3. Kapitel

Wie selbstverständlich hatten wir ihren Wagen genommen.

Es war nicht leicht gewesen, darin Platz zu nehmen. Jeder Mensch mit einer Körpergröße von über einsfünfzig war für die Nussschale ungeeignet. Als ich mich endlich auf den Beifahrersitz gequetscht hatte, ragten meine Knie in die Höhe wie zwei kleine Berggipfel, über die ich das Panorama der Windschutzscheibe betrachten konnte. Ich kam mir vor wie bei einer seltsamen Yoga-Übung. Auch Wonne musste die Beine anziehen. Nicht so stark wie ich, aber der Winkel brachte den Rock ganz hübsch ins Rutschen. Ich schätzte den bloßen Streifen heller, makelloser Haut vom Saum bis zum Knie auf fünfunddreißig Zentimeter.

Als sie Gas gab, pustete der heiße Sommerwind von oben in den Wagen.

Auf die Rallye konzentrieren, mahnte ich mich. Die Mappe lesen. Die erste Aufgabe. Ich hatte noch nicht einmal in die Unterlagen geschaut. Ich griff auf den Rücksitz, während wir den Feldweg entlangschaukelten.

Es war eine Liste mit Ortsangaben und den eigentlichen Aufgabenstellungen. Sie begann mit Solingen. Danach kamen Altenberg, Engelskirchen, Overath und sogar die etwas entfernteren Orte Wiehl und Nümbrecht. Jutta hatte bei der Auswahl der Stationen Wert auf historische Gebäude gelegt. Wir würden unter anderem Schloss Burg, den Altenberger Dom und Schloss Homburg mit der legendären Postkutsche zu sehen bekommen.

»Und? Wo geht’s zuerst hin?«, fragte Wonne, als wir an der Pfaffenberger Straße standen. Hier mussten wir uns entscheiden, in welche Richtung wir abbiegen wollten.

»Rechts«, sagte ich. »Die erste Station ist Schloss Burg.«

Sie gab Gas.

»Dann gleich wieder rechts.«

Jetzt ging es auf die Burger Landstraße, die uns hinunter in das enge Tal bringen würde, über dem das Schloss thronte.

Ich war lange nicht mehr dort gewesen, aber in meiner Kindheit war Schloss Burg das Ziel etlicher Sonntagsausflüge gewesen. Wie mit Gewalt zwischen die steilen Höhen geklemmt, überragte der historische Rittersitz den kleinen Solinger Ortsteil.

»Du kennst dich hier aus, was?«, rief Wonne und sah zu mir herüber. »Na, du hast ja auch einen Beruf, bei dem man rumkommt.«

Die Tachonadel des kleinen Fiat wanderte über die achtzig, als sie in die erste Kurve ging. Die Fliehkraft fuhr mir in den Magen.

»Wer hat dir eigentlich erzählt, was ich beruflich mache?«, fragte ich.

Sie bremste, gab wieder Gas und lenkte routiniert. Auf der einen Seite der Straße erhob sich der Hang, auf der anderen drohte der Abgrund. Hinter den Bäumen zeigten sich die grauen Mauern des Schlosses.

»Meine Mutter. Sie und Jutta waren Freundinnen.«

Aha, dachte ich. Und da war ich also Gesprächsthema gewesen.

»Waren Freundinnen?«, fragte ich nach. »Haben sie sich verkracht?«

»Meine Mutter ist tot.«

Vor uns lag ein Stück gerade Strecke, und Wonne nahm es zum Anlass, knatternd aufzudrehen und auf die nächste Kurve zuzurasen, als lege sie es mit Gewalt darauf an, herauszufinden, wer stärker war. Die Physik oder wir.

»Tut mir leid«, brachte ich hervor. Und ärgerte mich. Das erste kleine Smalltalk-Gespräch, und dann kam gleich ein Todesfall zur Sprache.

»Immerhin habe ich von ihr das Auto geerbt…«

»Verstehe. Von wann ist der Wagen?«

»1957. Erstes Baujahr. Man nennt ihn übrigens Knutschkugel.«

»Ach ja?«

Wir schwiegen. Ich spürte, dass auch sie nach einem neuen Thema suchte. Sie fand schneller eins als ich.

»Ich wollte schon immer mal einen Detektiv kennenlernen«, sagte sie. »Über deinen Job musst du mir unbedingt mal mehr erzählen.«

Ich beschloss, mich ein bisschen weiter aus dem Fenster zu hängen. »Einen Detektiv kennenlernen? Oder mich kennenlernen?«

Sie behielt die Straße im Auge, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten laut herausgeprustet wäre. »Manchmal fügen sich die Dinge, sodass ein Gutes zum anderen kommt«, sagte sie.

»Verstehe.«

»Das freut mich.«

»Brauchst du denn einen Ermittler?« Oder einen Kerl, fügte ich innerlich hinzu, denn danach sah es irgendwie aus.

»Vielleicht.«

»Ich stehe in jeglicher Hinsicht zur Verfügung.« Ich bemühte mich, so sachlich wie möglich zu klingen. Trotzdem kam ich mir vor wie in einem dieser Filme auf Mannis Pay-TV-Erotik-Kanal. Oder vielleicht gerade deshalb. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein. So was gab’s einfach nicht.

»Keine anderen Verpflichtungen?« Wonne sah kurz zu mir hinüber. Ihr Blick machte irgendetwas in mir noch weicher, was ohnehin dabei war, zusammenzuschmelzen. Verpflichtungen … Redeten wir über den Job? Nein - sie checkte ganz klar meinen Beziehungsstatus.

»Frei. Niemandem verpflichtet.« Einsamer Wolf, hätte ich am liebsten noch gesagt, ließ es aber.

»Dann steht einem Engagement nichts im Wege?«

»Nö …«

Wieder folgten wir einer Kurve und gelangten ins Tal - mitten in die dahingewürfelten Häuser, manche in Fachwerk, andere im typisch bergischen Schieferwandstil. Das Schloss sah wie eine Märchenburg aus - mit wuchtigen grauen Mauern, einem stolz aufragenden Bergfried und dunklen Schieferdächern, die in der Sonne matt glänzten. Auf einem davon wehte eine Fahne.

Plötzlich fuhr Wonne rechts ran. Krachend ließ sie die Handbremse einrasten.

»Was sollen wir hier eigentlich machen?«, fragte sie.

Ich hatte die Karte auf dem Schoß, und sie beugte sich zu mir, sodass mich ihr Duft umwehte. Ein fruchtiges Duschgel oder Parfüm.

»Du hast eine Sache übersehen«, erklärte sie. »Man kann sich die Reihenfolge der Ziele selbst aussuchen. Hauptsache, man hat abends alle Fragen geschafft. Auf dem Partygelände kümmert sich das Einsatzteam dann um die Auswertung. So steht es hier.« Sie hob den Kopf. »Was für ein Einsatzteam?«

»Keine Ahnung«, log ich. Und es musste ein Zeichen gewesen sein. Oder so was wie Telepathie. Jedenfalls meldete sich im selben Augenblick meine neue Handymelodie, und auf dem Display blinkte der Name des Anrufers: Jutta.

»Du magst Verdi?«, fragte Wonne.

Jutta störte. Ich schaltete das Handy einfach aus. Gleichzeitig kombinierte ich messerscharf, dass die Melodie auf meinem Handy von Verdi war und dass ich damit bei Wonne punkten konnte.

»Klar«, sagte ich, als hätte sie mich gefragt, ob ich einen festen Wohnsitz besaß. »Jeder muss Verdi lieben.«

»Und welche Oper gefällt dir am besten?«

»Och …« Ich grübelte fieberhaft, ob ich schon mal den Namen einer Verdi-Oper gehört hatte. Wenn ja, gab es die Chance, dass er mir jetzt einfiel. Angeblich vergaß man ja nichts. Man verschluderte es nur.

Plötzlich kam mir eine geniale Idee.

»Es gibt ja außer den Opern noch andere Sachen …«

Das Prinzip war einfach: Es gab immer noch andere Dinge als die, die jeder kannte. Und wenn man sie zur Sprache brachte, hatte man bei Experten gewonnen. "Wenn man ganz großes Glück hatte, redeten sie gleich weiter und benannten das, was man nur angerissen hatte. Wenn man also gefragt wurde, welchen Film von XY man am besten fand, dann sagte man einfach: Ich schätze ihn nicht so sehr als Schauspieler, sondern für das, was er sonst so macht. Fragt das Gegenüber, was das wäre, sagt man: sein soziales Engagement.

Wonne stieg tatsächlich gleich darauf ein.

»Du hast recht. Mensch, Remi, du kennst dich ja aus. Das Größte ist seine Kirchenmusik! Das ›Requiem‹. Die Totenmesse. Vorhin habe ich’s noch gehört.«

Sie drehte den Schlüssel, ließ den Motor an und drückte einen Knopf am Radio.

Sofort fetzte die klassische Musik wieder los, mit der sie an Juttas Festplatz vorgefahren war.

Ein Chor brüllte irgendwas. Trompeten schmetterten, Pauken donnerten.

»Dies Irae«, schrie Wonne versonnen. »Der Tag des Zorns. Das Jüngste Gericht. Wahnsinn, oder?«

Ein Rennradfahrerpärchen in schwarz-gelbem Profi-Outfit sah sich erschrocken zu uns um.

Ich nickte, wartete ein paar Sekunden, in denen Wonne auf die Radioarmatur blickte, als käme das Heil der Welt von dort. Ich deutete auf die Mappe.

Sie drehte leiser, blätterte die Unterlagen durch und sah mich dann mit einem seltsamen Blick an.

»Hast du Hunger?«, fragte sie.

»Ehrlich gesagt, ja.«

Bei diesem Stichwort fiel mir etwas ein. Wir waren zu früh losgefahren. Jutta wollte noch einen Imbiss reichen. Die anderen saßen jetzt bei Suppe, Salat und Baguette in den Korbstühlen auf der Wiese … Und wir waren einfach abgehauen.

»Schau mal, was hier steht. Solingen. Schloss Burg. Die Frage lautet: ›Etwas, das es in der Nähe der Burg gibt, ist mindestens fünfmal gewickelt. Was ist das?‹«

»Schief gewickelt oder gerade?«, fragte ich - zugegebenermaßen etwas dümmlich.

Wonne nahm die Mappe, beugte sich über meine Knie hinweg, sodass ihr blondes Haar nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt war, und kramte im Handschuhfach nach einem Kuli.

Dann schrieb sie mit großen Buchstaben etwas neben die Frage.

»Burger Brezel?«, fragte ich. »Ist das was von McDonald’s?«

»Du darfst das ›Burger‹ nicht wie in ›Cheeseburger‹ aussprechen. U wie u. Dann stimmt es. Es ist eine Brezel aus Burg. Kapiert?«

»Kapiert.«

»Komm, wir kaufen eine.« Sie gab Gas und drehte den Tag des Zorns lauter, allerdings nur ein paar Sekunden lang, denn dann waren wir offenbar schon am Ziel.

Sie hielt an einem kleinen Platz. Vor uns zogen sich die Häuser des Ortes entlang. Alles war knallig aufgepeppt von leuchtend roten Geranien, die tausendfach neben dem Flusslauf in ihren Kästen standen. Von hier aus konnte man rauf zum Schloss laufen oder einfach nur in den Gässchen herumspazieren.

»Warte.« Sie stieg aus.

Die Breitseite des Plätzchens nahm ein spitzes Haus mit Schieferwand ein. Eine Beschriftung über den kleinen Fenstern verkündete, dass wir vor dem Cafe Meyer standen. Wonne verschwand in einer Tür im Erdgeschoss und kam kurz darauf mit einer Brezel zurück, die so groß war wie ein Kirmeslebkuchenherz. Ein rotes Band zum Aufhängen hatte sie auch.

»Siehst du? Hier in der Mitte? Zähl mal.«

Ich begutachtete die Verschlingung des Teiges zwischen den beiden Schlaufen. Ich zählte sechs Umdrehungen. Aber es war ja auch die Rede von mindestens fünf Schlaufen gewesen. Ehe ich darauf eingehen konnte, hatte Wonne ein Stück abgebrochen und hielt es mir vor die Nase. Ich nahm es nicht in die Hand, sondern öffnete den Mund, um mich füttern zu lassen, und Wonne machte mit. Das nächste Stück durfte ich ihr dann in den Mund stecken. Fasziniert beobachtete ich, wie sie erst mit ihren weißen Zähnen daran knabberte, bevor sie herzhaft hineinbiss.

»Der Teig ist hart und trocken«, erklärte sie. »Wie Zwieback. Das ist für diese Brezeln typisch. Sie müssen rappeln.«

Das rote Band verschwand irgendwo im Fußraum und gesellte sich zu den Krümeln, die wir dort hinterlassen hatten.

Ich fühlte mich großartig. Der Tag hatte sozusagen gerade erst angefangen, und ich wagte mir gar nicht auszumalen, was er noch alles bringen würde.

Leider hatte ich mir nur Gedanken in eine bestimmte Richtung gemacht.

Und eine andere vollkommen außer Acht gelassen.