24. Kapitel

»Such du einen Parkplatz, ich geh schon rein«, sagte ich, als Wonne vor dem Tor in der Backsteinmauer hielt.

»Was willst du denn machen? Ihn einfach mit den Tatsachen konfrontieren und darauf hoffen, dass er zugibt, vor Jahrzehnten einen Mord begangen zu haben?«

Ich hatte Wonne erzählt, was mir nach dem Telefonat durch den Kopf gegangen war.

»Vielleicht kann ich bluffen und behaupten, die Polizei sei gerade dabei, oben bei der Knochenmühle nach der Leiche zu suchen oder so was.«

»Wenn das mal klappt…«

»Ich tue halt so, als würde ich nach Gabriele suchen. Mal sehen, was er für eine Version auf Lager hat, was aus ihr geworden ist.«

»Na, welche schon? Dieselbe, die auch in dem Brief an Klara Hackenberg steht. Dass sie sich getrennt haben. Und dass der Kontakt dann abgerissen ist. Dass er nicht weiß, was aus ihr geworden ist.«

Hinter uns ertönte ein tiefes Dröhnen. Ein Lkw näherte sich durch die enge Straße.

»Mach, was du willst«, sagte Wonne, »ich muss jedenfalls hier weg. Ich blockiere alles.«

Ich stieg aus, ging durch das Tor und die Treppe hinauf. Hinter der Glasscheibe saß das blonde Mädchen, das Simone hieß. Sie blickte auf, als ich klingelte, und streckte den Arm zu einem Türöffner aus, der sich neben dem Schreibtisch befand. Ich ging hinein.

»Ist Herr Mathisen da?«, fragte ich.

»Nein, tut mir leid. Er kommt auch sicher nicht mehr. Herr Mathisen und Frau Weißenburg sind schon auf dem Weg zum Flughafen.«

Mir fiel es siedend heiß ein - Hermine Weißenburg hatte mir selbst gesagt, dass sie heute abreisen würden. Hatte sie erwähnt, wohin? Ich konnte mich nicht erinnern. Sicher ins Ausland.

»Es ist sehr wichtig, dass ich ihn noch treffe«, sagte ich. »Wann geht das Flugzeug? Kann ich ihn vielleicht noch erreichen?«

»Ich kann es Ihnen leider nicht sagen …«

»Wohin fliegen sie? Man könnte auf dem Flugplan nachschauen, wann der Flieger geht.«

»Ist es wirklich so dringend?«

»Es geht um eine gerichtliche Sache. Deswegen habe ich auch gestern mit Frau Weißenburg gesprochen.« Ich blickte in das Gesicht des Mädchens, das mir aufmerksam zuhörte, aber nichts unternahm, um mir zu helfen. Aus Erfahrung wusste ich, dass es in solchen Fällen nützlich war, etwas zu übertreiben.

»Ich arbeite für die Staatsanwaltschaft«, behauptete ich. »Herr Mathisen ist Zeuge in einem Mordfall. Wenn ich ihn nicht erreiche und die Information nicht erhalte, die ich brauche, wird das zu Problemen führen. Wahrscheinlich wird Herr Mathisen Schwierigkeiten bekommen. Große Schwierigkeiten. Und sofort wieder zurückreisen müssen. Das wird nicht in seine Termine passen …«

Das Mädchen wurde blass. »Ich gebe Ihnen Herrn Mathisens Handynummer. Vielleicht erwischen Sie ihn ja noch. Es kann sein, dass er noch im Hotel ist.«

Das war das Stichwort. Mathisens Handynummer brauchte ich gar nicht. Wonne hatte sie.

»In welchem Hotel ist er abgestiegen?«

Sie schrieb es mir auf. Es lag am Wiener Platz.

Ich bedankte mich und stürmte davon. Unten im Hof kam mir Wonne entgegen. Fast wären wir zusammengestoßen.

»Und?«, fragte sie atemlos.

»Er ist nicht hier. Seine Frau auch nicht. Sie reisen heute weiter. Komm, vielleicht sind sie noch im Hotel.« Ich überlegte, ob ich ihn anrufen sollte. Nein. Der Überraschungseffekt war wichtig.

Die Parklücke, die Wonne gefunden hatte, lag ziemlich weit entfernt. Wir rannten. Als wir das Auto endlich erreichten, hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Marathon hinter mir.

»Du solltest mehr Sport treiben«, hörte ich Wonnes Stimme durch das Wummern, das meinen Körper erfüllte.

»Beeil dich«, rief ich. Es war der falsche Moment, um über Sport oder Fitness zu diskutieren.

Wir quetschten uns in den Wagen. Wonne fuhr los. Eine Ampel wollte gerade auf Rot springen - mindestens fünfzig Meter entfernt. Wonne trat aufs Gaspedal, dass es mich in den Sitz drückte. Ich wandte den Blick von der Straße und beobachtete die Tachonadel, die auf neunzig hinaufwanderte. Kaum waren wir über die Kreuzung, bremste Wonne wieder.

»Man weiß ja nie, ob es nicht Starenkästen gibt«, erklärte sie.

»Wenn dich einer erwischt, zahle ich.«

Sie gab wieder Gas und preschte weiter. Ich hatte den Eindruck, auf einem Schlachtross zu sitzen, das sich ins Gefecht stürzt.

Keine Ahnung, ob jemals jemand die Zeit gestoppt hat, die man von der Lüderichstraße bis zum Wiener Platz braucht. Mir kam es jedenfalls wie eine Ewigkeit vor. Irgendwo im Straßengewirr um den Kalker Bahnhof hielt vor uns plötzlich ein Transporter. Der Fahrer erschien auf der Rückseite, senkte beschwichtigend die Arme, öffnete die Klappe und begann seelenruhig, irgendwelche Kartons auszuladen.

Wonne trat das Gaspedal durch und lenkte ihren Winzling über den Gehweg, nur Millimeter von dem Transporter entfernt. Auf der anderen Seite schrammte sie gerade so an einem Fahrradständer vorbei.

»Maßarbeit«, murmelte ich und hielt mich fest, als sie um die nächste Abzweigung preschte, dass die Reifen quietschten.

Das Hotel war eine dieser Kettenunterkünfte, in denen vor allem Geschäftsleute abstiegen.

Hinter dem großen Glasfenster waren Gäste zu sehen - hauptsächlich Männer in Nadelstreifen, die Zeitung lasen oder sich über ihre Laptops beugten.

»Willst du wieder allein reingehen?«, fragte Wonne.

»Nein, wir machen das zusammen. Es wird sicher nicht ganz einfach, sich zu unterhalten. Vor allem wenn seine Frau dabei ist.«

»Willst du ihm verraten, dass du weißt, dass er Sandro Marino ist?«

»Nein, aber ich werde den Namen erwähnen. Und ich werde ihn durchaus wissen lassen, dass wir über Marinos Verbindung zu Klara Hackenberg und Gabriele Scherf Bescheid wissen.« Seine Frau wusste das schon. Ob sie es ihm gesagt hatte?

Wonne fand eine Parklücke direkt vor dem Hotel. Wir standen jetzt am Rand der schaufensterartigen Glasfläche.

»Dreh dich mal ganz langsam nach rechts. Aber nicht so auffällig.«

Ich blickte durch die Glasscheibe. In zweiter Reihe saß jetzt Hermine Weißenburg allein an einem Tisch, eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand, vor sich eine Tasse Kaffee. Ohne den Blick von ihrer Lektüre zu nehmen, griff sie nach der Tasse und trank einen Schluck.

Sekunden später betraten wir die Lobby. Hinter der Rezeption sahen uns drei mit weißen Hemden und roten Westen gekleidete blonde junge Frauen auffordernd an. Sie sahen sich in ihrer Kluft so ähnlich wie Drillinge. Ich wandte mich an die mittlere.

»Zu Herrn Mathisen, bitte. Er ist Gast in Ihrem Hotel.«

»Einen Moment …« Routiniert hatte sie sich dem Computer zugewandt und die Zimmernummer herausgesucht.

»Er müsste auf seinem Zimmer sein. Nummer 362. Ich melde Sie an.« Schon griff sie zum Telefon. »Wie ist Ihr Name bitte?«

»Ist nicht nötig«, sagte ich. »Wir gehen gleich hinauf. Er erwartet uns.«

Sie hatte immer noch den Hörer in der Hand. »Er meldet sich nicht. Möchten Sie mit seiner Frau sprechen? Sie hat bereits ausgecheckt und sitzt in der Bar.«

»Hat er auch schon ausgecheckt?«

»Nein.«

»Vielen Dank.«

Ich zog Wonne mit mir in Richtung der Aufzüge.

»Wenn Frau Weißenburg schon ausgecheckt hat, Mathisen aber noch auf seinem Zimmer ist…«

»… haben sie getrennte Zimmer«, konstatierte Wonne. Mit einem leisen Glöckchenton meldete sich die Kabine. Die Türen schoben sich auf.

»… was wiederum ein aufschlussreiches Licht auf ihre Ehe wirft«, spann ich den Faden weiter.

Langsam glitt der Aufzug in den dritten Stock. Als wir den Gang betraten, ließ ein Bewegungsmelder Milchglaslampen angehen. Wie auf vielen Hotelfluren herrschte der typische Mief unlüftbarer, weil fensterloser Räume.

Auf der einen Seite des Flurs befanden sich die Türen zu den Zimmern, gegenüber hingen in gleichmäßigem Abstand Kunstdrucke an der weißen Wand. Schwarz-Weiß-Fotografien mit Kölner Motiven.

Auf dem ersten Bild starrte mich ein steinerner Pferdekopf an. Stammte er von dem Denkmal auf dem Heumarkt oder von einer der Figuren an der Hohenzollernbrücke?

Ein großer Kircheneingang. St. Pantaleon? Der Dom?

Dichtes Laub eines Baumes auf einem Platz in der Innenstadt. Dahinter bildete ein aufgeschreckter Taubenschwarm ein surreales Muster. Wallrafplatz. Oder Neumarkt.

Eine kantige Glasfläche, in der sich der Rhein spiegelte. Eins der neuen Kranhäuser?

»Hier ist es«, sagte Wonne.

Wir standen vor Mathisens Zimmer.

Ich hob die Hand, um zu klopfen, doch ich ließ sie wieder sinken, als ich den Spalt zwischen Zarge und Schloss sah.

Ich drückte dagegen, und die Tür schwang auf.

»Herr Mathisen?«, rief ich.

»Er ist doch schon weg«, sagte Wonne.

Wir mussten uns knapp verpasst haben. Er hatte möglicherweise einen anderen Aufzug nach unten genommen. Oder die Treppe. Und jetzt stand er an der Rezeption und checkte gerade aus. Das Taxi wartete vielleicht schon.

Ich machte einen Schritt in das Zimmer. Die schnellste Möglichkeit war, unten anzurufen, um ihn aufzuhalten.

»Oh Gott«, entfuhr es Wonne.

Mathisen lag zwischen dem Bett und dem kleinen Schreibtisch an der linken Wand, auf dem sich ein Flachbildfernseher, ein Telefon und eine Schreibunterlage drängten.

Er lag auf dem Bauch - die Arme mit den beiden Armbanduhren in Richtung Fenster ausgestreckt. Es wirkte, als wollte er die kleine Tischlampe ergreifen. Die längliche Birne ragte nackt aus der Fassung. Der grüne Glasschirm war zerbrochen, und auf dem breiten, schweren Messingfuß war eine dunkle Einfärbung zu erkennen.

»Nichts anfassen«, sagte ich.

»Schon klar.«

»Bleib am besten draußen.«

»Nichts lieber als das.«

Ich machte einen großen Schritt, um zu Mathisen zu kommen. Kein Zweifel: Er war tot. Auf seinem Hinterkopf glänzte es dunkel. Auch auf den hellgrauen Teppich war Blut geflossen. Wahrscheinlich war er hinterrücks erschlagen worden.

Auf dem ungemachten Bett lag ein geöffneter Koffer. Der Inhalt war akkurat gepackt. Es hatte ihn wohl kurz vor dem Aufbruch erwischt. Als hätte jemand verhindern wollen, dass er abreiste. Weil er danach nicht mehr zu fassen sein würde.

Draußen auf dem Flur näherten sich Schritte. Zwei Leute unterhielten sich. Ich drehte mich um und gab Wonne ein Zeichen. Sie zog die Tür an sich heran. Die Personen gingen vorbei.

Ich war mit Mathisen allein. Meine Gedanken überschlugen sich.

Meine ganze Theorie war zum Teufel. Mathisen hätte mein Mörder sein sollen. Warum war er jetzt das Opfer?

Gabriele Scherf. Klara Hackenberg. Zwei getrennte Geschichten, die sich an einem Punkt berührten. Wir waren den Wegen so weit gefolgt, wie wir konnten, aber irgendwo mussten wir falsch abgebogen sein …

Hatten die beiden Fälle doch nichts miteinander zu tun?

Immer noch Mathisen betrachtend, schüttelte ich den Kopf. Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein. Es musste einen Zusammenhang geben.

Was würde die Polizei sagen?

Ich stellte mir Kommissar Kotten vor, wobei mir sofort klar wurde, dass er gar nicht zuständig war. Nicht er, sondern die Kölner Polizei würde die Ermittlungen übernehmen. Und ich wusste bereits jetzt, was bei meiner Befragung als Zeuge herauskommen würde. Die Polizei würde alles zur Kenntnis nehmen, aber Mathisens Tod völlig unabhängig vom Mordfall Hackenberg behandeln.

Natürlich, würde der zuständige Kommissar einräumen, war eine Verbindung der Personen nicht von der Hand zu weisen. Klara Hackenberg hatte Kontakt zu Mathisen gehabt, aber das war sehr lange her. Dabei war es um ihre Nichte gegangen, über deren Verbleib niemand etwas wusste.

In Mathisens Fall würde die Polizei erst mal in alle Richtungen ermitteln, wie es so schön hieß. Mathisen war Geschäftsmann gewesen. Solche Leute hatten Feinde.

Wenn ich Glück hatte, würden sie meine Theorie überprüfen, aber damit war immer noch nicht klar, wer Mathisen auf dem Gewissen hatte. Und Reinhold saß immer noch als Hauptverdächtiger im Knast.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Wonne. Sie war wieder hereingekommen und sah blass aus.

Ich schrak aus meinen Gedanken. Wir mussten etwas unternehmen. Jeden Moment konnte ein Zimmermädchen oder sonst wer hereinkommen. Vielleicht auch Frau Weißenburg, die unten in der Bar saß und auf ihren Mann wartete. Sicher fragte sie sich längst, wo er blieb.

»Müssen wir nicht die Polizei holen?«

»Ja, natürlich.«

»Worauf wartest du dann?«, fragte Wonne.

Wir drehten uns beide um, als die Tür aufging.

»Siegfried?«

Frau Weißenburg stand im Türrahmen. »Sie? Was machen Sie hier? Wo ist…«

Sie senkte den Blick. »Siegfried!«, schrie sie und machte ein paar schnelle Schritte auf uns zu.

»Frau Weißenburg«, rief ich und packte sie an den Armen. Ich spürte, wie sie in sich zusammensank. Wonne schob den Koffer ein Stück nach hinten in Richtung Kopfseite, damit sie sich setzen konnte.

»Er ist tot, nicht wahr?«

»Wir haben ihn gerade gefunden«, sagte ich.

Sie starrte auf die Leiche. »Die Polizei … Haben Sie sie verständigt?«

»Wir hatten es gerade vor. Frau Weißenburg, wir sollten uns hier nicht aufhalten. Wir müssen das Zimmer verlassen. Kommen Sie. Wir gehen hinunter. Meine Kollegin hilft Ihnen.«

Sie nahm noch immer nicht den Blick von ihrem toten Mann.

Ihre Hand griff in die Innentasche ihres Blazers. Sie zog etwas hervor und steckte es in den Mund. Aluminium blitzte. Sie hatte einen Tablettenstreifen in der Hand, wollte ihn zurückstecken.

In dieser kurzen Zeit streifte mich eine Erinnerung.

»Darf ich mal in Ihre Tasche schauen?«, fragte ich.

Frau Weißenburg sah mich an. »Wie bitte?«

»Ich habe da gerade etwas gesehen, was mich auf eine Idee gebracht hat.«

In diesem Moment vollzog sie eine Wandlung. Plötzlich war sie nicht mehr die schockierte Ehefrau, die feststellt, dass ihr Mann ermordet wurde, sondern eine resolute ältere Dame, der man zu nahe getreten war.

»Was fällt Ihnen ein? Ich verstehe nicht…«

»Sie haben mich gut verstanden, Frau Weißenburg.«

»Das kommt gar nicht in Frage, junger Mann. Wir müssen jetzt die Polizei benachrichtigen.«

»Lassen Sie mich nachsehen.«

»Tun Sie doch etwas«, wandte sie sich an Wonne.

»Zunächst mal tue ich etwas«, sagte ich und zog meine Pistole.

»Remi, was machst du?«, rief Wonne erschrocken.

»Keine Sorge, ich weiß genau, was ich tue.«

Ich hielt Hermine Weißenburg die Waffe vor die Nase und wiederholte: »Holen Sie raus, was Sie in der Tasche haben.«

Sie ließ sich durch die vorgehaltene Waffe nicht beeindrucken.

»Sie sind übergeschnappt«, sagte sie ruhig. »Ein Grund mehr, die Polizei zu verständigen.«

»Genau das werden wir tun«, versprach ich. »Aber erst wenn ich weiß, was in der Tasche ist.«

»Remi, jetzt hör schon auf«, jammerte Wonne.

»Ruhe«, rief ich, ohne Frau Weißenburg aus den Augen zu lassen. »Wenn Sie das, was in der Tasche ist, nicht rausholen wollen, dann übernimmt das meine Kollegin.«

Sie sah einen Moment zu Wonne hinüber, und ich nutzte die Chance. Ich griff in die Jacke.

»Und was soll das?«, rief sie.

Ich versuchte, in Frau Weißenburgs Gesicht zu lesen. Sie war nicht die trauernde Witwe, die davon überrascht wird, dass ihr Mann getötet wurde.

»Ach du Schande«, sagte Wonne, als ich einen Filmstreifen mit Tabletten in der Hand hielt. »Novalgin.«

»Sind Sie wahnsinnig ? Ich …« Hermine Weißenburg versuchte aufzustehen, doch jetzt war es Wonne, die eingriff. Sie drückte sie an der Schulter zurück aufs Bett.

»Das habe ich schon mal gesehen. Und ich weiß auch, wo. Am alten Bahndamm in Wermelskirchen-Tente, wo Sie vorigen Samstag am frühen Morgen auf die Gelegenheit gewartet haben, Frau Hackenberg zu ermorden.«

Hermine Weißenburg deutete ein Lächeln an. »Wie kommen Sie auf so etwas? Das muss ein Zufall sein. Viele nehmen dieses Medikament.«

»Klara Hackenberg war kurz davor, einen lange zurückliegenden Mord aufzuklären. Den Mord an Gabriele Scherf. An der Frau, die die Geliebte Ihres Mannes war, als er gerade nach Salzburg gehen wollte, um mit Ihrer Hilfe seine Karriere zu starten.«

Sie spielte immer noch die Ahnungslose. »Noch ein Mord? Also bitte, Herr Rott. Wofür halten Sie meinen Mann und mich? Für ein mörderisches Ehepaar? Für eine Art Bonnie und Clyde? Machen Sie sich nicht lächerlich.«

»Sie machen sich lächerlich, Frau Weißenburg. Sie sitzen hier, trauern kein bisschen um Ihren Mann, der gerade umgebracht wurde und hier vor uns liegt, sondern spielen die Hartgesottene.«

Ihre Augen schossen Blitze ab. »Was erwarten Sie denn? Dass ich in Tränen ausbreche? Dass ich die Kontrolle verliere, während Sie mich hier mit einer Pistole bedrohen? Was glauben Sie, was in dieser absurden Situation angemessen ist?«

»Frau Weißenburg, gestehen Sie. Sie waren es.«

Sie antwortete nicht, feuerte einen weiteren Giftpfeil ab und hatte plötzlich ihr Handy in der Hand.

»Schießen Sie doch, wenn Sie mich hindern wollen. Mir ist das egal. Sie haben für Ihre wirre Räuberpistole nicht den geringsten Beweis. Und deshalb werde ich jetzt die Polizei alarmieren.«

Wonne reagierte blitzschnell. Sie entwand Hermine Weißenburg das Telefon.

Ich steckte die Waffe weg. Es gab keine andere Chance, als die Strategie zu ändern.

»Gut«, sagte ich. »Wir verlassen jetzt diesen Raum, bevor wir noch mehr Spuren vernichten, und rufen die Polizei an.«

»Werden Sie endlich vernünftig?«, sagte sie.

»Ich habe allerdings ein paar Fragen an Sie und möchte, dass Sie sie mir detailliert beantworten.«

»Warum sollte ich das tun? Ich spreche nur mit der Polizei, mit sonst niemandem.«

»Wer könnte Ihrer Meinung nach Ihren Mann ermordet haben?«, fragte ich unbeirrt.

Sie blickte mich prüfend an. »Sie lassen nicht locker, oder?«

»Sehe ich so aus?«

In ihr schien es zu arbeiten. Sie dachte angestrengt nach. »Vielleicht war es dieser Matze …«, murmelte sie schließlich.

»Matze? Matthias Büchel? Was soll der mit Ihrem Mann zu tun haben?«, fragte ich.

»Sie kennen ihn?«

»Er ist ein alter Kumpel von Reinhold Hackenberg, dem Verdächtigen. Sie haben eine gemeinsame kriminelle Vergangenheit. Ich denke, Klara Hackenberg hat etwas über die Machenschaften herausgefunden, die Matze belasten könnten, und deswegen hat ihr Sohn …«

»Genau der ist es«, rief Frau Weißenburg. »Dieser Büchel hat meinen Mann auf dem Gewissen! Siegfried hat mit ihm zusammengearbeitet. Er hat das hier angerichtet … Ich habe einen Beweis. Wir müssen die Polizei…«

»Einen Beweis? Zeigen Sie ihn mir. Wo ist er?«

»In meinem Auto. Ein Leihwagen, den auch mein Mann während unseres Aufenthaltes in Köln benutzt hat.«

»Steht das Auto in der Tiefgarage?«

»Ja. Also wie gesagt: Dieser Matze scheint für meinen Mann gearbeitet zu haben.«

»Aber er war in Portugal, als Klara Hackenberg ermordet wurde.«

»Davon weiß ich nichts. Er sollte für meinen Mann irgendwelche Dokumente besorgen. Ich weiß nicht, worum genau es ging …«

Plötzlich wurde mir etwas klar. Wonne offenbar auch. »Der Überfall«, sagte sie, und ich versuchte, sie mit einem raschen Blick zum Schweigen zu bringen.

»Was für ein Überfall?«, fragte Hermine Weißenburg.

Ich blockte ab. »Zeigen Sie mir, was in Ihrem Auto liegt.«

Wir erreichten den Aufzug. Es schien endlos lange zu dauern, bis die Kabine kam. Sie öffnete sich und war zum Glück leer.

Ich drückte die Taste »K«, und wir hatten wieder Glück: Wir fuhren ohne Halt an der Rezeption bis zum Untergeschoss durch.

Ein gelb gestrichener, neonbeleuchteter Gang führte zu den Parkplätzen. Hermine Weißenburg blieb vor einem silberfarbenen Ford stehen, kramte in ihrer Tasche und holte den Schlüssel hervor. Ein kurzes Aufleuchten der Blinklichter, und der Wagen war offen.

»Hier«, sagte sie und zeigte mir eine Klarsichthülle, in der ein Stapel weißer Blätter steckte. »Da steht es: Matthias Büchel - daneben eine Telefonnummer. Sie sehen, ich hatte recht. Wahrscheinlich hat mein Mann Klara Hackenberg tatsächlich ermordet. Weil sie darauf gekommen ist, was mit Gabriele Scherf geschah. Um dann die letzten Spuren zu verwischen, hat er Matthias Büchel engagiert. Und der hat ihn dann umgebracht. Vielleicht hatten sie Ärger wegen der Bezahlung. Mein Mann hat schon immer hart verhandelt, wissen Sie …«

Moment, Moment, dachte ich. Nicht so schnell. Was tischte sie mir hier auf? Gut, ihr Mann war der Böse. Das wusste ich schon. Und Matze steckte mit ihm unter einer Decke. Aber warum hätte Matze Mathisen umbringen sollen?

Sie grinste mich an, und in mir wuchs der Zorn. Diese Frau wusste noch mehr. Ganz sicher.

Ich zog die Pistole. »Steigen Sie ins Auto«, sagte ich.

Sie versteinerte. »Aber Herr Rott - warum …«

»Reden Sie nicht, sondern steigen Sie ein.« Sie wollte sich auf den Fahrersitz setzen. »Hinten«, sagte ich. »Wonne, nimm den Schlüssel. Du fährst.«

»Remi, ich versteh das nicht… Wir müssen doch jetzt…«

»Tu, was ich sage.«

Wonne nahm Hermine Weißenburg, die kopfschüttelnd auf dem Rücksitz Platz nahm, den Schlüssel ab.

»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«, fragte sie mich.

»Absolut.«

Ich setzte mich ebenfalls nach hinten, die Waffe permanent auf Hermine Weißenburg gerichtet.

»Fahr los.«

»Und wohin?«

»A3, dann auf die A1. Ins Bergische. Den Rest sage ich dir dann.«

Wonne schlug die Tür zu und ließ den Motor an. Hermine Weißenburg wirkte plötzlich um Jahre gealtert. Sie saß regungslos da und starrte vor sich hin.

Wir erreichten das Rolltor, vor dem eine Kette von der Decke hing. Wonne öffnete das Seitenfenster, zog, und gemächlich wanderte das Gitter nach oben.

Als der Wagen anruckte, kam plötzlich Leben in Hermine Weißenburg. Sie riss an der Tür.

»Ich will hier raus. Sofort. Ich will zur Polizei. Ich zeige Sie an.«

Ich packte sie. »Vergessen Sie es.«

»Sie machen einen schweren Fehler, Herr Rott. Das ist Freiheitsberaubung.«

Im Innenspiegel sah ich Wonnes Augen. Sie warf mir einen fragenden Blick zu. Es tat mir in der Seele weh, ihre Verwirrung zu sehen, aber ich konnte momentan keine großen Erklärungen abgeben.

»Ich will es jetzt endlich wissen«, sagte ich nur. »Wir fahren dahin, wo alles angefangen hat.«