärkster Wunsch, denn es gab da noch etwas anderes. »Ich bin ganz sicher, dass dort der Spielplatz ist«, redete ich weiter. »Wo Kinder sind, muss auch der Spielplatz sein. Und wo ein Märchenwald ist, sind Kinder, oder?«

»Logisch.«

Wir traten wieder ins Sonnenlicht. Vor dem Dom herrschte reger Betrieb. Eine Gruppe Jugendlicher wanderte vorbei, aus einem Handy plärrte Musik.

Weiter hinten aus Richtung der alten Klosterpforte waren rüstige Rentner unterwegs - in grauen Bequemschuhen mit Klettverschluss und bunten Rucksäcken auf den Rücken.

»Warte mal eben«, sagte ich. »Ich frage schnell, wo es zum Märchenwald geht.«

Ich wandte mich dem Altenberger Domladen zu, der gleich neben dem Eingang zum Dom seine Pforten geöffnet hatte. Ich betrat ein Reich aus Büchern, CDs, Kerzen und allerlei Souvenirs. An der Kasse wurde ich gewarnt: »Sehr geehrter Kunde«, war auf einem Schild zu lesen, »Ladendiebstahl wird bei uns mit ewigem Fegefeuer bestraft.«

Ich war auf kirchlichem Gebiet, kein Zweifel.

Wonne stand auf dem Vorplatz und hielt die Augen geschlossen, das Gesicht gen Himmel gereckt. Die Sonnenbrille hatte sie in ihren Ausschnitt gehängt. Ich blieb unwillkürlich stehen, weil ich das Bild nicht zerstören wollte.

Die Ausflügler um sie herum schienen keine Notiz von ihr zu nehmen - nicht die Fahrradfahrer, die ihre Drahtesel direkt an ihr vorbeischoben und sich nach einer Gelegenheit umsahen, sie abzustellen. Nicht das kleine schwarzhaarige Mädchen, kaum einen Meter groß, das über den Platz tappte und die Rufe der Mutter ignorierte, die auf der angrenzenden Klostermauer saß. Nicht das ältere Paar, das stehen blieb, den Blick zum Dom erhoben, woraufhin der Mann einen farbigen Reiseführer aus seinem Rucksack zog und darin zu blättern begann.

Wonne stand unbeweglich da wie eine Göttin. Entrückt.

Mit einem Mal war der Moment vorbei. Sie musste irgendwie gespürt haben, dass ich aus dem Laden getreten war, denn plötzlich kam Leben in sie. Ein paarmal blinzelte sie in den Himmel, dann drehte sie den Kopf und lächelte mir entgegen - mit einem Blick, der alles in mir schmelzen ließ.

»Und?«, fragte sie.

»Wir brauchen nicht zum Märchenwald zu gehen. Der Spielplatz ist woanders - in der Nähe des Parkplatzes, wo das Auto steht.«

Ihre Hand hob sich etwas, näherte sich mir. Und ohne darüber nachzudenken, ergriff ich sie. Ich ließ sie nicht los, als wir langsam zurück zum Wagen gingen, und es kam mir vor, als sei das Kopfsteinpflaster, über das wir schritten, weich wie Watte.

Manchmal, wenn mein Griff etwas lockerer wurde, hielt Wonne umso stärker fest, und so gingen wir Hand in Hand bis zu dem Kiosk, der sich etwas unterhalb der Straße auf der anderen Seite befand, gleich neben dem Pfad in den Wald, der zu dem Spielplatz führte.

Als wir losließen, war es keine Trennung, sondern ein Versprechen auf baldige Fortsetzung. Seltsamerweise las ich genau in diesem Moment die Mineralwasserreklame am Dach des Kioskhäuschens »Reginaris - Die gesunde Erfrischung aus der Vulkaneifel«. Ernüchternd.

Ich deutete zu den Bäumen. »Hier ist es.«

»Dieser kleine Weg da?« Wonne ging ein Stück auf den Wald zu. »Tatsächlich. Ich kann da hinten schon so was wie einen Sandkasten sehen.«

Wonne befand sich schon weit hinten zwischen den mächtigen Stämmen, die wie Säulen in das Grün des Waldes strebten. Über uns in den Wipfeln zwitscherten Vögel, und jetzt wurde mir auch das leise Rauschen der Dhünn bewusst. Der Fluss musste ganz nah sein.

Ich erreichte Wonne, und es war, als erlebte ich eine Variation der Szene auf dem Domvorplatz. Auf ihrem Gesicht lag ein Sonnenfleck, der seinen Weg durch das Blätterdach gefunden hatte. Sie reckte sich nach oben und hielt die Augen geschlossen, als tanke sie aus dem Licht Energie.

Neben ihr zeichnete sich im Dämmer eines dieser hölzernen Forts ab, wie man sie oft auf Kinderspielplätzen sieht. Es stand in einem großen Sandkasten, zu dem eine Metallrutsche hinunterführte.

Wonne kam mir vor wie eine Fee in einem Wunderwald. Das kleine Fort war ihr märchenhaftes Schloss, das wie ihr ganzes grünes Reich von der Kraft ihrer Aura beherrscht wurde.

Plötzlich kam wieder Leben in sie, und sie lief davon - in Richtung Fluss. Sie streifte die Schuhe ab, watete aber nicht ins Wasser, sondern setzte sich an das etwas erhöhte Ufer und tauchte die Füße in die Dhünn.

»Was sollen wir hier noch mal tun?«, fragte ich.

»Erst mal nichts«, sagte sie. »Es ist so schön hier.«

Eine süße Schwäche erfasste mich. Es hatte nicht nur mit dem Eindruck zu tun, den Wonne auf mich ausübte, sondern auch mit der Angst vor dem, was passieren würde, wenn ich etwas wagte.

Bisher war alles nur Gerede gewesen. Kleine Andeutungen, über die man hinweggehen oder sogar lachen konnte. Ein bisschen Händchenhalten. Aber jetzt wurde es ernst.

Und der Ort war perfekt.

Es war ein klassischer Klarmach-Platz. Romantisch. Einsam.

Wonne saß da und bewegte die Füße sanft im klaren Wasser.

Ich betrachtete versonnen ihre rosa lackierten Zehen.

Sie wartet, dachte ich, und der Gedanke hallte in meinem Kopf wider. Sie wartet darauf, dass du etwas tust.

Sie zog die Knie an, und ihr Rock rutschte wieder ein wenig nach oben. Ein Moment der Reglosigkeit entstand, der mir endlos vorkam.

Sie wartet.

Tu es.

Setz dich wenigstens neben sie.

Doch dann war es zu spät. Sie stand auf, zupfte ihren Rock zurecht und sah mich an. Ihr Blick hatte etwas Bedauerndes.

Das hatte mir noch gefehlt. Ich war schließlich der große Mordaufklärer. Der Mann, den sie bewunderte. Hatte sie das nicht selbst in Solingen gesagt?

»Müde?«, fragte sie. »Bleib nur. Ich geh mal gucken, was es mit der Blume auf sich hat.«

Ach ja, die Blume.

Blumen im Wald? Und dann auch noch eine weiße? Gab es das?

Sie marschierte los. Barfuß. Ihre Schuhe lagen immer noch neben mir am Ufer.

Wie ein uneingelöstes Versprechen.

Ich starrte sie an und ertappte mich dabei, wie ich mit dem Finger über die Innenseite strich.

Als ich es bemerkte, zuckte ich zurück und sah mich um. Wonne war zum Rand der Lichtung gegangen. Dort lag quer ein Baumstamm, der das Unterholz wie eine Barriere von dem freien Areal trennte.

Ich sah, wie sie sich bückte. Wahrscheinlich wuchsen dort die Pflanzen, um die es ging.

Ich wandte mich ab und überlegte.

Warum war das alles nur so schwer?

Egal, wie emanzipiert und selbstständig die Frauen waren. Es kam doch darauf an, Atmosphäre zu schaffen. Die richtige Stimmung. Und darauf, als Mann wenigstens ein bisschen die Oberhand zu behalten. Die Frauen zu überraschen.

Ich spürte einen Reflex in mir, der mich endgültig fertigmachte. Ich ertappte mich dabei, dass ich zum Handy greifen und Jutta anrufen wollte.

Die einzige Frau, zu der ich ein so enges Verhältnis hatte, dass ich wagte, mit ihr über solche Dinge zu sprechen. Sie hätte mit Sicherheit genau gewusst, was zu tun war.

Das durfte alles nicht wahr sein. Ich war durch den Wind, und das gründlich.

Und während ich noch überlegte, wie ich wieder einen klaren Kopf bekommen konnte - zum Beispiel indem ich ihn in das zweifellos kühle Wasser der Dhünn hielt -, hörte ich aus Wonnes Richtung einen Schrei.