6. Kapitel

Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen war? Na ja, so ein bisschen dann und wann. Wenn es mich in Wuppertaler Kneipen verschlug, konnte sich schon mal was ergeben.

Aber so richtig? So mit allem Drum und Dran? Dass es auf einen zugeflogen kam wie ein unausweichlicher Schicksalsschlag? Dass man sofort denkt: So müsste es immer bleiben?

Das war sehr lange her.

Wir waren wieder unterwegs. Wonne folgte den legendären Motorradserpentinen den Berg hinauf und hielt sich Richtung Burscheid. Wir hatten schon den neuen Kreisverkehr erreicht, als mir klar wurde, dass etwas nicht stimmte.

Auf genau derselben Strecke waren wir vorhin von Solingen hergekommen. Die nächste Aufgabe musste uns doch in Richtung Gummersbach führen. Oder nach Engelskirchen. Nach Wiehl.

Stattdessen fuhren wir zurück.

Ich wollte mich gerade umdrehen und nach der Mappe auf dem Rücksitz greifen, als Wonne Gas gab und so schwungvoll aus dem Kreisverkehr hinausfuhr, dass die Unterlagen irgendwo in den Fußraum rutschten.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich.

»Wermelskirchen.«

»Bist du sicher, dass das richtig ist?«

»Ganz sicher.«

Es ging an den Apfelbaumplantagen vorbei und dann immer weiter auf der Landstraße, an der sich ein Örtchen nach dem anderen aufreihte wie Perlen auf einer Schnur.

Plötzlich griff Wonne mit der rechten Hand in meinen Nacken und streichelte mich, ohne die Straße aus den Augen zu verlieren. Als wir in ein Wohngebiet kamen, nahm sie die Hand wieder weg, weil sie einen Gang runterschalten musste.

Sie sah kurz zu mir herüber. »Soll ich dir mal was sagen?«

»Nur zu.«

»Das ist der aufregendste Tag meines Lebens. Hoffen wir, dass wir nicht noch mehr Tote unterwegs auflesen. Das würde mich nämlich gewaltig stören.«

Ich griff das Angebot auf. »Ach? Wobei denn?«

»Warte ab. Der Tag ist noch lang.«

»So lang auch wieder nicht.«

Ich sah auf die Uhr. Es ging schon auf sieben Uhr zu. Wo war der Nachmittag hin? Wir waren als Erste losgefahren, hatten bisher aber nur zwei Aufgaben gelöst. Von insgesamt fünf, wenn ich mich recht erinnerte. Die Zeit schien sich gedehnt und wieder zusammengestaucht zu haben.

Verknalltheit als Beweis für die Relativitätstheorie. Was wohl Einstein dazu gesagt hätte?

»Dann eben die Nacht«, knüpfte ich an unser Gespräch an und wagte mich noch ein wenig weiter vor.

Wonne sagte nichts.

»Musst du morgen arbeiten?«, fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Mittlerweile hatten wir die Auffahrt zur A1 erreicht, ließen sie aber links liegen.

»Morgen ist Sonntag.«

»Das heißt nichts.« Ich spielte unser Spiel weiter. Herausfinden, was sie von Beruf war. Vielleicht verriet sie sich. »In meinem Job jedenfalls.«

»In meinem Beruf heißt das auch nichts, aber morgen tue ich nichts. Zumindest nichts Berufliches.«

Wahrscheinlich ein freier Beruf, dachte ich. Genau wie bei mir. Wunderbar. Da konnte man sich seine Zeit selbst einteilen.

Ich schloss die Augen und versuchte, die abendliche Sommerluft als Verheißung eines großen Liebesabenteuers zu empfinden. Man musste den Dingen Sinn geben. Das hatte Jutta immer gesagt, als sie mal ein Semester Philosophie studiert hatte. Vorübergehend. Als fünfundvierzigjährige Gasthörerin.

Man musste sich klar werden, was die Dinge für einen bedeuteten. Nicht einfach nur blind genießen. Sondern den Geist mitarbeiten lassen.

Ich muss gestehen, dass ich diese Weisheit damals nicht so richtig verstanden hatte. Welche Bedeutung hatte denn zum Beispiel ein kühles Bier? Außer eben ein kühles Bier zu sein?

Aber jetzt wurde mir klar, was sie gemeint hatte. Der Sommerwind, der nach Wiesen, aber auch ein bisschen nach dem Staub der Straße, nach heißem Asphalt und nach Abgasen roch, bedeutete nicht einfach Sommer, sondern den Beginn eines herrlichen Liebessommers. Der Geruch würde mich immer und ewig daran erinnern. Egal, was kam. Und egal, ob eine gute oder eine schlechte Erinnerung daraus wurde.

Rott, alter Junge, dachte ich. Was ist aus dir geworden? Ein verliebter Philosoph …

Wonne schien wie ich in Gedanken versunken zu sein. Still lächelnd saß sie am Steuer. Ich sah sie von der Seite an. Sie merkte es natürlich, blickte aber nicht herüber. Sie genoss es, von mir betrachtet zu werden. Ich senkte den Blick auf ihre wohlgeformte, verheißungsvolle Figur, auf ihre Beine und beobachtete, wie sie ihre Füße auf den Pedalen bewegte. Sie hatte die Schuhe wieder abgestreift, fuhr barfuß. Jetzt griff ihre rechte Hand zum Schaltknüppel. Sie nahm den Fuß vom Gas, drosselte die Geschwindigkeit und brachte den Wagen in Schritttempo, bevor sie rechts ranfuhr und hielt.

»Hier lösen wir die nächste Aufgabe«, sagte sie.

Ich sah mich um. Wir befanden uns in einem Vorort von Wermelskirchen. Neben dem komplett eingeschieferten Restaurant »Alte Post« hatte sich der ultramoderne Neubau einer Sparkassenzweigstelle breitgemacht, mit einer knallroten Flagge um Aufmerksamkeit heischend. Ein Stück weiter hatte sich ein Autohändler niedergelassen. Auch hier wehten Fahnen - allerdings gelbe. Man hatte sich auf Jahreswagen eines französischen Fabrikats spezialisiert.

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»Kölner Straße. Tente. Kurz vor Wermelskirchen.«

»Und was sollen wir hier machen?«

Ich löste den Gurt und versuchte, zwischen den Sitzen nach der Mappe zu angeln. Wonne war jedoch schneller und nahm sie an sich.

»Es geht um einen alten Film. Komm, steig aus. Wir müssen eine Querstraße rein.«

Ein alter Film …

Ich war sicher, davon nichts in den Unterlagen gelesen zu haben. Doch Wonne hatte sich schon die Schuhe angezogen und stieg aus. Ich verließ den Wagen ebenfalls und bemerkte am Zaun des angrenzenden Grundstücks etwas, das aus meiner Kindheit herüberzuwinken schien. Einen Kaugummiautomaten. Außen etwas verrostet, aber innen bunt gefüllt. Ob man da noch Groschen reinwerfen musste?

Ein Stück weiter glänzten drei Aluminiumsäulen. Dazwischen waren Schilder angebracht, die auf nahe gelegene Industriebetriebe hinwiesen. Wonne folgte der Abzweigung von der Hauptstraße weg nach rechts. Wir gelangten an eine Brücke, auf beiden Seiten mit Leitplanken verstärkt. Sie überspannte einen großen Graben, fast so tief wie eine Schlucht.

»Hier gab es mal eine Bahnlinie.« Wonne deutete hinunter. »Und ganz in der Nähe gab es sogar mal einen Bahnhof ›Tente‹, der aber heute aufgegeben ist. Man konnte mit dem Nahverkehrszug nach Köln oder Leverkusen fahren.«

Von den Bahnschienen war von hier oben aus nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich lagen sie längst nicht mehr da. Zu erahnen war jedoch eine moosige Betonkante. Wahrscheinlich der Rest des Bahnsteigs.

Es war wie ein Blick in eine andere Welt. Ich fragte mich, wie es sein musste, da unten herumzulaufen. Man kam sich vermutlich vor wie in einer riesigen langen Höhle. Mit ineinandergeschlungenen Ästen, die sich oben zusammenschlossen.

»Müssen wir da runter, um die Aufgabe lösen?«, fragte ich. Es würde nicht schwer sein, hinunterzukommen. Neben der Brücke war der Abhang leicht zugänglich.

»Nein. Komm weiter.«

Erst kamen wir an Wohnhäusern vorbei, dann wurde das Sträßchen schmal, war aber noch asphaltiert. Wir gelangten ins Grüne. Vor uns lag eine kleine Senke, in der sich Bäume drängten. Nach und nach wurde dazwischen ein Fachwerkhaus sichtbar.

»Was hast du eben von einem Film erzählt?«, fragte ich.

Wonne schien in Gedanken versunken zu sein. »Film?«

»Ja, als wir losgegangen sind, hast du gesagt, es ginge in der Aufgabe um einen Film.«

»Ja, stimmt.«

Sie legte einen Schritt zu, als wolle sie für die Walking-Weltmeisterschaft trainieren. Wir kamen dem Gebäude immer näher. Es lag quer am Ende des Sträßchens. Zwei Stockwerke. In der Mitte befand sich eine grün gestrichene Eingangstür, auf der die berühmten Initialen der Heiligen Drei Könige standen. Mit weißer Kreide geschrieben und in einer fast übertriebenen Deutlichkeit.

Hohe Bäume überragten das fleckige dunkelgraue Ziegeldach. Vor dem Haus parkte ein Wagen. Ein alter Opel, der wahrscheinlich mal dunkelrot gewesen war. Jetzt hatte er überall Rostflecken.

»Bleib stehen«, rief Wonne und hielt mich fest.

Was passierte hier?

Irgendetwas sagte mir, dass wir uns nicht mehr auf der Rallye befanden, aber auch nicht auf dem Weg zu Wonnes Wohnung, sondern in einer ganz anderen Situation. Eine, die mich fatal an meine normale Arbeit erinnerte. An das Aufklären von Fällen. Oder hatte Wonne eine Überraschung für mich?

»Wonne, was ist denn eigentlich los?«

»Nicht so laut, Remi… Sonst…«

Ich spitzte die Ohren. Da war etwas zu hören. Ein Geräusch, das nicht in die Landschaft passte. Geknatter, Geballer. Schüsse. Es kam aus dem Haus. Unten rechts stand ein Fenster offen.

»Da guckt jemand fern«, sagte ich. »Das geht uns nichts an. Lenk nicht ab. Was machen wir hier?«

»Lass uns doch erst mal schauen, wer da wohnt.«

Sie versuchte, an mir vorbeizukommen, aber ich hielt sie fest.

»Du tust mir weh!«

Das bezweifelte ich stark, aber das war der Spruch, mit dem Frauen ganz schnell jede Diskussion im Keim erstickten. Sofort ließ ich los.

»Erklär mir, was du mit dem Film gemeint hast.«

»Ach …« Sie wand sich.

»Also?«

»Da hinten in Tente wurde in den Siebzigern mal ein Film gedreht. Eigentlich sogar zwei Filme. Eine Familiengeschichte. Vielleicht kennst du das ja noch. Die Geschichten um einen kleinen englischen Jungen, dessen Vater Schriftsteller ist und … ach, ich weiß nicht, wie die Geschichten genau gehen. Ich hab’s vor einiger Zeit mal im Fernsehen gesehen. Das war natürlich der Oberkitsch, aber so ein schönes, ideales Familienleben … das hat schon was.«

Geschichten um einen englischen Jungen. Ein Schriftsteller. Familienleben mit Mama, Papa, Mutter, Opa, Tante. In mir dämmerte etwas.

»›Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung‹«, sagte ich.

Sie nickte. »So hieß der eine Film. Und der zweite hieß ›Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft‹. Und der ist hier gedreht worden.«

»Was? Aber er spielt doch in England.«

»Trotzdem. Es war eine deutsche Produktion. Drehort Bergisches Land. Tente und Solingen.«

Ich versuchte, mir die Bilder zurückzuholen. Was ich sah, war ein braunhaariger Dreikäsehoch, der morgens durch ein großes Haus fegt und nach und nach die ganze Familie aufweckt. Morgens um sieben. Keine Ahnung, ob die Welt da wirklich noch in Ordnung war. Ich schlief um diese Zeit gewöhnlich. Wie das Mondlicht. Aber nicht auf den Hügeln, sondern im Bett.

Das Geballer aus dem Haus drang wieder in mein Bewusstsein.

»Gut, das haben wir geklärt. Und wir sollen eine Aufgabe lösen, die mit dem Film zu tun hat? Warum hast du mir das nicht gesagt? Gib mir doch mal die Mappe.«

Ich wollte danach greifen, aber sie zog sie weg.

»Ich weiß das alles auswendig.«

»Aber deswegen kannst du doch …«

Ich unterbrach mich. Ein weiteres Geräusch platzte in die Landschaft. Diesmal war es unverkennbar eine Polizeisirene. Sie kam von der Hauptstraße her. Und kaum hatte ich das Geheule identifiziert, bewegte sich ein Polizeiwagen mit Blaulicht auf uns zu.

Sekunden später war der Wagen da, und wir mussten zur Seite springen, damit er vorbeikam. Das Martinshorn schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Wonne hielt sich die Hände über die Ohren. Ich nutzte die Gelegenheit und nahm ihr die Mappe ab.

Der Streifenwagen bremste vor dem Haus. Die Haustür öffnete sich im selben Moment wie die Autotüren. Im Türrahmen stand ein überrascht wirkender junger Mann in blauer Jogginghose und mit nacktem Oberkörper. Dem Auto entquollen die Uniformierten, die wir bereits in Altenberg kennengelernt hatten, und der Glatzkopf.

Kotten kam auf uns zu, während sich seine Kollegen um den jungen Mann scharten.

»Na, das ist ja mal ein Zufall«, sagte er. Im Hintergrund verfolgte ich, wie einer der beiden Beamten etwas zu dem Mann in der Jogginghose sagte. In der Hand des anderen blitzten Handschellen.

»Hallo, Herr Kotten«, sagte ich. »Ja, Zufälle gibt’s.«

Der Kripomann betrachtete uns prüfend. Ein Stück weiter wurde der junge Mann zum Auto gebracht. Schließlich saß er im Wagen, neben ihm der eine Uniformierte. Scheffler.

»Wir können«, rief der andere herüber.

»Immer noch auf Rallye?«, fragte Kotten, der es offenbar nicht eilig hatte.

Ich übernahm das Reden. »Ja, die nächste Aufgabe hat uns hierhergeführt. Ist der Herr da der Mörder der Frau, die wir gefunden haben?«

»Geben Sie mir doch mal Ihren Rallyeplan.«

Wonne schien erst jetzt zu bemerken, dass sie ihn nicht mehr in der Hand hatte. Ich händigte ihn brav aus.

»Wir müssen eine Frage wegen eines Films beantworten«, erklärte ich beflissen. »Wussten Sie, dass hier drüben ein seinerzeit ganz berühmter Film …«

Kotten blätterte und runzelte die Stirn. »Was soll der Quatsch, Rott?«

»Immer noch Herr Rott bitte, ja!«

»Sie sind ja bei den Polizeibehörden in Wuppertal, Solingen, Remscheid, im Rheinisch-Bergischen und im Oberbergischen Kreis ziemlich bekannt…«

Es klang, als hätte er Erkundigungen eingeholt. Von mir aus. Er konnte mir nichts.

»… und die Kollegen sagen, dass Sie sich gerne mal in Dinge einmischen, die Sie nichts angehen.«

»Aber nicht heute. Ich habe frei. Ich bin Gast auf dem Fest meiner Tante. Fahren Sie hin und fragen Sie sie. Ich kann Ihnen auch die Telefonnummer geben.«

»Nicht nötig. Es reicht, wenn Sie mir zeigen, wo hier die Aufgabe steht, die Sie hergeführt hat.«

Er gab mir die Mappe wie ein Lehrer, der seinem schlechten Schüler eine verhauene Arbeit um die Ohren schlagen will.

Ich blätterte. Über Wermelskirchen oder Tente fand ich nichts. Natürlich nicht.

»Das tut mir jetzt leid für Sie, Herr Rott.« Er betonte das Herr ganz deutlich. »Und für Sie auch, Frau Freier.«

»Wir waren halt neugierig«, sagte sie.

Wir? Ich hörte wohl nicht richtig. Ich war überhaupt nicht neugierig. Jedenfalls nicht im Hinblick auf die tote Frau. Andere Dinge hätte ich allerdings schon ganz gerne erfahren.

»Woher haben Sie die Adresse des Mordopfers? Und die Information, dass Frau Hackenberg hier mit ihrem Sohn zusammenlebte?«

»Hören Sie, Herr Kotten«, machte ich einen neuen Vorstoß. »Das ist ein Missverständnis. Wir haben mit der Sache nichts zu tun. Wir haben mit Herrn Hackenberg auch nicht geredet. Können wir jetzt gehen?«

»Sie haben sich in Ermittlungen eingemischt.«

»Nein, das kann man so nicht…«

Er unterbrach mich: »Das würde ich schon so sehen, Herr Rott.«

»Also gut. Es kommt nicht wieder vor.«

»Wunderbar.« Kotten lächelte kühl. »Wir sehen uns in einer halben Stunde.«

»Was?«

»Polizeibehörde Gladbach. Wir brauchen sowieso Frau Freiers Fingerabdrücke. Schließlich hat sie die Tasche des Opfers angefasst. Ihre, Herr Rott, haben wir. Sie waren ja schon öfter unser Gast.«

Kotten ging zum Streifenwagen und öffnete die Tür. Der Beamte am Steuer ließ den Motor an.

»Und unterstehen Sie sich, nicht zu erscheinen«, rief Kotten. »Sie kriegen den Ärger Ihres Lebens.«