11. Kapitel

Das Haus in Tente lag so still und friedlich unter den hohen Bäumen wie am Tag zuvor. Diesmal fehlte allerdings das Computerspiel-Geballer. Reinholds rostiger kleiner Opel stand immer noch da.

Ich blätterte noch einmal in der Akte.

»Seltsam«, sagte ich.

»Was ist denn?«, fragte Wonne.

»Hackenberg sagte, er und seine Mutter hätten je einen Haustürschlüssel. In der Akte steht aber, dass Klara Hackenberg keinen dabeihatte, als man sie fand.«

Ich griff nach meinem Handy, um die Anwältin anzurufen, und stellte fest, dass ich es nicht dabeihatte. Wonne und ich waren heute Morgen so schnell aufgebrochen.

»Kann ich mal dein Telefon haben?«, fragte ich.

Wonne reichte es mir.

»Du hast doch sicher die Nummer von Frau Rath.«

»Klar, ist eingespeichert. Im Telefonbuch.«

Ich klickte mich durch die Liste. Als ich den Namen »Mathisen« entdeckte, stutzte ich.

Wonne hatte die Telefonnummer des Tenors von Juttas Fete in ihrem Handy? Warum?

»Was hast du?«, fragte sie.

Sollte ich sie fragen? Irgendetwas in mir warnte mich. Nein. Keine Einmischung in Privatangelegenheiten.

»Ach nichts …«

Es ging mich ja auch nichts an. Vielleicht war es ein ganz anderer Mathisen.

Ich fand die Nummer von Frau Dr. Rath und wählte sie. Der Ruf ging durch, aber niemand hob ab.

Wonne steckte das Handy wieder ein. »Was wolltest du sie denn fragen?«

»Wenn jemand anders als Hackenberg der Mörder ist, und wenn Hackenbergs Wagen wirklich in der Nähe des Tatorts war, muss jemand an den Schlüssel gekommen sein. Hackenberg sagte, dass zwei Schlüssel für das Auto am Brett hängen, wenn er zu Hause ist. So wie gestern.«

»Dann hat der Täter am Morgen oder in der Nacht den Schlüssel geklaut. Er hat den Wagen genommen, unten in Altenberg den Mord begangen und das Auto wieder raufgebracht, um so Hackenberg alles in die Schuhe zu schieben. Das ist ganz schön riskant. Er hätte leicht gesehen werden können.«

»Hier oben kann man damit Glück haben«, überlegte ich. »Sobald man aus dem Auto ausgestiegen ist, wird man zum harmlosen Spaziergänger. Was mich am meisten beschäftigt, ist die Frage, wie der Täter ins Haus gekommen ist. Wenn Klara Hackenberg den Schlüssel nicht hatte, könnte sie darauf vertraut haben, dass ihr Sohn zu Hause ist, um sie reinzulassen. Das passt aber nicht. Immerhin ist er ein Langschläfer. Und so schlecht, wie die sich verstanden haben … Vielleicht hat sie ihn irgendwo deponiert. Manche Leute machen so was.«

»Und jetzt?«

»Umschauen.«

Ich probierte die Haustür. Natürlich war sie abgeschlossen. Die kleinen Fenster sahen von Weitem alt aus, aber bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich als modern: Doppelverglasung. Sicherungen mit Bolzen.

»Eingebrochen ist hier offenbar niemand«, stellte Wonne fest.

Wir sahen uns weiter um. Die Rasenfläche neben dem Gebäude war nicht eingezäunt. So gelangten wir ungehindert auf die Rückseite. Hier gab es ein paar Gartenstühle und eine Wäschespinne, weiter hinten Gebüsch. Und ein Stück entfernt noch ein Haus, dessen Dach aus dem Grün aufragte.

Auch auf der Rückseite waren die Fenster gesichert. Die Terrassentür ebenfalls. Ich trat an das Glas heran und versuchte, innen etwas zu entdecken. Ich blickte in ein ziemlich unaufgeräumtes Wohnzimmer. Ein fleckiges Sofa vor einer kahlen Wand. Ein riesiger Fernseher mitten im Raum, hinter dem sich die Kabel knäulten. Ein PC-Tisch mit Geräten. Auf dem dunklen Holzboden lagen DVD-Hüllen verstreut. Das war eindeutig Reinholds Reich.

»Na, der Junge hat ja einen interessanten Filmgeschmack«, sagte Wonne.

Meine Augen waren deutlich älter als ihre. Wahrscheinlich erkannte sie deshalb mehr als ich. Ich nahm die DVD-Cover noch einmal schärfer ins Visier. Schließlich gelang es mir, weibliche Brüste, Hintern und gespreizte Beine zu erkennen.

»Kein Wunder, dass die Mutter sich mit dem nicht verstanden hat«, stellte ich fest.

»Was machen Sie denn da?«

Wir fuhren herum. Ein Gesicht hing in den Büschen zum Nachbargrundstück. Es war rund und hell wie ein Lampion - allerdings trug der Lampion eine dicke Brille und eine glatte Männerfrisur mit strengem Seitenscheitel.

»Es ist verboten, dieses Grundstück zu betreten!« Äste raschelten, der Mann schälte sich aus dem Laub, und mit wenigen Schritten stand er vor uns: Flanellhemd, Kniebundhose, Wollsocken, Wanderschuhe.

»Wenn das so ist«, sagte ich, »dann gehen Sie doch wieder dahin, wo Sie hergekommen sind.«

»Werden Sie mal nicht frech. Wer sind Sie überhaupt?«

»Und wer sind Sie?«

»Geht Sie gar nichts an.«

»Sie sind wahrscheinlich derjenige, der den Streit zwischen Reinhold Hackenberg und seiner Mutter beobachtet hat, stimmt’s?«

»Warum wollen Sie das wissen? Die Polizei hat mir eigens aufgetragen, darauf zu achten, ob sich verdächtige Personen hier herumtreiben.«

»Und? Treiben sich welche herum?«, fragte Wonne.

Der Nachbar warf uns einen bösen Blick zu. Solchen Leuten konnte man nur mit offiziellen Dokumenten imponieren. Ich kramte nach meiner Lizenz, holte sie hervor und hielt sie ihm vor die Nase.

»Privatdetektiv?«, knurrte der Mann. »So was gibt’s doch nur im Fernsehen.«

»Hören Sie, wir wollen keinen Ärger«, sagte ich beschwichtigend. »Wir wollen nur wissen, ob Sie irgendetwas beobachtet haben. Wir arbeiten für die Kripo.«

»Ich hab alles schon den Beamten erzählt, die hier waren. Fragen Sie doch die.« Er kniff die Augen zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Erkenntnis getroffen. »Moment mal! Sie arbeiten gar nicht für die Polizei, stimmt’s? Sie arbeiten für diesen Versager. Da werden Sie sich die Zähne ausbeißen.«

»Wieso?« Ich wusste natürlich, was er meinte, aber es war vielleicht gut, ihn reden zu lassen.

»Der war’s doch. Einer, der den ganzen Tag nur am Computer spielt und sich an Pornos aufgeilt, mit dem muss es doch mal so weit kommen.«

»Haben Sie denn gesehen, wie er gestern Morgen wegfuhr?«

»Sicher. Kurz nachdem Klara das Haus verlassen hat, ist er in seinen Wagen gestiegen und ihr nachgefahren.«

»Von wo aus haben Sie das gesehen?«

»Na, von hier aus. Ich war im Garten. Ich bau da gerade einen Entenstall mit Teich.«

»Enten? In einem Privatgarten?«, fragte Wonne.

Der Mann grinste. »Indische Laufenten. Gute Sache. Die fressen nämlich Nacktschnecken. Brauchen halt nur Wasser. Deshalb der Teich.«

»Zeigen Sie mir das bitte mal.«

»Wenn’s sein muss.«

Wir traten an das Gebüsch heran. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein Stück Rasen, das bis zum Haus reichte - einem gedrungenen, mit dunklem Kunstschiefer verkleideten Gebäude. An der Seite, neben einer kleinen Gruppe von Bäumen, lag ein Haufen Bretter, daneben wartete ein kleiner Bagger auf seinen Einsatz.

»Der Stall muss natürlich solide gebaut werden, damit nachts keine Raubtiere die Enten holen. Das ist wichtig.«

»Raubtiere im Bergischen Land?«, fragte Wonne.

Er sah sie irritiert an. »Aber sicher, junge Frau. Marder. Füchse.«

»Wo genau waren Sie, als Reinhold wegfuhr?«, brachte ich die Unterhaltung auf das Thema zurück.

»Ich hatte gerade das Baumaterial für den Stall rübergebracht. Da hörte ich das Auto. Unverkennbares Geräusch.«

»Das heißt«, beharrte ich, »Sie haben es nicht gesehen, sondern nur gehört. Das Auto hätte auch jemand anders fahren können.«

Wieder der irritierte Blick. »Wer hätte das denn machen sollen? Reinhold war’s, und damit basta.«

»Jemand könnte gesehen haben, wer das Auto genommen hat«, sagte ich, als wir wieder am Auto standen. »Das wäre ein Indiz, das Reinhold entlastet.«

»Aber wie willst du einen solchen Zeugen finden?«

»Überlegen wir mal… Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Täter mit seinem eigenen Auto hier vorfährt, sich dann Zutritt zum Haus verschafft, in Reinholds Wagen steigt und Klara Hackenberg folgt. Das wäre viel zu auffällig.«

»Du meinst, er muss schon längere Zeit gewartet haben.«

»Genau. Aber auch das fällt auf. Man kann hier nicht so einfach unbemerkt in der Gegend rumstehen. Und man muss ja erst mal herkommen. Lass uns zurück zur Hauptstraße fahren.«

Wir parkten wieder in der Nähe des Kaugummiautomaten, gleich gegenüber der Sparkasse.

»Versuchen wir mal zu rekonstruieren«, sagte ich. »Als Erstes kommt der Täter her. Mit dem Wagen.« Ich deutete auf die Bushaltestelle: »Oder mit dem Bus. Und das früh am Morgen. Vielleicht sogar schon in der Nacht.«

»So weit klar.«

»Wenn er mit dem Wagen kommt, muss er das Auto abstellen und sich dann zu Fuß auf den Weg zum Haus machen. Er muss warten, bis Klara Hackenberg wegfährt, um ihr dann zu folgen. Hat er gewusst, wann sie wegfahren würde? Oder hat er einfach gewartet und ist ihr gefolgt, als sie wegfuhr? Auf jeden Fall wird er ein Versteck gebraucht haben. Er stand sicher nicht gut sichtbar hier in der Gegend herum.«

Wir stiegen aus und gingen zu Fuß in Richtung des Hackenberg’schen Hauses. Dann standen wir wieder auf der Brücke, die über den alten Bahndamm führte, und blickten in die Schlucht.

Neben der Brücke zweigte eine private Zufahrt ab - ein Schotterweg, neben dem es steil in die Tiefe ging.

Mir kam ein Gedanke. Mit wenigen Schritten stand ich am Abgrund und hangelte mich von Baumstamm zu Baumstamm den Abhang hinunter. Es zog etwas in den Armen, war aber leichter, als ich befürchtet hatte. Sekunden später stand ich unten auf den Resten des alten Bahnsteigs und blickte zur Brücke hinauf, wo Wonne zwischen den Ästen weit oben am Geländer stand und mich beobachtete.

»Ich komme auch runter«, rief sie, löste sich von den Metallverstrebungen und verschwand links neben der Brücke.

Vorsichtig ging ich ein paar Schritte und trat auf Müllreste. Eine verdreckte Plastiktüte. Getränkeflaschen. Kaputtes Glas. Es knirschte unter meinen Schuhsohlen.

Man kam sich vor wie in einem Tunnel. Kein Unterholz, kein Gebüsch. Der Raum war groß und frei - und oben von den sich berührenden Ästen und Blättern der Bäume an den Hängen geschützt. Von der Brücke war durch das Gewirr zwar der Rest des Dammes zu sehen. Trotzdem konnte man sich hier unten sicher ganz gut verstecken, wenn man es darauf angelegte. Ich fragte mich, wie lang dieser Tunnel war. Wahrscheinlich konnte man ihn einige Kilometer abwandern.

Wonne kam vorsichtig den Hang herunter. Sie trug nur flache sommerliche Ballerinas.

»Pass auf, dass du nicht in das Glas trittst«, sagte ich. »Das dringt durch deine Schuhe.«

Sie erreichte die Talsohle und blieb neben mir stehen. »Das ist ja seltsam hier. Wie in einer Kirche. Oder in einem geheimnisvollen Wald.«

Ich ging ein Stück auf bemoostem Beton entlang, auf dem man früher auf den Vorortzug gewartet hatte. Wo der Belag aufgebrochen war, wuchs Gestrüpp.

Ein Stück glänzende Alufolie auf dem Boden zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich bückte mich und hob es auf. Es war der Rest einer Filmtablettenpackung. Der Medikamentenname war noch zu lesen.

»Novalgin«, sagte Wonne. »Ein Schmerzmittel.«

»Woher weißt du das so genau?«

»Meine Mutter hatte Krebs«, sagte sie. »Hab ich das nicht erzählt?«

»Woran deine Mutter starb, hast du nicht gesagt.«

»Man lernt jedenfalls eine Menge, wenn man einen Krebskranken in der Familie hat. Das hier nimmt man gegen starke Schmerzen.«

»Ob das Ding eine Spur ist? Wenn er sich hier versteckt hat? Vielleicht ist unser Täter krebskrank?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist es auch einfach nur Müll.«

Wir fuhren zurück zu Mannis Haus. Wonne stellte ihren Wagen neben meinem Golf ab.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt.«

Ja, ich hatte gegrübelt, und das so sehr, dass mir die Fahrt so schnell wie ein Blitzschlag vorkam.

»Ich musste nachdenken.«

»Du glaubst, dass die Sache zu schwierig ist, oder? Dass es keine Beweise gibt, die Reinhold Hackenberg entlasten …«

Ich schüttelte die Gedanken ab, mit denen ich während der Fahrt beschäftigt gewesen war. Sie hatten gar nichts mit dem Fall zu tun. Jedenfalls nicht mit Spuren oder Ähnlichem. Sie drehten sich um Wonne. Ich ahnte, dass es bei meinem nächsten Schritt Ärger geben konnte. Aber davon sagte ich erst mal nichts.

»Am Anfang war ich ja skeptisch. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sehr davon überzeugt, dass er’s war«, sagte ich. »Nicht dass ich ihm das nicht Zutrauen würde. Aber dafür war mir zu viel Planung im Spiel. Zu viel Vorbereitung. Es passt zu so einem Typen einfach nicht, hinter der Mutter herzufahren und sie auf den Spielplatz zu locken.«

»Wir wissen auch immer noch nicht, was sie auf dem Spielplatz gemacht hat. Sie wollte zum Dom, aber der direkte Weg geht nicht über den Spielplatz.«

Ich nickte. Wonne hatte recht. Klara Hackenberg war zwar zum Beten nach Altenberg gefahren. Aber sie konnte sich darüber hinaus mit jemandem getroffen haben.

»Sie hat sich wahrscheinlich mit jemandem getroffen«, sorgte Wonne für ein Echo meiner Gedanken.

»Jetzt schaust du wieder so komisch«, sagte sie. »Was ist denn?«

»Komm erst mal mit rein.«

Ich schloss die Haustür auf, ging durch ins Wohnzimmer und legte die Mappe auf den Tisch. Wonne war unsicher. Ich konnte es spüren. Ihr sonst immer lächelndes Gesicht war überschattet.

»Das hat mir Frau Dr. Rath in der JVA gegeben«, sagte ich.

»Und was steht da drin?«

Ich schlug die Mappe auf. Sie enthielt die Kopien von zusammengehefteten Protokollen, Formularen und Fotos. Es waren sogar zwei Zeitungsartikel dabei, die nicht zur Polizeiakte gehörten. Wahrscheinlich hatte Frau Dr. Rath sie aus dem Internet geholt und als Information für mich dazugelegt.

»Das ist Hackenbergs Vergangenheit. Wie du weißt, ist er vorbestraft. Das hier sind die amtlichen Dokumente dazu. Und noch etwas mehr.«

Wonne zog sich das Material heran und begann zu lesen.

»Der Typ hier sieht ja brutal aus.«

»Es ist ein Polizeifoto. Da lächeln die Leute selten.«

»Matthias Büchel, genannt Matze«, las Wonne.

»Er hat mehrmals im Knast gesessen. Das letzte Mal von 2005 bis 2007. Im Moment ist er auf freiem Fuß.«

»Enkeltrick«, fuhr Wonne fort. »Autodiebstähle.«

»An der Enkeltricknummer war auch Reinhold beteiligt. Damals hat er ausnahmsweise mal gearbeitet. Als Taxifahrer in Leverkusen.«

»Das war Ende der Neunziger«.

Ich nickte. »Damals war der Enkeltrick noch nicht so bekannt wie heute. Sie haben vierzehn alleinstehenden alten Leuten das Geld aus der Tasche gezogen. Matze hat sich am Telefon als Enkel ausgegeben, der unbedingt Geld braucht, und behauptet, ein Freund würde es abholen. Reinhold war dann der angebliche Freund.«

Wonne schüttelte den Kopf. »Dass das wirklich so gut funktioniert. Kann man gar nicht glauben.«

»Sie haben sich gezielt alte Leute ausgesucht, die schon ein bisschen tüttelig waren. Reinhold hat als Taxifahrer genau mitbekommen, wo sie wohnten. Er hat viele alte Leute gefahren - zum Arzt und so weiter. Dadurch war er für sie sogar so etwas wie eine Vertrauensperson geworden. Als sie gesehen haben, dass er das Geld holte, haben sie es ihm erst recht gegeben, weil sie ihn ja schon kannten.«

Wonne schob die Mappe weg, als sei sie etwas Ekliges. »Das ist wirklich eine Sauerei, hilflose alte Leute so zu betrügen. Schrecklich.«

Ich nickte.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie.

»Diesen Matze überprüfen.«

»Du glaubst also die Version von Reinhold? Dass seine Mutter etwas herausgefunden hat und Matze im Weg war?«

»Es könnte auch sein, dass eine Erpressung dahintersteckt. Dass Reinhold wieder in irgend so eine Sache verstrickt war und seine Mutter unbedingt verhindern wollte, dass das bekannt wird und ihr Sohn wieder ins Gefängnis muss. Sie könnte sich mit Matze getroffen haben. Vielleicht wegen der Geldübergabe. Und dann ist es zum Streit gekommen. Und Reinhold will nicht darüber reden. Das wäre auch eine Erklärung für sein unkooperatives Verhalten. Wenn nicht einfach nur Sturheit oder mangelnde Intelligenz dahintersteckt.«

»Aber ein Erpresser bringt doch nicht die Kuh um, die er melken will. Das passt nicht, Remi.«

»Vielleicht hat Klara irgendwas rausgekriegt. Und drohte nun selbst zur Polizei zu gehen. Um ihren Sohn zu schützen. Und Matze hatte Angst, aufzufliegen. Ich würde ja gerne Klara Hackenbergs Haus nach weiteren Hinweisen durchsuchen. Apropos: Wir müssen gleich noch mal Frau Rath anrufen. Sie muss Reinhold fragen, ob es keine andere Möglichkeit gibt, ins Haus zu kommen.«

»Klar.« Wonne nahm ihr Handy und wollte wählen.

»Nicht jetzt. Wenn ich gleich weg bin.«

Ich war auf Krach gefasst. Wenn ich mit Jutta ermittelte, gab es regelmäßig Ärger, sobald ich ankündigte, dass ich einen Alleingang vorhatte. Sie wollte immer und überall dabei sein. Auch wenn es sinnlos oder viel zu gefährlich war.

»Willst du denn allein fahren?«, fragte Wonne.

Ich fühlte mich beklommen. Aber es nützte nichts. Ich musste ehrlich sein.

»Ich kann überhaupt nicht voraussehen, was bei der Überprüfung von Matze geschieht. Laut Akte treibt er sich in Leverkusen herum, und das ist auch schon drei Jahre her. Es ist einfach zu gefährlich. Ich muss das allein machen, verstehst du?«

Würde Wonne die Krallen ausfahren? Mich anschreien?

Nichts davon.

Sie beugte sich vor und strich mir über das Gesicht. »Du hast Angst um mich? Das ist süß von dir.«

»Ich hoffe … du bist nicht… enttäuscht.« Ich kam ein wenig ins Stammeln. »Aber wir müssen uns trennen.«

Eine kleine Bewegung, und sie saß neben mir auf der Couch, umarmte und küsste mich. »Ich hoffe doch, nicht zu lange«, sagte sie, die Augen geschlossen.

Ich spürte die vibrierende Erregung ihres weichen Körpers, und auf einmal machten sich meine Hände selbstständig und wanderten unter ihr T-Shirt, über ihre Beine …

»Nicht dass du mich vergisst da draußen«, keuchte sie.

Die Anspannung fiel von mir ab. Mich streifte die Idee, den Rest des Tages freizunehmen und ihn einfach mit Wonne auf der Couch oder im Bett oder auf dem Teppich oder sonst wo zu verbringen.

Sanft schob sie mich von sich.

»Och, gerade habe ich gedacht… wo doch Sonntag ist…«

»Nichts da. Du machst dich auf die Spur von diesem Matze. Und ich übernehme hier Telefondienst.«

Die Erregung sank in sich zusammen.

»Außerdem sorge ich für ein schönes slowfoodmäßiges Abendessen. Wir bleiben in Handykontakt. Und heute Abend … wird ein schöner Abend.«

Handykontakt - bei diesem Stichwort fiel mir etwas ein.

Ich suchte mein mobiles Telefon und schaltete es an. Kaum war der Empfang da, begann es zu bimmeln wie verrückt. Das Display zeigte achtzehn Anrufe in Abwesenheit. Alle von Jutta.

»Hast du eine andere Freundin?«, fragte Wonne schelmisch und sah mir über die Schulter.

»Nein, nur eine Tante, mit der ich im Moment ein bisschen im Clinch bin.«

Ich erzählte ihr, was gestern Abend noch vorgefallen war.

»Wenn man dich so reden hört, könnte man glatt glauben, du hättest was mit Jutta«, sagte Wonne, als ich geendet hatte.

»Na, hör mal…«

»Ist schon okay. Abgesehen davon ist ja Tante mit Neffe kein echter Inzest.«

»He, hörst du nicht zu? Da läuft gar nichts.«

»So eifersüchtig, wie die ist? Das kannst du dem Papst erzählen.«

Ich war ehrlich empört. Aber wahrscheinlich, weil sie auf ihre Art recht hatte. Nicht dass da etwas zwischen Jutta und mir gewesen wäre. Aber wer uns nicht so gut kannte, konnte vielleicht tatsächlich auf den Gedanken kommen.

Ich wandte mich wieder meinem Fall zu und betrachtete die Bilder in der Mappe, um sie mir einzuprägen.

Matze hatte ein ziemlich markantes Äußeres. Dichtes, schwarzes Haar. Kantiges Gesicht. Massives gekerbtes Kinn.

Ich nahm das Material, schnappte meine Schlüssel, wurde aber an der Haustür von Wonne noch einmal aufgehalten.

»Auftanken«, flüsterte sie und zog mich an sich. »Das muss ja wieder ein paar Stunden reichen.«

Der Kuss, der folgte, war wahrscheinlich der längste meines Lebens.