5. Kapitel

Sofort war ich auf den Beinen und rannte los.

Wonne stand über den Baumstamm gebeugt und wirkte, als müsse sie sich jeden Moment übergeben. Sie hielt die Haltung bei, als sie sich Schritt für Schritt rückwärts entfernte.

»Remi«, keuchte sie heiser, als hätte ihr der Schrei die Stimme zerstört. »Schau dir das an.«

Ein weiterer Schritt rückwärts, und sie strauchelte auf dem unebenen Waldboden. Ich fing sie auf. Ihr Körper wirkte hart und verkrampft, und ich spürte nichts mehr von der erotischen Energie, die vorhin noch zwischen uns geflossen war. Ich ließ sie sacht auf den Boden gleiten und nahm sie fest in den Arm.

»Was ist los? Ist dir schlecht?«

Sie streckte den Arm aus. »… da drüben.«

Ich versuchte, von meiner Position aus etwas zu erkennen, denn ich wollte nicht weg von ihr. Ich konnte sie nicht schutzlos zurücklassen.

»Schau nach.« Sie räusperte sich, hatte sich wieder gefangen und stützte sich ab, um aufzustehen. »Nun mach schon. Hinter dem Baumstamm.«

Ich ging auf den quer liegenden Baum zu, der glatt und nackt wirkte. Die Holzfäller hatten die Rinde abgehobelt. Wahrscheinlich sollte der Stamm eine Art natürliche Sitzgelegenheit sein.

Auf der Rückseite, dicht an das Holz gedrängt, lag etwas. Ich erkannte zunächst nur braunen Stoff. Ein Mantel. Auf der rechten Seite ragten daraus Beine hervor, die in festen Schuhen steckten. Links erkannte ich im Unterholz graubraunes Haar, daneben war ein heller Hautfleck zu sehen. Der Rücken war von dem Mantel bedeckt, der in der Mitte viel dunkler war als rundherum.

»Sie ist tot, oder?«, sagte Wonne, die näher gekommen war.

Ich war sicher, aber irgendwas in mir wollte jetzt den Experten spielen. So stieg ich auf die andere Seite von Baumstamm und Leiche und hockte mich hin, um die Tote genauer zu betrachten.

»Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte ich und suchte nach meinem Handy.

Ich hatte es bei Juttas Anruf spontan ausgeschaltet. Jetzt dauerte es ewig, bis es hochfuhr.

»Da hinten liegt noch was«, rief Wonne. Sie schien sich schnell von ihrem Schreck erholt zu haben.

»Nicht«, rief ich. Doch es war schon zu spät.

Immer noch barfuß, kniete sie ein Stück weiter auf dem Baumstamm und angelte etwas aus dem Dickicht. Eine Handtasche.

»Lass das liegen. Du darfst nichts anfassen. Geh zurück an den Bach zu deinen Schuhen.«

Endlich war mein Handy betriebsbereit. Ich wählte sofort 110 und erklärte dem Mann auf der anderen Seite, was los war: Eine Tote lag auf dem Altenberger Waldspielplatz.

Als ich aufsah, hatte Wonne immer noch die Tasche in der Hand.

»Leg sie zurück. Die Polizei kommt gleich.«

Sie nickte, ließ die Tasche hinter den Baumstamm rutschen und kam zu mir.

»Hör mir bitte mal zu«, sagte ich, und es klang strenger, als ich es wollte, doch Wonne schien es nicht zu stören.

»Ja?« Jetzt war ihr Blick wieder bewundernd. Ein bisschen wenigstens.

»Wenn dich die Beamten fragen, wie das alles hier abgelaufen ist«, sagte ich, »dann erklärst du, dass du die Tasche zuerst gesehen hast.«

»Warum?«

»Weil sie dann eine Erklärung dafür haben, warum deine Fingerabdrücke drauf sind. Nachdem wir die Tote gefunden haben, hätten wir nichts anfassen dürfen. Jeder Schritt, den wir hier machen, ist einer zu viel.«

»Sagt der, der noch mal neben die Leiche getreten ist und sich alles genau angesehen hat!«

»Ich musste sichergehen, dass sie wirklich tot ist.«

»Und das konnte man von oben aus nicht sehen?«

»Wir warten jetzt auf die Polizei, und das möglichst weit weg. Am besten vorne beim Kiosk.«

Zunächst bewegten wir uns noch in die andere Richtung, denn Wonne wollte ihre Schuhe holen.

»Wer sie wohl auf dem Gewissen hat?«, fragte sie nach einer kleinen Schweigepause, in der wir uns wieder an den Bach gesetzt und etwas erholt hatten.

Es war in Ordnung. Warteten wir eben hier auf die Polizei.

»Noch ist gar nicht gesagt, dass sie ermordet wurde. Und wenn: Für Mord gibt es eine Menge Motive. Um das rauszubekommen, müsste man erst mal feststellen, wer sie ist.«

»Bist du darauf nicht neugierig? Man könnte in die Handtasche gucken und ihre Papiere überprüfen.«

»Ich habe doch gesagt, das ist Aufgabe der Polizei.« Wieder klang ich autoritärer, als ich wollte.

»Du hast also nicht vor, den Fall zu lösen? Das ist doch dein Beruf.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich? Ich arbeite gerade nicht in meiner Detektei. Und außerdem müsste ich einen Auftrag bekommen. Und den erteilt mir die Polizei sicher nicht. Die haben ja auch viel bessere Methoden.«

»Klärst du denn keine Mordfälle auf?«

»Schon. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Unschuldigen zu entlasten. Dann kann es sein, dass mich der Anwalt des Verdächtigen beauftragt. Aber das kommt relativ selten vor.«

Sie wirkte enttäuscht. Wahrscheinlich hatte sie sich das Detektivleben anders vorgestellt.

In mir geriet einiges durcheinander. Einerseits ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich die Chance bei Wonne verpasst hatte. Dann störte mich, dass diese Tote dazwischengekommen war. Und schließlich, dass ich an einem Ort, an dem eine Frau umgekommen war, solchen pietätlosen Gedanken nachhing.

»Was hast du auf einmal?«, fragte Wonne. Sie wirkte nicht sauer, eher besorgt oder mitfühlend.

»Es tut mir leid, dass der Tag sich so entwickelt hat. Es wäre netter gewesen, wir hätten die Blume eingesammelt und unsere kleine Reise fortgesetzt.«

»Das können wir doch immer noch.«

»Nachdem wir mit der Polizei fertig sind. Beziehungsweise sie mit uns. Das kann eine Weile dauern. Eine sehr lange Weile.«

Wie auf Kommando ertönte von irgendwo her ein Martinshorn.

»Ich wundere mich, dass dir das alles gar nicht nahegeht«, sagte ich. »Da liegt immerhin ein toter Mensch. Findest du das nicht schrecklich?«

Wonne beugte sich ein Stück vor, und plötzlich machte sie etwas, das mir wie ein Traum vorkam. Sie strich mir vorsichtig über die Wange.

»Wir können ihr nicht mehr helfen, oder? Und es ist ja nicht so, als würden wir hier eine wilde Party feiern.« Ihr Gesicht kam näher, und dann spürte ich kurz ihre weichen Lippen auf meiner Wange. »Die Aufgabe haben wir auch erfüllt.« Sie öffnete ihre Hand und zeigte mir etwas, was sie wohl die ganze Zeit festgehalten hatte. Ein winziges Stängelchen, gekrönt von einem Kranz aus fünf weißen Blütenblättern. »Davon wachsen da hinten ganz viele.«

Wir hörten Schritte. Ein uniformierter Polizist betrat den Spielplatz.

»Hallo?«, rief er. »Haben Sie angerufen?«

Ich ging zu ihm und zeigte ihm die Tote. Kaum war sein Blick auf die Frau gefallen, gab er über sein Funkgerät durch: »Leichenfund. Zwei Zeugen.« Und zu uns: »Kommen Sie. Sie können hier nicht bleiben.«

Gemeinsam kehrten wir zur Straße zurück. Dort stand ein blauweißer Streifenwagen, am Steuer saß ein zweiter Beamter.

Die beiden Polizisten sprachen kurz miteinander, dann nahm der Kollege, der in den Wald gekommen war, unsere Personalien auf. Ich erfuhr, dass Wonne mit Nachnamen Freier hieß.

»Rott?«, wandte er sich an mich. »Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Er ist Privatdetektiv«, erklärte Wonne.

»Stimmt das?« Der Polizist machte eine Notiz. »Haben Sie etwas mit der Toten zu tun?«

»Es ist reiner Zufall, dass ich bei dem Leichenfund dabei war«, stellte ich klar.

»Und was haben Sie hier genau gemacht?«

»Wir sind auf einer Rallye«, schaltete sich Wonne wieder ein.

Der Beamte blickte von ihr zu mir und wieder zurück.

Ich bemühte mich, knapp zusammenzufassen, worum es ging. Der Polizist kratzte sich dabei mit dem Stift immer wieder an der Stirn, als würde ihm sein Unterbewusstsein signalisieren, dass er mir einen Vogel zeigen sollte, was er aber aus Gründen der Höflichkeit nicht durfte.

»Interessant«, kommentierte er abschließend meinen Bericht. »Soll das heißen, es sind noch mehr Leute durch den Tatort getrampelt?«

Wonne schüttelte den Kopf. »Vor uns bestimmt keiner. Wir sind das erste Team. Aber es kommen noch welche.«

»Was war denn die Aufgabe hier?«, fragte der Beamte.

»Eine weiße Blume finden und mitnehmen«, sagte ich. »Sie wächst hinter dem Baumstamm. Wo die Leiche liegt.«

Ein ziviles Fahrzeug traf ein und bog auf den Parkplatz gegenüber ab. Die Sache kam in Gang. Bald würden hier die Spurenermittler das Sagen haben.

»Und Sie haben keinen Verdächtigen gesehen? Oder sonst jemanden?«

»Wir waren allein«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Und als wir kamen, war auch niemand dort. Wir haben uns ans Wasser gesetzt. Dann ist meine Freundin … Wonne … Yvonne Freier weggegangen und hat die Blume gesucht. Dabei hat sie erst die Tasche, dann die Leiche gefunden.«

»Haben Sie etwas berührt?«

»Die Tasche. Aber nur kurz«, sagte Wonne.

Der Beamte schrieb fleißig. »Was ist danach passiert?«

»Frau Freier ist erschrocken und hat mich gerufen. Ich bin zu dem Baumstamm gegangen, habe die Leiche gesehen. Das heißt, ich habe noch genauer nachgeschaut, ob sie tot ist. Aber ich habe nichts angefasst. Dann habe ich sofort telefoniert. Wir sind zurück an den Bach. Frau Freier war barfuß. Sie hatte ihre Schuhe dort gelassen. Kurz darauf kamen Sie schon.«

»Man merkt, dass Sie das Beobachten gewöhnt sind, Herr Rott.«

Der Beamte kritzelte immer noch und sprach dabei weiter. Das konnte auch nicht jeder. »Danke für die präzisen Angaben.«

Von der gegenüberliegenden Seite der Straße näherte sich ein Glatzkopf mit hellen Augen. Er erwischte eine Lücke im Verkehr und rannte herüber.

»Ah, Herr Hauptkommissar«, rief der Beamte. »Das hier sind die Zeugen. Sie haben die Leiche entdeckt. Herr Rott und Frau Freier. Herr Rott ist Detektiv.«

»Kotten von der Polizei Bergisch Gladbach«, stellte sich der Glatzkopf vor. »Soso, ein Detektiv. Sind Sie beruflich hier?«

»Er sagt Nein«, antwortete der Uniformierte. »Ich habe alles schon geklärt.«

Der Kripomann beachtete ihn nicht, sondern blickte uns an, als wolle er durch irgendeine Magie unsere Gedanken lesen.

»Warten Sie bitte hier«, sagte er. »Scheffler, Sie kommen mit.«

Die beiden verschwanden im Wald.

»Was nun?«, fragte Wonne.

»Keine Ahnung. Es kann eine Minute dauern oder eine Stunde. Das weiß man nie.«

Wir beobachteten, wie weitere Fahrzeuge heranfuhren. Ein weißer Lieferwagen. Das musste die Spusi sein. Brav blieben wir stehen, wo wir waren. Schweigend.

Endlich kam der Uniformierte, der Scheffler hieß, zurück.

»Sie können gehen«, sagte er. »Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung. Ihre Handynummer und Adresse habe ich ja.«

Ich wollte einwerfen, dass ich im Moment kaum an meinem Wohnsitz anzutreffen war, doch ich ließ es. Ich hatte keine Lust, alles komplizierter zu machen. Und ich wollte weg.

Wonne drängte sich an mich.

Sie wollte auch weg.

Wir wollten weg.

Als wir endlich wieder im Wagen saßen, ließ Wonne gar nicht erst den Motor an, sondern nahm meinen Kopf in ihre Hände und begann mich zu küssen, als hätten wir niemals etwas anderes getan.

Ich schloss die Augen, genoss es und bekam nur vage mit, dass ein Auto neben uns hielt.

»Sieh an«, sagte eine Stimme. »Schön ist die Jugendzeit.« Sofort waren wir auseinander. Ich wandte den Kopf und sah Dr. Heimlich und Frau Weißenburg, die uns fröhlich zuwinkten.

»Na, die weiße Blume schon gefunden? Und das Herz? Das haben Sie wohl eher verloren, was? Hahaha.«