22. Kapitel

Als ich die Treppe hinunterging, wurden die Erlebnisse der Nacht wieder lebendig. Der Schmerz im Oberarm hatte sich zu einem stechenden Klumpen zusammengezogen. Doch dann sah ich den geradezu lukullisch gedeckten Esszimmertisch, und die Erinnerung an den Überfall nahm die Bedeutung eines unangenehmen Traumes an. Die Marmeladensorten übertrafen sich in verschiedenen Rottönen. Neben jedem Teller wartete bereits ein gelb leuchtendes Glas frisch gepressten Orangensafts.

Wonne sah mich mit glänzenden Augen an. Ich hatte das Gefühl, sie würde gleich mit irgendetwas herausplatzen.

»Was ist denn? Ah, stimmt. Du hast gesagt, es gibt Neuigkeiten.«

»Allerdings. Ich habe schon gearbeitet. Und etwas herausgekriegt.«

Ich setzte mich und griff zur Kaffeekanne.

»Ich bin gespannt. Und ganz Ohr«, sagte ich, nachdem ich an der Tasse genippt hatte.

»Ich habe noch mal diesen Herrn Hollrich angerufen.«

»Hollrich?«

»Die Telefonnummer aus Klara Hackenbergs Unterlagen.«

»Ich denke, der Ordner ist weg? Matzes Leute haben ihn doch mitgenommen.«

Sie legte einen Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie mir einen Vogel zeigen, und lächelte verschmitzt. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht. Aber ich habe ein Gehirn. Zum Denken.«

»He, Moment mal«, rief ich in gespielter Entrüstung.

»Und zum Merken«, fuhr Wonne fort. »Wenn du dich erinnerst: Kurz bevor die Typen gestern ins Haus stürmten, habe ich Klara Hackenbergs Unterlagen durchgesehen. Und die Telefonnummer war ja nicht so lang. Hückeswagener Vorwahl, und dann waren es nur noch vier Ziffern.«

»Nicht schlecht«, gab ich zu und angelte mir die Butterdose. »Aber dieser Hollrich wusste doch von nichts.«

»Er nicht, aber sein Vormieter. Eine gewisse Frau Georgi. Ich habe etwa eine Stunde damit verbracht, herauszufinden, wo sie heute wohnt. Gar nicht so weit weg - in Engelskirchen. Hier ist die Telefonnummer.«

Sie hatte von irgendwoher einen Zettel geholt und schob ihn mir hin.

Ich träufelte Wonnes Erdbeermarmelade auf eine Brotscheibe und biss zu. Auf meiner Zunge explodierte ein fruchtiges Gemisch aus süß und sauer. Ich schloss die Augen und sah plötzlich ein weites Erdbeerfeld inmitten grüner Hügel unter einem blauen Himmel vor mir.

»Es ist ja schön, dass du dich dem Genuss meiner Marmelade hingibst«, hörte ich Wonne sagen. »Aber das hier ist wichtiger. Die Frau ist nur noch bis elf zu erreichen. Danach muss sie nach Köln zur Arbeit.«

Ich riss die Augen auf. »Du hast mit ihr gesprochen?«

»Na sicher. Sie ist eine wichtige Zeugin. Von ihr hat Klara den Ohrring.«

»Der Ohrring, der in dem Ordner war? Ich denke, der ist von ihrer Nichte.«

»Ist er auch. Bist du noch so verschlafen, Remi? Also: Es ist jetzt fast fünfundzwanzig Jahre her, da ging Frau Georgi, die damals noch nicht verheiratet war und ganz anders hieß, was aber jetzt egal ist - also, da ging diese Frau Georgi im Wald spazieren. Und was fand sie? Einen Ohrring. Er gefiel ihr so gut, dass sie ihn mitnahm und trug. Ungefähr vor einem Jahr war sie auf einem Familientreffen in Altenberg, und da sprach sie eine Frau auf den Ohrring an. Du kannst dir vorstellen, wer das war.«

»Klara Hackenberg.«

»Genau. Und Klara Hackenberg wusste sofort, dass der Ohrring von Gabriele stammte. Immerhin handelt es sich um ein handgefertigtes Stück. Und Gabriele trägt die Ohrringe ja auch auf dem Foto, das Klara Hackenberg von ihr hatte.«

»Gefunden hat Frau Georgi aber nur einen einzigen«, wandte ich ein.

»So ist es. Dämmert dir da was?«

Oh ja. Mir dämmerte eine Menge. Meine Gedanken überschlugen sich geradezu.

»Gib mir die Nummer«, sagte ich.

»Sie liegt vor dir.«

»Warum hast du dich nicht weiter mit Frau Georgi unterhalten?«

»Du bist doch der Detektiv. Ich dachte, das überlasse ich dir.«

Sie sah mir zu, wie ich den Rest des Brotes nicht gerade slowfoodmäßig herunterschlang und ans Telefon stürzte. Kurz darauf hatte ich die Frau am Draht.

»Frau Georgi? Rott hier. Privatermittler. Sie haben bereits mit Frau Freier gesprochen. Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen zu diesem Ohrring stellen?«

»Wenn ich Ihnen helfen kann … Aber viel weiß ich auch nicht.«

»Sie haben Klara Hackenberg getroffen, und sie hat Sie auf den Ohrring angesprochen …«

»Hackenberg. So hieß sie wohl. Ja, in Altenberg. Letztes Jahr im April. Ich war auf dem Geburtstag einer Cousine …«

»Was hat sie zu Ihnen gesagt?«

»Das war ziemlich komisch. Ich war gerade vor dem Altenberger Hof auf dem Platz und habe ein bisschen mit den Kindern gespielt. Da kam diese Frau - viel zu warm angezogen, in einem dunklen Mantel. Als sie mich auf den Ohrring ansprach, habe ich erst überhaupt nicht verstanden, was sie wollte.«

»Wie ging es weiter?«

»Sie hat mich gefragt, wo ich ihn herhätte. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn vor Jahrzehnten im Wald gefunden habe. Und sie erzählte dann von ihrer Nichte, die irgendwo hingezogen sei und von der sie kein Lebenszeichen mehr erhalte. Und dass sie alle Erinnerungen an sie sammele. Erst kam mir das komisch vor, aber schließlich hat sie ein Foto von ihrer Nichte hervorgezogen, und darauf war tatsächlich dieses Schmuckstück zu sehen. Am Ende tat die Frau mir richtig leid. Sie wollte mir den Ohrring abkaufen, aber ich habe ihn ihr so gegeben.«

»Und Frau Hackenberg hat sich Ihre Telefonnummer aufgeschrieben?«

»Ja, genau.«

»Warum hat sie das getan?«

»Sie wollte unbedingt wissen, wo ich den Ohrring damals gefunden hatte. Ich konnte mich aber nicht erinnern. Ich habe versprochen, meinen Mann danach zu fragen, weil er das sicher noch wusste. Sie wollte sich noch mal melden. Eine Woche später bin ich aber umgezogen. Ich habe gar nicht mehr an sie gedacht. Wahrscheinlich hat sie immer die alte Nummer probiert, aber da war eine Zeit lang niemand zu erreichen.«

»Das heißt, Sie haben danach nicht mehr mit ihr gesprochen?«

»Sagen Sie, Herr Rott - worum geht es eigentlich in dieser Geschichte? Ihre Mitarbeiterin hat mir dazu nichts sagen wollen.«

»Frau Hackenberg wurde vor vier Tagen ermordet.«

»Ermordet? Wegen des Ohrrings?«

»Das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass sie auf der Suche nach ihrer verschwundenen Nichte war.«

»Ich verstehe.«

»Wie lange genau ist es her, dass Sie den Ohrring gefunden haben?«

»Lassen Sie mich überlegen. Ich hatte gerade meinen Mann kennengelernt. Wir waren seit etwa einem Jahr zusammen. Und wir sind oft durchs Bergische gewandert. Wir hatten damals noch nicht so viel Geld für Urlaub … Kennengelernt haben wir uns Silvester 1974. Es muss also im Frühjahr 1976 gewesen sein. Auf keinen Fall früher.«

»Wunderbar. Das hilft mir weiter. Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wo das gewesen ist.«

»Ich weiß es nicht. Wir waren so viel unterwegs …«

»Gibt es keine Möglichkeit, das herauszufinden? Es wäre sehr wichtig.«

»Wie gesagt - ich muss mit meinem Mann sprechen. Er hat damals immer die Routen ausgesucht. Vielleicht weiß er es noch.«

»Kann ich Sie wieder anrufen? Oder Sie treffen?«

»Ich muss nachher zur Arbeit. Aber mein Mann ist sicher da, wenn Sie kommen. Er arbeitet zu Hause. Ich gebe Ihnen unsere Adresse.«

Sie diktierte, und ich schrieb eine Anschrift in Engelskirchen auf.

»Sie hat den Ohrring zu einem Zeitpunkt gefunden, als Gabriele schon nicht mehr in Deutschland war«, sagte ich.

Wonne schüttelte den Kopf. »Das heißt nicht unbedingt etwas. Gabriele kann ihn irgendwann davor verloren haben. Er kann Jahre im Wald gelegen haben, bis er gefunden wurde.«

»Das kommt mir komisch vor. Diese Ohrringe scheinen ihr doch wichtig gewesen zu sein. Sie verliert einen davon, geht nach Österreich und sagt ihrer Tante nichts davon, dass sie ihn verloren hat.«

»Remi, du weißt nicht, ob du überhaupt die gesamte Korrespondenz zwischen Klara Hackenberg und ihrer Nichte in dem Ordner gesehen hast. Und ob sie was gesagt hat, weißt du auch nicht.«

»Der Ordner wirkte wie ein Heiligtum. Da drin war alles, was Klara Hackenberg von ihrer Nichte hatte.«

»Trotzdem kann das Foto zum Beispiel 1973 entstanden sein, 1974 hat sie die Ohrringe verloren, und dann hat sie eben andere getragen. Sie hat sie schließlich selbst hergestellt.«

»Warum war es dann diesen Typen so wichtig, diese Dokumente mitzunehmen? Warum wurde das Hackenberg’sche Haus angezündet? Es muss doch darum gegangen sein, Spuren zu verwischen. Und wenn du mich fragst, sind das Spuren, die Gabriele Scherfs Schicksal erklären. Klara Hackenberg wollte wissen, was aus ihrer Nichte geworden ist. Und dabei hat sie etwas herausgefunden, was irgendwen nervös gemacht hat. Wahrscheinlich Gabrieles Mörder. Meine Theorie ist doch nicht so schlecht. Jemand hat sie umgebracht, die Leiche irgendwo im Bergischen versteckt und so getan, als sei sie mit ihm nach Österreich ausgewandert.«

»Leider kann man es nicht beweisen. Erstens weiß man nicht, wer der Mörder war, und zweitens hat man keine Leiche. Und abgesehen davon: Vergiss nicht, dass es bei der Beweisbeseitigung auch um was ganz anderes gegangen sein könnte. Ich sage nur Immobilienbetrug. Ach, übrigens habe ich im Internet nach der Firma Markgraf gesucht. Die gibt’s nicht.«

Ich runzelte die Stirn. »Machen wir mal mit dieser Spur weiter. Theorie: Der Mörder war Sandro Marino. Und beweisen könnte man das, indem man Zeugen findet, die aussagen, dass er nie mit Gabriele zusammen in Österreich war.«

»Zeugen, die bezeugen sollen, etwas nicht gesehen zu haben? Das wird schwierig. Abgesehen davon wissen wir nicht, wer Sandro Marino ist.«

»Noch nicht. Aber deine Mutter kannte ihn. Hat sie vielleicht ein Foto von ihm?«

Wonne sah mich ein paar Herzschläge lang an. »Ich weiß schon, warum du dir jetzt so viele Gedanken über Sandro Marino machst. Du willst mir helfen, meinen Vater zu finden.«

Sie holte eine Leinentasche, aus der eine Klarsichthülle mit Papieren herausragte.

»Ich war gestern noch in meiner Wohnung, während du geschlafen hast. Das hier sind die Dokumente meiner Mutter.« Wonne wollte alles auf den Tisch legen, aber noch war er mit den Frühstücksutensilien bedeckt.

»Lass uns raus in den Garten gehen«, schlug sie vor. Schon war sie auf dem Weg ins Wohnzimmer und schob die große Terrassentür zur Seite.

Wie bestellt standen zwei große weiße Liegen auf der Wiese. Ich holte die Auflagen aus dem Schuppen, und kurz darauf blickten wir auf den Naturzaun aus immergrünen Sträuchern.

»Alles, was wir von diesem Sandro haben, ist ein Brief«, sagte Wonne. »Ein einziger. Und da bin ich noch nicht mal sicher, ob er wirklich von ihm ist.«

»Was? Aber du hast doch gesagt…«

»Sekunde, Remi. Du wirst schon sehen. Bitte sehr.«

Sie reichte mir ein Blatt herüber. Ich faltete es auseinander und sah wenige Zeilen in großer Schrift, verteilt auf eine DIN-A4-Seite: »Liebe Yvonne, es tut mir leid wegen gestern. Ich konnte dich nach dem Konzert nicht sehen, aber ich glaube auch, daß es keinen Zweck hat. Es ist, wie du gesagt hast.« Unterschrift: »SM«.

»Das sind ja nur Initialen«, sagte ich. »Das heißt doch nichts.«

»Ja. Aber der Brief steckte zusammen mit diesem Programm hier in einer Hülle.«

Ich nahm das zweite Dokument. Es war ein gedrucktes Heft. Das Programm zu einem Konzert im Altenberger Dom. Vorne stand in großen Lettern »Giuseppe Verdi«, darunter »Missa da Requiem« und schließlich ein Datum: »31. Oktober 1975«.

Ich schlug das Heft, das nur aus vier Seiten bestand auf, und fand die Liste der Mitwirkenden. An einem Namen unter den Solisten blieb ich hängen: »Sandro Marino, Tenor«.

Wonne starrte geradeaus in die Büsche. »Offensichtlich hatte meine Mutter ein Faible für Tenöre.«

»Und du hast ein Faible für die Verdi-Messe. Das ›Requiem‹. Wieso eigentlich?«

»Meine Mutter hat es immer gespielt. Es gibt da herrliche Solostellen. Viele berühmte Tenöre haben es gesungen. Sandro Marino, wie du siehst. Siegfried Mathisen übrigens auch.«

»Sonst hast du keine Unterlagen über Marino?«

»Nein, tut mir leid.«

»Welche Dokumente hast du denn über die Verbindung zwischen Mathisen und deiner Mutter?«, fragte ich.

»Ich glaube nicht, dass das etwas mit dieser Sache zu tun hat«, erklärte Wonne.

»Ich will es nur zeitlich einordnen, es kann doch sein …«

»Remi, bitte. Das belastet mich. Können wir nicht die Mathisengeschichte ausklammern?«

»Wann bist du geboren?«

»1979.«

»Da waren Marino und deine Mutter aber schon wieder auseinander. Jedenfalls deutet der Brief das an.«

»Er deutet es an, ja. Aber sie hatten Zeit genug, sich wieder zu versöhnen.«

»Und wann hat deine Mutter Mathisen kennengelernt?«

»Remi, muss das sein?«

»Ich will mir nur ein Bild machen. Dann lass ich dich auch in Ruhe. Wir werden den Namen Mathisen nicht mehr erwähnen.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Also gut. Ich musste ein bisschen rechnen und die alten Terminkalender auswerten, um herauszufinden, was passiert sein konnte. 1978 ist meine Mutter nach Salzburg gefahren, um Fotos von Mathisen und anderen Künstlern zu machen. Sie muss schwanger zurückgekommen sein. Das ergibt sich jedenfalls aus ihren Unterlagen.«

Gut, dachte ich. Erst Marino, dann Mathisen. Mathisen war zu dieser Zeit sicher schon mit Hermine Weißenburg verheiratet gewesen, aber das hieß ja nichts.

Ein elektronisches Geräusch mischte sich in meine Gedanken. »Dein Handy«, sagte Wonne.

Ich stand von der Liege auf, und mit einem Mal spürte ich wieder die Schmerzen der gestrigen Schlägerei. Ein Ziehen in den Schultern.

Ich ging ins Haus. Als ich im Wohnzimmer war, hatte der Anrufer schon aufgelegt. Auf dem Display stand »Anruf von Jutta in Abwesenheit«.

Ich rief zurück. Jutta saß offenbar im Auto.

»Hallo, Remi?«, schrie sie gegen den rauschenden Lärm an. »Du bist ja doch da. Wart ihr beschäftigt?«

»Keine Anzüglichkeiten. Was gibt’s?«

»Bist du in Mettmann?«

»Ja, wir müssen aber gleich weg.«

»Ich bin in zehn Minuten da. Dein Anruf von gestern Abend. Ich habe was herausgefunden.«

»Ich auch. Ich kenne jetzt einen Konzerttermin von Sandro Marino. Jetzt müssen wir nach alten Bekannten suchen und irgendwie herauskriegen, was aus ihm geworden ist … Wäre toll, wenn du mir da helfen könntest.«

»Vielleicht ist das gar nicht nötig.«

»Wieso?«

Juttas Stimme nebelte sich mit Störgeräuschen ein.

»Ich bin gleich da«, verstand ich noch. Dann war die Leitung gekappt.