21. Kapitel

Unter mir war nichts als Leere. Ich fiel und fiel und versuchte, die Arme auszubreiten. Doch irgendjemand hatte mich gefesselt…

Nein, nicht gefesselt. Man hielt mich fest, und jetzt sagte jemand etwas zu mir. Unverständliches Kauderwelsch.

»Matze!«, schrie ich.

Ich war sicher, dass er es war, der mir den Schlag versetzt hatte.

»Remi…«

Das war Wonnes Stimme.

»Remi, komm zu dir.«

Wieder ein Filmriss, dann sagte jemand: »Herr Rott?«

Das war nicht Matze. Der Mann klang älter.

Ich schaffte es, die Augen aufzumachen, und blickte dem kugelförmigen Kopf von Hauptkommissar Kotten entgegen.

»Sind Sie wach, Herr Rott?«

»Wo ist Wonne?«, fragte ich. Es war etwas mühsam. Ich musste erst mal Spucke sammeln.

Sofort spürte ich streichelnde Hände auf der Stirn, und jetzt schob sich Wonne in mein Sichtfeld.

»Hier bin ich. Keine Sorge, Remi.«

Ich setzte mich auf. Es ging nur mit heftigem Zähnezusammenbeißen. Langsam wurde die Umgebung sichtbar.

Ich befand mich immer noch in Mannis Haus. Allerdings lag ich auf der Couch im Wohnzimmer. Der Raum war hell erleuchtet. Die Zeiten romantischen Kerzenscheins waren vorbei.

»Wie lange war ich ohnmächtig?«, fragte ich.

»Sie stellen ja schon wieder analytische Fragen, Herr Rott.« Kotten grinste. »Sehr gut. Sie sind offensichtlich hart im Nehmen.«

»Eine ganze Weile«, sagte Wonne. »Ich hab den Notarzt geholt. Und Herrn Kotten.«

Jetzt erkannte ich hinter dem Kommissar zwei Uniformierte. Ein Mann in Weiß beugte sich zu mir. Hinter dem Fenster blinkte es blau.

»Sie haben ein bisschen geschlafen«, sagte er. »Folgen Sie meinem Finger.«

»Zu Fuß?«

Er blieb ernst. »Mit den Augen.« Er bewegte den Zeigefinger vor meinem Gesicht von links nach rechts. Ich tat wie geheißen.

»Tut das hier weh?« Er drückte gegen meine Rippen.

»Und was machen Sie hier?«, fragte ich Kotten. »Kümmern Sie sich jetzt auch um Einbrüche?«

»Wie geht’s ihm, Doc?«, fragte der Hauptkommissar.

»Alles in Ordnung. Ein paar Prellungen. Nichts Ernstes. Er hat offenbar auch getrunken. Schlechte Kombination mit einer Schlägerei.«

»Nur zwei Flaschen Bier«, protestierte ich.

Der Arzt packte seinen Koffer zusammen. »Ihre Fahne spricht jedenfalls eine deutliche Sprache.«

Vorsichtig schwang ich die Beine von der Couch. Mir war etwas flau, und die Knochen schmerzten. Einen Moment lang schien sich mein Gesichtsfeld zu einem Tunnel zu verengen. Eisiger Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn. Nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, ging es mir besser.

»Ist wirklich alles in Ordnung, Remi?« Wonne setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter.

»Alles klar. Ich hab nur ein paar Informationsdefizite. Was ist denn passiert?«

»Eine Menge«, sagte Kotten. »Ich sag’s ja nicht gerne, aber ich hoffe, dass Sie uns weiterhelfen können.«

Er holte einen der Stühle vom Esstisch, auf dem noch die Teller mit Pillekuchen standen, stellte ihn so vor mich, dass die Lehne mir zugewandt war, und setzte sich breitbeinig darauf. Ich hoffte, dass Mannis Designerteile so etwas aushielten.

Ich wandte mich Wonne zu. »Hast du Matze auch erkannt?« Ich war mir sicher, dass er der Typ war, der mich am Eingang festgehalten hatte.

»Matze?«, fragte Kotten. »Matthias Büchel? Sie meinen, er hat Sie überfallen?«

Ich nickte. »Ich bin mir ganz sicher. Als er mich im Schwitzkasten hatte, zischte er mir was ins Ohr - von wegen, dass ich ihn nicht mehr bei der Polizei verpfeifen soll. Haben Sie versucht, ihn festzunehmen?«

»Ich weiß nur, dass meine Kollegen wegen der Immobilienbetrugsgeschichte mit ihm reden wollten, ihn aber nicht angetroffen haben. Sie waren bei dem Haus in Bergisch Gladbach, dessen Adresse Sie uns gegeben haben …«

»Aber er hat nicht aufgemacht. Schon klar. Und Sie hatten keinen Durchsuchungsbeschluss.«

»So einfach ist das eben nicht, Herr Rott.«

»Jedenfalls bin ich sicher, dass er es war.«

»Und ich bin sicher«, sagte Wonne, »dass der Überfall etwas mit dem Mord an Klara Hackenberg zu tun hat.«

»Und genau das würde ich jetzt gerne mal erklärt bekommen«, sagte Kotten. »Was heißt erklärt? Bewiesen! Ich kann da nämlich keinen Zusammenhang feststellen.« Er nahm mich ins Visier. »Herr Rott, erzählen Sie mir bitte ganz genau, wie Sie den Überfall erlebt haben. Die Aussage von Frau Freier haben wir schon aufgenommen.«

Einer der Uniformierten an der Tür holte stumm Notizblock und Kuli hervor. Ich berichtete, was ich in Erinnerung hatte. Wie ich das Klopfen hörte, wie ich die Tür öffnete, wie sich der Schuss löste.

»Sie scheinen ja geradezu erwartet zu haben, dass irgendwas im Busch ist, wenn Sie mit geladener Waffe an die Tür gehen.«

»Ich hatte halt so ein Gefühl.«

»Seltsam genug, dass Sie dann trotzdem die Tür geöffnet haben.«

»Ich habe geglaubt, ich hätte die Situation im Griff. Aber manchmal täuscht man sich eben.«

»Gut, dass Sie das einsehen. Weiter bitte.«

Ich schilderte den Kampf bis zu dem Moment, in dem ich das Bewusstsein verlor. »Was danach war, weiß ich nicht.«

»Frau Freier sagt, die drei Personen seien daraufhin geflohen.«

»Konntest du Wagentyp oder Autokennzeichen erkennen?«, fragte ich Wonne.

»Nein. Sie sind ohne Licht gefahren.«

Mir fiel etwas ein. »Matze muss verletzt sein. Der Schuss aus meiner Pistole hat ihn getroffen, soweit ich das mitbekommen habe.«

Kotten nickte. »Gut. Jetzt haben wir Ihre Aussage. Trotzdem warte ich auf den Beweis, der uns zeigt, dass die ganze Sache mit dem Mord an Frau Hackenberg zu tun hat.«

»Beweis?«, rief Wonne. »Der Beweis liegt auf dem Tisch. Oder vielmehr - er lag dort.«

Kotten drehte sich zu den Überresten unserer Pillekuchen um, und auch die beiden Uniformierten warfen einen Blick. Der Protokollant hatte seinen Block wieder eingesteckt.

»Was soll das heißen?«, fragte der Hauptkommissar.

»Dort lag der Ordner«, sagte Wonne.

Kotten stand auf und ging zum Tisch. »Welcher Ordner?«

Ich begann eine Erklärung. »Aus dem Haus der Hackenbergs. Er gehörte Klara Hackenberg.«

»Und diese Unterlagen sind jetzt weg«, ergänzte Wonne. »Matze und seine Leute hatten es genau darauf abgesehen. Sie haben nichts anderes aus dieser Luxusbude mitgehen lassen.«

»Unter einem Beweis stelle ich mir etwas anderes vor, Frau Freier.«

»Glauben Sie, wir denken uns das aus?«, erwiderte Wonne entrüstet.

Kotten wandte sich mir zu. »Was waren das für Unterlagen, Herr Rott? Und wie sind Sie an die Sachen gekommen?«

Ich seufzte. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich musste zugeben, dass wir in das Hackenberg’sche Haus eingedrungen waren.

Ich berichtete knapp, und Kotten hörte aufmerksam zu. »Ich möchte aber betonen, dass ich nirgendwo Gewalt angewandt habe. Wir haben gewusst, wo sich der Schlüssel befand, und haben den Ordner geholt. Weiter ist nichts geschehen.«

»Was stand in den Unterlagen?«

Auch das fasste ich zusammen. Die Briefe, die Klara Hackenberg darin gesammelt hatte. Die obskure Telefonnummer. Der Ohrring. Das Foto. Informationen zu Matzes Immobiliensache.

»Können Sie sich an die Telefonnummer erinnern?«, fragte Kotten.

Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat auch nichts damit zu tun. Ich habe dort angerufen. Alle Namen sind komplett unbekannt. Vielleicht war es gar keine Telefonnummer.«

Kotten biss sich auf die Lippen. »Verdammt noch mal«, sagte er. »Auch wenn Sie keinen Beweis haben - Sie haben recht. Da scheint es jemand auf die Dokumente der Hackenbergs abgesehen zu haben.«

»Gut, dass Sie das einsehen«, sagte Wonne. »Und das bedeutet doch, dass Reinhold Hackenberg nichts mit dem Mord an seiner Mutter zu tun haben kann.«

»Wieso das denn nicht?«, erwiderte der Kommissar. »Reinhold und dieser Büchel stecken doch unter einer Decke. Ich würde eher mal sagen, dass seine Bande nun, wo er im Knast sitzt, Beweismittel beseitigen will.«

Ich nickte vor mich hin. Kotten hatte recht. So konnte man das sehen.

»Und sie arbeiten mit rabiaten Mitteln. Es geht nicht nur um den Überfall hier bei Ihnen.«

Ich blickte auf. Was sollte das bedeuten? Hatte Matze mit seinen Jungs noch andere Dinger gedreht? Ich sah es Kotten an, dass er noch etwas auf Lager hatte.

»Und die schrecken auch nicht vor Brandstiftung zurück«, fuhr Kotten fort.

»Gibt es etwas, was wir nicht wissen?«, fragte ich.

»Anderthalb Stunden, bevor wir den Anruf von Frau Freier erhielten, wurden wir zu einem anderen Tatort gerufen.«

»Noch ein Mord? Eine zweite Leiche? Dann kann es Reinhold ja erst recht nicht…«

»Kein Mord«, unterbrach mich der Hauptkommissar. »Brandstiftung. Davon gehe ich jedenfalls aus. Das Hackenberg-Haus ist komplett zerstört. Ein Nachbar hat die Flammen bemerkt, als schon das ganze Dach in Flammen stand. Er hat die Feuerwehr gerufen. Sicher ist: Matzes Bande, die früher mit Reinhold Hackenberg zusammengearbeitet hat, versucht nun, Beweise oder Hinweise zu zerstören.«

»Aber Sie wissen nicht, ob das Feuer wirklich auf deren Konto geht.«

»Das ist nur eine Frage der Zeit.« Kotten stand auf. »Schließlich haben wir jemanden in Gewahrsam, den wir eingehend befragen können. Auf Wiedersehen. Danke, wir finden selbst raus.«

Mir war fast so, als würden die beiden Uniformierten einen Moment stramm stehen, als Kotten zwischen ihnen hinausmarschierte. Sie drehten sich synchron um, und ich befürchtete schon eine kleine Karambolage am Durchgang, durch den sie nicht beide gleichzeitig passten. Doch irgendwie gelang es ihnen, ganz elegant ihrem Chef zu folgen. Zwei Sekunden später fiel die Tür ins Schloss. Wagentüren knallten, Motoren gingen an. Dann fuhren sie los, und die Geräusche verloren sich in der Ferne.

Wonne nahm mich in den Arm. »Bin ich froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist.«

»Als Matze mich da runtergedrückt hat, dachte ich, Gott weiß, was sie mit dir anstellen.«

Sie küsste mich. »Du hattest Angst um mich …«

»Na, dazu hatte ich ja wohl allen Grund.«

Ich machte mich los. Meine Schulter schmerzte. »Entschuldige, aber ich muss was überprüfen.«

Meine Knie waren noch etwas wackelig, als ich zur Garderobe ging. Dort lag meine Beretta. Ich holte das Magazin heraus. Ein Schuss fehlte. Dann sah ich mich genauer um.

»Was ist denn los?«, fragte Wonne.

»Verdammte Scheiße«, entfuhr es mir.

Jetzt sah Wonne es auch. Die Kugel war mitten in den großen Garderobenspiegel eingeschlagen und hatte dort ein Loch hinterlassen, von dem sternförmig in langen Strahlen Risse ausgingen. Wahrscheinlich musste man nur dagegenpusten, und er brach auseinander.

»Bevor ich k.o. ging, habe ich ein Klirren gehört. War das der Spiegel? Er müsste doch ganz kaputt sein …«

Wonne schüttelte den Kopf. »Nein, das war die Vase, die oben an der Treppe stand. Ich hab sie einem der Typen entgegengeworfen.«

Ich unterdrückte den Reflex, hinaufzulaufen und nachzusehen. Es war gar nicht nötig. Vor meinem geistigen Auge wurde die Vase sichtbar - ein asymmetrisch geformtes, bauchiges Teil, weiß mit schwarzen Schlieren, das aussah, als würde es jeden Moment umkippen. Ich versuchte, mir ein Preisschild dazu vorzustellen. Die Summe war vierstellig, dann wurde sie fünfstellig, dazu hörte ich innerlich das Geräusch einer Registrierkasse - und mir wurde wieder flau.

Ich näherte mich dem Spiegel, in dem ich Wonne und mich erkennen konnte, allerdings durch die Risse in lauter kleine Segmente zerhauen.

Langsam streckte ich die rechte Hand aus und befühlte vorsichtig das Einschussloch, in dem noch das Projektil steckte - die Kugel, die durch Matzes Arm oder durch was auch immer hindurch ihren Weg mitten in das Glas gefunden hatte. Der Spiegel war in einen goldfarbenen Rahmen eingefasst, und mir kam der Gedanke, dass es sich um ein antikes Stück handeln könnte. Fünfstellig? Sechsstellig!

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, was dieses Teil wohl wert war und wie viel die Gesamtsumme mit der Vase ergab, fielen die Segmente plötzlich herunter und schepperten auf die Fliesen.

Das imaginäre Klingeln der Registrierkasse ergänzte das klirrende Geräusch wie ein Tusch.

Dann spürte ich Wonnes Hand auf meiner Schulter.

»Mach dir nichts draus. Dein Freund ist bestimmt gut versichert.«

Mühsam tappte ich zurück ins Wohnzimmer, ließ mich auf dem Sofa nieder und versuchte die schwarz-weißen Scherben, die auf dem Teppich lagen, zu ignorieren.

Ein Gefühl der Schwäche überfiel mich. Am liebsten wäre ich hier liegen geblieben und nie mehr aufgestanden.

Ich musste eingeschlafen sein. Diesmal hatte ich nichts geträumt. Kaum war ich bei Bewusstsein, wurde mir klar, dass sich etwas verändert hatte. Das Licht war nicht eingeschaltet. Nur die Lampe über dem Esstisch nebenan brannte, aber sie war heruntergedimmt.

»Wonne?«, fragte ich.

Keine Antwort.

Unruhe packte mich, und ich richtete mich auf. Ich war im Gästezimmer. Eine Decke rutschte von mir herab. Wonne hatte mich offenbar so gut gebettet, wie es ging. Ich spürte, dass ich keine Hose und keine Socken trug. Nur Unterhose und T-Shirt hatte sie angelassen.

Jetzt erinnerte ich mich. Ich war so müde gewesen, so schrecklich müde.

Als ich mich wieder bewegte, raschelte etwas auf der Decke. Ein Blatt Papier. In großer Schrift hatte Wonne eine Nachricht hinterlassen.

»Bin schnell zurück. W.«. Dahinter war ein Herz gemalt.

Vorsichtig stand ich auf und ging ins Bad. Ich schaffte es, zu duschen und mir die Zähne zu putzen. Ich zog mir meinen Schlafanzug an und legte mich wieder ins Bett. Die bleierne Müdigkeit ergriff mich erneut.

Als ich aufwachte, fand ich die andere Seite des Bettes zerwühlt. Wonnes Duft hing noch in dem Bettzeug, und von der Küche drang Klappern herauf.

Mein Handy auf dem Nachttisch zeigte, dass es kurz nach acht Uhr war.

Wonne betrat das Zimmer - frisch wie der junge Morgen, der hell durchs Fenster hereinschien.

»Na, haben der Herr ausgeschlafen?«

Ich brummte etwas.

»Das ist gut. Steh auf - es gibt Neuigkeiten.«