Prolog

Der kleine Wagen rollt langsam auf den Parkplatz, der jetzt, am Morgen, noch im Schatten liegt. Sie bremst im letzten Moment, bevor die Stoßstange die herabhängenden Zweige der Büsche berührt.

In der Nacht hat es geregnet. Pfützen haben sich auf dem Platz gebildet. Wenn man nicht vorsichtig ist, trägt man den Dreck ins Auto und am Ende ins Haus …

Sie folgt der breiten Rampe, die hinauf zur Hauptstraße führt, und wartet, bis eine Lücke im dichten morgendlichen Verkehr entsteht.

Ein Laster zieht dröhnend Dieselabgase hinter sich her. Dahinter drängeln sich mehrere Pkw. Die Kolonne bewegt sich hinauf in Richtung Burscheid. Über die Serpentinen auf die Höhe.

Endlich kann sie hinüber. Ein paar schnelle Schritte, dann erreicht sie die Bushaltestelle abseits des kleinen Kiosks, der noch geschlossen hat. Hier zweigt ein Pfad in den Wald ab.

Sie hätte näher an die Kirche heranfahren und ihr Auto auf dem kostenpflichtigen Parkplatz abstellen können. Der Fußweg wäre kürzer gewesen.

Aber genau das will sie nicht.

Ihre Art, sich dem Dom zu nähern, ist für sie eine Form der Andacht. Es liegt ihr viel daran, durch den Wald zu gehen, dann ein Stück der dahinplätschernden Dhünn zu folgen und schließlich das alte Tor zu durchschreiten, durch das schon vor Jahrhunderten die Pilger den Dom erreichten.

Sie freut sich darauf. Jeden Tag. Seit Jahren.

Zuerst der Weg durch die Natur. Dann tauchen die Klostermauern auf. Und wie eine Krönung des Ganzen erscheint schließlich das herrliche, stolz hochgezogene Kirchenportal. Es ist plötzlich da - wie aus dem Nichts. Vergleichbar mit einem majestätischen Orgelakkord im leeren, weiten Kirchenraum.

Sie braucht nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass sie pünktlich ist. Sie hat es über die lange Zeit verinnerlicht, kurz nach der Öffnung des Domes morgens zum Gebet zu kommen.

Sie wirft noch einen Blick auf die geschlossenen Fensterläden des Kiosks. Dann betritt sie den Wald.

Jetzt, im Sommer, ist der Pfad fast zugewachsen. Schattige Kühle und der Geruch nach feuchter Erde empfangen sie. Nach wenigen Schritten erkennt sie weiter hinten im Wald den Spielplatz, der, etwas abseits im Wald gelegen, kaum wie ein Ort kindlicher Freude wirkt. Eher wie eine düstere, geheimnisvolle Höhle. Das kleine Holzfort mit der Brücke und den aufragenden Türmen, die Rutschbahn und das Wipptierchen in der Ecke - alles erscheint trostlos, einsam und verlassen.

Ganz in der Nähe murmelt das Wasser der Dhünn. Weiter entfernt rauscht der Verkehr. Dass das Domgelände von Straßen umgeben ist, lässt sich nicht ausblenden.

Sie blickt auf die Wasserfläche, in der sich die Bäume spiegeln, und versucht, spirituelle Einkehr zu finden.

Manchmal gelingt ihr das schon hier. An anderen Tagen erst später, wenn sie ein Stück den schmalen, von Wurzeln überzogenen Pfad entlanggewandert ist. Ihr Sohn fällt ihr ein. Sie wird ihn in das Gebet einschließen.

Sie schließt die Augen. Jetzt sind die Autos weit weg, und die Geräusche der Natur wirken ganz nah. Das leise Gluckern des Wassers. Das Gezeter der Vögel in den Wipfeln.

Im Klang der Welt liegt der Atem Gottes.

Das hat sie vor Kurzem in einem ihrer Bücher gelesen, und ihr ist sofort klar gewesen, dass es stimmt.

Nicht nur im Klang der Welt. Auch im Klang der Musik, die sie manchmal im Dom hört. Im Klang der Konzerte, die sie dort besucht. Im Klang der mächtigen Domorgel.

Sie bleibt eine Weile stehen. Es wird immer stiller um sie. Das ferne Rauschen des Verkehrs, das Vogelgezwitscher - alles hält den Atem an, als hätte eine gewaltige Macht im großen Weltgefüge nur auf sie, Klara Hackenberg, gewartet. Darauf, dass sie ihre Chance bekommt, sich von all der Mühsal und Last, die sie quält, zu befreien.

Nur die Dhünn plätschert leise vor sich hin.

Doch da ist noch etwas anderes.

Ein zartes Klopfen auf dem weichen Waldboden. Ein Tappen. Langsam, aber regelmäßig.

Sie öffnet die Augen.

Es kommt gelegentlich vor, dass sie hier morgens nicht allein ist. Hin und wieder begegnet sie Hundebesitzern. Sie kennt die typischen Geräusche: Schritte, das Hecheln der Tiere, das leise Klirren des Halsbandes.

Doch das hier ist anders.

Sie dreht sich um, ihr Blick durchdringt den Wald in alle Richtungen.

Nichts. Nur die Äste, die den Pfad zur Hauptstraße verdecken, wiegen sich sanft. Hat sie jemand in Bewegung versetzt?

Jemand, der ihr gefolgt ist?

Alles ist noch so wie vorher - in seiner ganzen Trostlosigkeit und Einsamkeit.

Sie muss sich geirrt haben.

Es wird Zeit, dass sie sich auf den Weg macht.

In diesem Moment heult hinter den Bäumen ein Dieselmotor auf; in derselben Sekunde tritt eine Gestalt aus der Deckung neben dem hölzernen Fort und stellt sich an die kleine Hängebrücke.

»Frau Hackenberg?«

Klara zuckt vor Schreck zusammen. Ihr kommen weder Stimme noch Gesicht bekannt vor.

Es ist ihr nicht recht, in ihrer Andacht gestört zu werden. Trotzdem muss sie höflich bleiben. Es kann schließlich niemand wissen, dass das hier schon eine geistliche Handlung ist, die für andere erst im Dom beginnt. Nach dem Kreuzzeichen, nach dem Kniefall.

»Sie sind doch Frau Hackenberg?«

Die Person kommt näher. Jetzt steht sie zwei Schritte entfernt.

Klara nickt. »Ja, das bin ich …« Ihre Stimme ist belegt, sie muss sich räuspern. »Kennen wir uns?«

»Ich glaube nicht. Das heißt - ich kenne Sie.«

Klara glaubt, ein spöttisches Grinsen in dem Gesicht aufblitzen zu sehen.

»Und wie heißen Sie?« Sie versucht, so freundlich wie möglich zu sein.

»Das tut nichts zur Sache.«

Klara hebt die Augenbrauen. Wie ungehörig! Seltsam. Das passt gar nicht zu der eleganten Erscheinung.

»Entschuldigen Sie, aber …«

Der Satz bleibt unvollendet. Sie hatte etwas Ablehnendes sagen wollen, doch ihr ist klar geworden, dass niemand sie zwingen kann, sich mit dieser unbekannten Person zu unterhalten. Sie hat schon genug Zeit verloren. Der Dom öffnet gerade. Sie muss weiter.

Klara geht auf die Stelle zu, wo der kleine Weg beginnt.

»Bleiben Sie stehen!«, hört sie hinter sich.

Klara lässt sich nichts befehlen.

»Stehen bleiben, habe ich gesagt.«

Jetzt hat sie den Pfad erreicht. Schritte folgen ihr. Plötzlich sind sie ganz nah.

Dann hemmt sie etwas.

Ein schmerzhafter Ruck. Ein Stoß. Irgendwo unterhalb der Schulterblätter. Ein stechender Schmerz nimmt ihr den Atem. Ihr Oberkörper scheint mit einem Mal in Flammen zu stehen.

»Ich habe gesagt, Sie sollen stehen bleiben«, zischt die Stimme, die von einem anschwellenden Rauschen in Klaras Ohren übertönt wird. Sie wirkt, als käme sie aus einem defekten Lautsprecher. Und sie klingt plötzlich bösartig. Teuflisch.

Die Person beugt sich über sie. Das Gesicht schiebt sich zwischen sie und die Baumwipfel.

Erst jetzt realisiert sie, dass sie auf dem Boden liegt.

Klara kämpft um Luft. Da trifft sie der Schmerz ein zweites Mal. Diesmal von vorne.

Eine heiße rote Fontäne schießt von irgendwo hervor.

Klaras Gesichtsfeld zieht sich zusammen, wird eng wie ein Tunnel.

Und erst in diesem Moment wird ihr klar, was hier geschieht.

Sie hebt zu ihrem letzten Gebet an.

Dann ist alles schwarz und still.