12. Kapitel

Mein Weg führte mich zuerst nach Wuppertal in meine Wohnung an der Ecke Kasinostraße/Luisenstraße. Es war Zeit, den Briefkasten mal wieder zu leeren. Vier Rechnungen waren dabei, die ich ordentlich auf meinen Schreibtisch in dem Raum legte, den ich Büro nannte.

Ich ließ mich in den schwarzen Drehsessel sinken. Mir kam es vor, als sei ich wochenlang nicht mehr hier gewesen. Dabei waren es erst ein paar Tage. Das letzte Mal hatte ich in einem anderen Abschnitt meines Lebens hier gesessen. In einem Abschnitt ohne Wonne …

Irgendetwas stank bestialisch. Es war der Müll, den ich vergessen hatte runterzubringen. Ich riss die Fenster auf und entsorgte die Tüte. Als ich wieder oben war, verbrachte ich ein bisschen Zeit damit, meine Beretta zu checken, die ich aus Mannis Haus mitgenommen hatte.

Kurz darauf war ich wieder auf dem Weg in die Friedrich-Ebert-Straße, wo ich geparkt hatte. Ich stieg in meinen Golf und beobachtete das Volk im Cafe Engel und auf dem Laurentiusplatz, das den sommerlichen Sonntag genoss. Hier sah Wuppertal bei schönem Wetter wie Klein-Italien aus. Helle Mauern, Natursteinpflaster, entspannte Menschen, die den Tag vertrödelten.

Vielleicht wäre es doch nett gewesen, Wonne mitzunehmen.

Quatsch, schalt ich mich. Reiß dich zusammen. Dienst ist Dienst. Und wenn du das hier hinter dir hast, kannst du es dir leisten, sie mal so richtig einzuladen.

Oder ganz was anderes mit ihr zu unternehmen.

Es gibt nichts Trostloseres als Industriegebiete am Sonntag. Hinter endlosen Zäunen öde, leere Asphaltwüsten, bewacht von melancholisch in die Ferne blickenden Verwaltungsgebäuden. Kastenförmige Lagerhallen mit vereinsamten Rampen, die ins Nichts führen. Vereinzelt aufragende braunrote Schornsteine. Am Straßenrand hin und wieder parkende Lkws. Gestrandete Wale im Meer des Transportwesens.

Wahrscheinlich sahen die Gewerbegebiete von Rom, Sydney, Hamburg oder Casablanca genauso aus. Aber ich war in Leverkusen, irgendwo in der Gegend von Küppersteg - und hatte mich verirrt.

Ich fuhr rechts ran, stellte den Motor ab, ließ aber den Schlüssel auf Ladung, damit mein CD-Player nicht stoppte. Ich hatte mir eine Sammlung schöner Oldies von den Stones bis ABBA gebrannt. Im Moment lief gerade Albert Hammonds »It never rains in Southern California« - ein Lied, bei dem mir immer Assoziationen zur Welt meiner großen Kollegen aus Los Angeles kamen. Columbo. Marlowe.

Der Soundtrack machte die traurige Kulisse einigermaßen erträglich, verlieh ihr sogar eine gewisse Romantik.

Leverkusen war eine Stadt voller Gegensätze. Hin und wieder taten sich tatsächlich reizvolle Ecken auf; es gab sogar nette historische Häuschen, schmuck restauriert, als hätte sich die Stadt besonders herausputzen wollen. Doch war man um die nächste Ecke, landete man im Industriegebiet, steuerte auf eine Fabrikhalle zu oder näherte sich der schrecklichsten Schönheit dieser Stadt - dem riesigen Bayergelände, das man auch nachts durch das kilometerweit sichtbare Bayer-Kreuz leicht finden konnte.

Mein Ziel lag woanders. Und es war viel versteckter. Nördlich der Ost-West-Achse der A1, zwischen Fixheide und Küppersteg, wo die Bahnlinie einen Bogen um zwei Baggerseen machte, von denen der eine »Silbersee« hieß, ging es in eine schmale Straße.

Rechts erhoben sich schmutzige Fassaden, links eine verwilderte kleine Anhöhe, dahinter Gleisanlagen - die Ausläufer des Güterbahnhofs.

Gleich nach der Abzweigung öffnete sich vor den aufwuchernden Büschen und Bäumen eine Bucht mit platt gefahrener Erde, wo ich den Golf parken konnte. Ich stellte den Wagen ab und ging zu Fuß weiter.

Ein Stück entfernt ragte eine Dom-Kölsch-Werbung auf, darunter der Hinweis: »Bundeskegelbahn«. In diesem Haus hatte laut Unterlagen Matthias Büchel alias Matze gewohnt. Vielleicht war es ja immer noch sein Zuhause.

An der Klingelleiste fehlten die Schilder. Es gab nur Reste von Klebestreifen, mit denen sie früher befestigt gewesen waren. Ich drückte auf einen der Knöpfe, und erst in diesem Moment bemerkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Der Einsatz mit den Klingeln saß nur lose in seinem Gehäuse. Ich konnte ihn herausziehen; er wurde bloß noch durch ein paar marode Drähte gehalten.

Jetzt sah ich auch die quer verlaufenden Bretter auf der anderen Seite des geriffelten Türglases. Die Fenster der Kneipe nebenan waren dunkel. Laub, zerdrückte Zigarettenpackungen, Plastikflaschen und zermatschtes Zeitungspapier hatten sich im Eingangsbereich angesammelt.

Das Haus war unbewohnt. Wahrscheinlich wurde es demnächst saniert. Oder abgerissen. Oder es dämmerte weiter in seinem schlechten Zustand vor sich hin.

Jedenfalls fand ich hier keinen Matze.

Ich zündete mir eine Zigarette an - die erste heute. Ich wunderte mich selbst über meine Disziplin. Wahrscheinlich lenkte mich Wonne vom Rauchen ab. Langsam schlenderte ich zum Wagen zurück. Es war einfach zu lange her. Der Typ konnte wer weiß wo sein.

Ich sah meine kleine Spur gerade ins Nichts zerrinnen.

Jetzt hätte ich doch gerne Wonnes Hilfe gehabt, um in der Straße von Haus zu Haus zu gehen und nach Matze zu fragen. Eine ziemlich zeitaufwendige Sache.

Quatsch, dachte ich und setzte mich ins Auto. Es geht auch anders.

Als ich nach meinem Handy griff, begann es zu klingeln. Als habe mein Gedanke es auf telepathische Weise in Gang gesetzt.

»Jutta« meldete das Display.

Die hatte ich vollkommen vergessen. Aber ich konnte sie nicht einfach wegdrücken. Also ging ich ran.

»Hallo, Jutta.«

»Remi, es tut mir so leid. Ich hab mich total blöd benommen«, sagte sie zerknirscht.

»Ist schon gut.«

»Nein, ist es nicht. Ich hasse es, Krach mit dir zu haben … Sag mal, wieso habe ich dich denn nicht erreicht? Ist irgendwas?«

Ihre Stimme war jäh von niedergeschmettert zu misstrauisch umgeschlagen. In dieser Geschwindigkeit war das eine emotionale Glanzleistung.

Ich versuchte, mir so schnell wie möglich eine Meinung zu bilden, ob ich ihr von dem neuen Fall erzählen sollte.

»Nein, ich war nur unterwegs.«

»Mit Wonne, oder?«

»Und wenn schon.«

»Ja, ist ja okay.«

Jutta benahm sich tatsächlich wie eine Exfreundin, mit der man »nur« noch befreundet war.

»Hauptsache, du hast deinen Spaß«, fügte sie hinzu.

»Ist bei dir alles in Ordnung?«

Sie seufzte. Aha, dachte ich. Da liegt also der Hase im Pfeffer. Jutta hat ein Problem. Und wahrscheinlich ein großes. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, dann …

»Ehrlich gesagt, ist nichts in Ordnung.«

»Was ist denn los?«

»Ich weiß nicht, ob ich das so am Telefon sagen kann, Remi.«

»Sollen wir uns treffen?« Falsche Frage, dachte ich. Aber es war zu spät.

»Wenn du vielleicht mal die Möglichkeit hättest…«

Etwas Wummerndes näherte sich. Ein Wagen fuhr in die Straße, ein aufgemotzter Mercedes in Goldmetallic. Er hielt vor dem heruntergekommenen Haus. Das wuchtige Presslufthämmern brach ab. Zwei Typen stiegen aus, checkten cool die Umgebung und schlossen die Tür zur Kneipe auf. Mich hatten sie wahrscheinlich vor lauter Coolness übersehen.

Jutta redete unterdessen weiter, aber ich war so abgelenkt, dass ich nicht richtig hinhörte.

»Du, ich ruf dich gleich wieder an, ja?«, sagte ich hastig. »Ich muss Schluss machen.«

»Aber …«

Es half nichts. Ich drückte sie weg, stieg aus und ging auf die Kneipe zu.

Die Tür stand offen, und ich konnte hineinsehen. Es war düster und muffig. Dunkle Holzstühle. Eine zerkratzte Bar. Wahrscheinlich war es nur dem schummrigen Licht zu verdanken, dass man die Dreckpatina nicht sah.

Die beiden Typen standen hinter der Theke und hatten mir den Rücken zugewandt. Der eine hielt eine Taschenlampe in der Hand und beleuchtete einen geöffneten Sicherungskasten an der Wand.

Sie hatten nicht mitbekommen, dass ich den Raum betreten hatte. Sicher hatten sie durch ihre dröhnende Musikbeschallung längst einen Gehörschaden erlitten.

»Guten Tag«, rief ich lauter, als eigentlich nötig gewesen wäre. »Können Sie mir helfen?«

Sie drehten sich synchron um. Der eine war gekleidet wie ein Vorstadtcasanova: brauner Anzug, offenes weißes Hemd. Der andere steckte in einer dieser Bombenlegerhosen: Khaki mit diversen Seitentaschen. Sein schwarzes T-Shirt trug die weiße Aufschrift »Ich hab kein Problem mit Alkohol - nur ohne.«

Irrte ich mich, oder sah der Möchtegernalkoholiker Matze ähnlich? Die lange Nase. Die scharf konturierten Wangenknochen. Das markante Kinn. Aber er war deutlich jünger. Noch keine dreißig, schätzte ich.

»Was brüllst du so?«, rief der Vorstadtcasanova. »Wir sind nicht taub.«

»Entschuldigung, ich aber«, sagte ich so dahin. »Nach der Beschallung, der ich ausgesetzt war …« Mir fiel ein, dass eine Beurteilung des Musikgeschmacks der Jungs sicher kaum als Gesprächsbeginn taugte. »Ist Ihnen der Name Matthias Büchel bekannt? Er soll hier mal gewohnt haben.«

Ich war mir sicher, dass der Alki bei dem Namen leicht zusammengezuckt war. Als er mit dem anderen einen schnellen Blick tauschte, war die Sache klar.

»Wer will das wissen?«, übernahm Casanova die Führung.

Die Menschen waren höflich, also konnte ich auch ganz frank und frei sagen, worum es ging. »Es geht nur um eine Auskunft.«

»Was für eine Auskunft?«, brachte sich jetzt Alki ins Spiel.

»Ein alter Kumpel von ihm steckt in Schwierigkeiten. Und ich dachte, Matze könnte ihm vielleicht helfen. Wohnt er noch hier irgendwo?«

Die beiden ließen den Sicherungskasten Sicherungskasten sein, kamen um die Theke herum und bauten sich vor mir auf.

»Und du bist der Kumpel, oder was?«, fragte Casanova.

»Nein, der Mann heißt Reinhold Flackenberg. Sie haben zusammen mal was unternommen, wenn ihr versteht, was ich meine.«

»Nö.« Alki spitzte die Lippen. »Verstehen wir nicht.«

Ich wandte mich an ihn. »Hör mal, du bist doch der kleine Bruder, oder nicht?« Ich bluffte: »Von dem er immer erzählt hat.«

»Quatsch. Cousin.«

»Na, oder so ähnlich. Dann musst du doch wissen, wo er wohnt.«

Der Kleine ärgerte sich sichtlich, dass er verraten hatte, mit Matze verwandt zu sein. »Ich hab ihn lange nicht gesehen. Vor zwei Jahren ist er zu seiner Mutter gezogen.«

»Das ist doch schon mal was«, sagte ich anerkennend. »Jetzt musst du mir nur noch sagen, wo das ist, und du bist mich wieder los.«

Er grinste mich an. »An der Antenne in Schlebusch.«

Jetzt grinsten beide, als wäre das hier in Leverkusen ein Insiderwitz.

»Ist das eine Kneipe, oder was?«

Casanova schüttelte den Kopf: »Nee, ‘ne richtige Antenne. Ein Haus mit so ‘nem riesigen UMTS-Teil auf dem Dach, verstehst du?«

»Hat das Haus auch eine Adresse?«

»Sicher«, nickte Alki. »Die wissen wir aber nicht. Und jetzt hau ab , wir müssen arbeiten.«

»Wollt ihr den Laden hier wieder in Schuss bringen?«

Sie gingen wieder hinter den Tresen. Casanova drehte sich noch einmal um. »Was geht dich das an? Du hast deine Auskunft, oder nicht? Hau ab jetzt. Das hier ist Privatgelände.«

Ich ging brav hinaus und bog um die Ecke in Richtung Wagen, blieb aber nach einem Meter stehen und drängte mich an die Wand. Durch die offene Tür war zu hören, wie sich die beiden unterhielten.

»Was war das denn für ein Typ?«

»Keine Ahnung. Frag doch Matze, ob der was weiß.«

Kurze Pause. Ein elektronisches Piepsen wie von einem Handy.

»Scheißempfang hier drin. Ich geh raus.«

Ich nahm die Beine in die Hand und legte in kürzester Zeit mindestens zwanzig Meter zurück. Dann stoppte ich und schlenderte ganz gemütlich weiter. Als ich am Wagen angekommen war, blickte ich zurück. Matzes Cousin stand da und telefonierte.

Ich zeigte mich desinteressiert, stieg ins Auto und rollte Sekunden später wieder durch die gesichtslose Industrielandschaft. Hinter einem abgestellten Monster-Truck fuhr ich rechts ran und wählte die Festnetznummer von Mannis Haus. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme.

»Hallo?«

»Hallo, ist da Hecking? Kann ich bitte Manni sprechen?«

»Nein, ich meine, ja. Das heißt, nein. Ich kenne keinen Hecking. … Moment mal, Remi - bist du das etwa?«

»Ich wollte nur mal sehen, was du machst, wenn das Telefon klingelt.« Ich grinste vor mich hin, aber Wonne fand das offensichtlich gar nicht lustig. Jedenfalls ging sie nicht darauf ein.

»Hast du was rausgekriegt?«, fragte sie.

»Geht so. Ich brauche deine Hilfe.«

»Mach schnell. Ich habe gerade etwas auf dem Herd.«

»Du kochst?«

»Was soll ich sonst machen? Mehr gibt’s ja nicht zu tun. Ich habe heute Morgen ein paar Zutaten mitgebracht.«

»Du solltest doch herausfinden, ob jemand in das Haus der Hackenbergs reinkonnte. Die Sache mit dem Schlüssel, wenn du dich erinnerst.«

»Hab ich schon geklärt. Sonst noch was?«

»Und?«

»Was und?«

»Kann man da rein?«

»Der Schlüssel ist immer hinter dem Haus in einem Blumentopf versteckt, sagt Frau Dr. Rath. Das heißt: sagt Reinhold Hackenberg.«

»Der Klassiker. Es konnte also jeder rein.«

»Richtig. Gibt’s sonst noch was? Die Nudeln sind gleich fertig, und ich muss sie auf den Punkt abschütten, sonst…«

»Sind die nicht kalt, bis ich wieder da bin?«

»Schon mal was von Nudelsalat gehört?«

Meine Güte, Wonne war richtig grantig. Ich hatte sie wahrscheinlich mitten in einer kreativen Kochphase gestört, und dann kam ich auch noch mit dem blöden Witz an.

»Kannst du mal übers Internet rausfinden, wie viele Büchels es in Leverkusen gibt?«

»Das geht jetzt nicht. Hast du kein Smartphone, mit dem man ins Netz kann?«

»Leider nicht.«

»Da wird’s ne Menge geben, vergiss es. Oder hast du eine bestimmte Adresse?«

»Nein.«

»Tja dann …«

»Tut mir leid wegen eben. Aber ich hab mich gefreut…«

Im Hörer tutete es.

»… deine Stimme zu hören«, ergänzte ich, obwohl Wonne es schon nicht mehr mitbekam. Plötzlich erschien mir die triste Umgebung noch verlorener. Noch einsamer.

Ich ließ den Motor an, stellte die CD laut, und bei den Klängen von Harpos »Movie Star« wurde mir klar, dass ihre Stimme eigentlich der einzige Grund gewesen war, warum ich Wonne angerufen hatte.

Das muss Liebe sein, dachte ich. Das muss es einfach.