17. Kapitel

»Bremen« stand auf dem kleinen grünen Schild. Der Ort war so klein, dass es noch nicht mal für ein gelbes Gemeindeschild gereicht hatte.

Daraus hätte man schön eine Frage für Juttas Rallye machen können. Fahre nach Bremen und zähle die Häuser …

Ob tatsächlich jemand nach Norddeutschland aufgebrochen wäre?

Allzu viele Häuser waren es nicht. Ich kam auch nicht ganz bis zum Ende; auf der Karte hatte ich gesehen, dass ich mittendrin von der Landstraße abbiegen musste.

Durch Wiesen und Weiden ging es hinab ins Tal und dann durch dichten Wald. Maria in der Aue war ausgeschildert. Die Straße wurde immer schmaler, und dann sah ich etwas oberhalb von mir über einer riesigen grünen Wiese ein breit hingestrecktes Haus am Hang liegen. Davor drängten sich runde weiße Sonnenschirme.

Ich stellte den Golf ab und machte mich an den Aufstieg. Eine asphaltierte, schmale Straße für Fußgänger schwang sich hinauf von den Parkplätzen zum Eingang des Hauses. Ich hatte erst geglaubt, es handele sich um ein Ausflugslokal, aber jetzt wurde mir klar, dass Maria in der Aue auch ein Hotel sein musste. Der Weg führte zur Stirnseite des länglichen Gebäudes. Über dem Halbrund eines Tores schwebte ein runder Turm aus Fachwerk mit einem spitzen Dachkegel. Dieses eine Element wirkte eigentümlich mittelalterlich, während der Rest des Gebäudes eher wie ein kleines Schlösschen aussah, die Front dem Tal zugewandt.

Auf der Terrasse waren fast alle Tische besetzt. Es war Viertel nach zwölf, und man aß zu Mittag. Die Sonnenschirme beschatteten grüne Möbel; auf den Stühlen sorgten grün-weiß gestreifte Kissen für Bequemlichkeit.

Was mich sofort gefangen nahm, war der Blick über die herrliche Wiese, die sich wie eine kleine Alm unterhalb der Terrasse absenkte und weit unten von der schmalen Straße begrenzt wurde, über die ich heraufgekommen war. Dahinter erhob sich der Wald, in dem sich dunkles Tannengrün und helleres Laub abwechselten. Die fernen Hügel verschmolzen mit dem blauen Himmel.

Kein Haus, keine Besiedlung war zu sehen. Man war mit sich und der Landschaft allein.

»Wünschen Sie einen Tisch? Wie viele Personen?«

Eine der grau gekleideten jungen Kellnerinnen hatte mich angesprochen.

»Ich bin mit Frau Siebert verabredet«, sagte ich. »Kennen Sie sie?«

Ich folgte der Bedienung und wurde an einen Tisch gebracht, der etwas abseits stand. Dort saß eine ältere Dame mit sehr schwarz gefärbtem Haar, eine randlose Brille auf der Nase. Sie stocherte in einem Salat und warf hin und wieder einen Blick in eine Zeitung, die neben ihrem Teller lag.

»Der Herr sagt, er sei mit Ihnen verabredet, Frau Siebert«, sagte das Mädchen und ging. Erst jetzt hob die Frau den Blick.

»Herr Rott, nehme ich an. Ich dachte mir, dass Sie das sind. Ich habe Sie schon die ganze Zeit da hinten herumstehen sehen. Setzen Sie sich doch.«

Ich begrüßte sie und nahm den Stuhl gegenüber.

»Ihnen gefällt die Aussicht offenbar«, sagte sie. »Dann sitzen Sie hier genau richtig.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass sie halb zum Tal saß und gegen die Hauswand blickte.

»Ich komme so lange hierher, dass mich der Blick nicht mehr reizen kann. Ich achte nicht darauf, wie ich mich hinsetze.«

Ich fragte mich, warum sie dann überhaupt herkam. Vielleicht, um einfach an der frischen Luft unter Menschen zu sein. Ich sah mich um. Fast die gesamten übrigen Gäste hatten sich, wenn es nur ging, vor das Panorama gesetzt wie vor eine Großbildleinwand.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte die Kellnerin, die zurückgekommen war. Ich entschied mich für einen Kaffee.

»Sie haben es reichlich spannend gemacht, Herr Rott.« Frau Siebert betrachtete mich abschätzig. »Sie wollen mir also wirklich erklären, dass Reinhold diese schreckliche Tat nicht begangen hat?«

Sie legte die Zeitung weg, und ich bemerkte alten, schweren Schmuck an ihren Handgelenken. Er hatte nicht die Farbe von Gold, sondern wirkte wie aus Messing.

»Ich habe den Auftrag übernommen, Hinweise zu sammeln, die Reinhold Hackenberg entlasten. Egal, wie Reinhold Hackenberg zu seiner Mutter stand - es wäre nicht gerecht, sollte er unschuldig eingesperrt worden sein.«

»Das würde ihm nicht das Geringste schaden«, entgegnete Frau Siebert kühl. »Was soll aus ihm denn noch werden? Ich wäre froh, wenn er für immer ins Gefängnis ginge. Den Gedanken, dass er jetzt vielleicht seine Mutter beerbt, finde ich unerträglich. Er wird doch das ganze mühsam ersparte Geld innerhalb von einem Monat durchbringen. Es ist wirklich ein Jammer, welches Pech Klara mit ihm gehabt hat.«

»Erzählen Sie mir doch bitte mehr von ihr. Von ihr und Gabriele.«

»Sehen Sie, das genau ist es, was mir nicht gefällt. Sie suchen nach Hinweisen und wühlen dabei Klaras Privatleben auf. Dabei hat die Sache mit Gabriele nichts mit dem Mord zu tun, glauben Sie mir.«

Sie kniff die Augen zusammen und nahm die Brille ab. Jetzt war ihr Blick noch strenger. Ich bemerkte, dass sie große, starre Pupillen hatte, und mir fiel ein, dass so etwas manchmal nach irgendeiner Augenoperation vorkam.

»Ich frage mich auch, woher Sie wissen, dass Klara auf der Suche nach Gabriele war. Reinhold hat Ihnen das nicht erzählt. Der wusste davon sicher nichts.«

»Sie sehen, ich bin in der Lage, auch den verborgensten Informationen auf die Spur zu kommen«, versuchte ich Punkte zu machen und meine Kompetenz zu unterstreichen.

»Davon bin ich überzeugt. Das bedeutet aber nicht unbedingt etwas Gutes.«

»Wer war denn nun Gabriele? Auch wenn ihr Verschwinden und Klara Hackenbergs Interesse an ihr nichts mit dem Mord zu tun haben - bitte erzählen Sie es mir. Ich muss mir ein Bild machen, wer Ihre Freundin war.«

Mein Kaffee kam. Als die Kellnerin gegangen war, begann Frau Siebert zu berichten.

»Gabriele war eine entfernte Großnichte von Klara. Das genaue Verwandtschaftsverhältnis kenne ich nicht. Sie hatte keine Eltern, beide waren schon früh umgekommen. Jedenfalls wohnte sie als Mieterin in dem Haus, das Klara und ihr Sohn heute bewohnen. Ich meine, das sie bewohnte. Bis sie sich dann irgendwann in diesen Musiker verliebte und mit ihm nach Österreich ging.«

»1975«, sagte ich.

»Sie sind gut informiert. Das genaue Jahr hätte ich nicht gewusst.«

»Und der Musiker hieß Sandro Marino.«

»Möglich. Klara hat mir nicht gesagt, dass es ein Italiener war. Aber das passt ja.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, die können den jungen Frauen ganz schön den Kopf verdrehen.« Sie spießte ein paar Salatblätter auf.

»Seltsam, dass sie mit einem Italiener nach Österreich ging«, sagte ich. »Wieso nicht nach Italien?«

»Soweit ich weiß, machte der Mann klassische Musik. In Österreich gibt es die großen Opernhäuser. Waren Sie schon mal bei den Salzburger Festspielen?«

»Nein«, sagte ich.

»Dann haben Sie etwas verpasst.«

Der Ansicht war ich nicht. Mir war schon der Anblick in den Illustrierten ein Graus: all diese Promis in Abendroben.

»Sie wissen also nichts über diesen Mann?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sollten sich an dieser Geschichte nicht festbeißen.«

»Wo hat Gabriele Marino kennengelernt? Hat er irgendwo in der Gegend ein Konzert gegeben? Hat sich Frau Hackenberg mit ihm getroffen? Sie stand doch mit ihm in Kontakt…«

»Wenn ich mich richtig erinnere, hat er bei einer Aufführung im Altenberger Dom mitgewirkt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Es ging Klara nicht darum, diesen Mann zu finden, sondern Gabriele. Nachdem sie nach Österreich gezogen war, hörte sie kaum noch etwas von ihr.«

»Das heißt, der Kontakt brach ab?«

»Ja, leider. Klara war deswegen auch gekränkt, aber sie hat es dann auf sich beruhen lassen. Gabriele schien ja glücklich mit ihm gewesen zu sein. Und darüber hat sie eben ihre alte Tante vergessen. So etwas gibt es häufig.«

»Was genau hat Gabriele gemacht?«

»Herr Rott - dieser Mord ist in der Gegenwart geschehen. Was nützt denn das Herumstochern in der Vergangenheit?«

»Können Sie es mir nicht trotzdem sagen?«

»Gabriele hatte keinen ordentlichen Beruf. Sie wollte wohl Goldschmiedin werden und hat auch Schmuck hergestellt. Es waren aber mehr Basteleien. Ich glaube, Klara hatte einen Ohrring von ihr. Billiges Zeug, das man nicht tragen kann. Kinderkram.«

»Wie alt war sie, als sie wegging?«

»Das hat mir Klara nicht erzählt. Aber ich denke, so Anfang zwanzig. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Auch mit mir sprach Klara kaum darüber.«

»Und Gabrieles Nachnamen kennen Sie auch nicht?«

»Leider nein. Vielleicht heißt sie ja auch Hackenberg.«

»Gut. Sprechen wir über Ihre Freundin. Wie haben Sie sie kennengelernt?«

»Wir waren Kolleginnen. Sie arbeitete bis zu Ihrer Rente in einer Bensberger Druckerei.«

»Wie heißt das Unternehmen?«

»Die Firma hieß Buchheim und Co., aber sie ist schon vor zehn Jahren bankrott gegangen.«

»Gibt es andere Kontakte? Andere Freunde? Freundinnen?«

»Nicht dass ich wüsste. Klara war sehr in sich gekehrt. Sehr gläubig. Einsam. Kein Wunder, bei so einem Sohn.«

»Gibt es zu dem Sohn auch einen Vater?«

»Da bin ich sicher.« Sie blickte mich ironisch an. »Aber wer er ist - das, Herr Rott, weiß ich nicht. Darüber konnten sie mit Klara nicht sprechen. Und es hat auch sonst nie einen Mann in ihrem Leben gegeben. Nicht so lange ich sie kannte. Und das waren immerhin fünfunddreißig Jahre. Sie hatte ihr ganz eigenes Leben. Sie erfreute sich an der Natur. An kleinen Reisen. Sie hatte die Angewohnheit, jeden Morgen im Altenberger Dom zu beten. Und sie hatte die Angewohnheit, sich dem Dom durch die Natur zu nähern.«

»Durch die Natur? Was meinen Sie damit?«

»Sie hat es mir einmal erklärt. Normalerweise parkt man am Dom oder auf dem Parkplatz in der Nähe des Hotel Wißkirchen und folgt dem Weg unter der Unterführung durch. Doch das gefiel ihr nicht. Für sie begann der Gottesdienst mit einem Gang an der Dhünn entlang zum alten Eingangstor des Klosters. Als wenn sie eine kleine Pilgerschaft machen würde, verstehen Sie? Wenn man sich der Klosterpforte nähert, dann erwartet einen der Dom - wie eine religiöse Verheißung. So hat sie es immer ausgedrückt.«

Mir wurde einiges klar. Der Tatort an dem kleinen Spielplatz -er hatte vielleicht doch nichts mit einem obskuren Treffen zu tun, sondern Klara Hackenberg war ganz nach ihrer Gewohnheit auf dem Weg zum Dom gewesen. Es war ein Ritual, das sie jeden Morgen absolviert hatte.

»Glauben Sie«, fragte ich, »dass Reinhold Hackenberg diese Angewohnheit kannte?«

Renate Siebert verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Da wären wir wieder am Anfang, was, Herr Rott? Natürlich wusste er davon. Er, ich - aber sicher nicht viele andere Leute. Womöglich sogar niemand sonst.«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu nicken.

»Und ehe Sie fragen: Ich kann es nicht gewesen sein. Erstens fehlt mir das Motiv. Zweitens habe ich ein Alibi. Ich war bis gestern Abend bei meiner Schwester in Hamm zu Besuch.«

»Wann haben Sie Frau Hackenberg zum letzten Mal gesehen?«

Sie überlegte kurz. »Vor zwei Wochen etwa.«

»Hat Sie Ihnen gegenüber den Namen Matthias Büchel erwähnt? Er selbst nennt sich Matze.«

Sie nickte. »Das ist einer von Reinholds Freunden. Sie hat ihn nicht erwähnt, ich kenne ihn von früher.«

»Können Sie sich vorstellen, dass einer dieser Freunde Frau Hackenberg getötet hat?«

»Und warum?«

»Weil sie irgendetwas herausfand. Etwas, das auch mit ihrem Sohn zu tun hatte. Und vor dem sie ihn bewahren wollte, damit er nicht wieder auf die schiefe Bahn geriet.«

»Sie hat davon nichts gesagt.«

»Keine Andeutung? Nichts über eine Bedrohung? Hatte sie Angst vor irgendetwas?«

»Nein. Nichts. Absolut gar nichts. Jedenfalls weiß ich nichts davon.«

Ich nippte nachdenklich an meinem Kaffee.

»Reinhold war es, Herr Rott. Es passt einfach alles zusammen.«

Ich kramte in meinem Gedächtnis. Etwas hatte ich noch auf Lager. Und ich war gespannt, was Frau Siebert dazu sagen würde.

»Wussten Sie, dass Klara Hackenberg Kontakt zu einem Privatdetektiv aufgenommen hatte?«

Sie schien ehrlich erstaunt. Der Ausdruck der Schadenfreude über mich war verschwunden.

»Nein. Aber das kann doch nur etwas mit…«

»Gabriele zu tun haben«, vollendete ich den Satz. »Ihre Freundin wollte sie suchen lassen. Und es zeigt doch, dass für sie dieses Thema sehr aktuell war. Oder gab es einen anderen Grund, warum sie einen Ermittler konsultiert haben könnte?«

Frau Siebert schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Und trotzdem muss das nicht Zusammenhängen. Vielleicht hat sie ja Reinhold überwachen lassen?«

»Das werde ich herausfinden.«

*

»Detektei Meinertzhagen, was kann ich für Sie tun?«

»Rott noch mal. Könnte ich jetzt den Chef sprechen?«

»Tut mir leid, jetzt ist er in der Mittagspause. Soll er Sie zurückrufen?«

»Das hatten wir schon mal. Sagen Sie ihm, er soll seine Pause unterbrechen.«

»Entschuldigen Sie, aber …«

»Sagen Sie es ihm bitte.«

Ich war die kleine Straße bis hinauf in das winzige Bremen gefahren und hatte rechts angehalten. Die Aussicht hier oben war auch schön, allerdings ganz anders als von Maria in der Aue aus. Ich blickte auf einen Stacheldraht, und direkt dahinter stand eine Kuh, die mich stoisch kauend anblickte.

»Ich weiß, dass er da ist. Sie können es ruhig riskieren.«

Ich hatte mit Meinertzhagen zwar bisher wenig zu tun gehabt, aber eine Sache wusste ich genau: Er legte Wert auf feste Essenszeiten. Und er aß immer das Gleiche: irgend so eine Haferschleimsuppe, die er mit zur Arbeit nahm und in der Mikrowelle warm machte. Es hatte irgendwas mit seiner Gesundheit zu tun.

»Rott«, brüllte er. »Kannst du einen nicht mal beim Essen in Ruhe lassen? Du weißt doch, mein Magen …«

»Tut mir leid, aber es ist wichtig.«

»Stört’s dich, wenn ich weiteresse, während wir reden?«

»Solange du nicht deinen fiesen Schleim durchs Telefon spuckst, ist mir alles egal.«

»Keine Sorge, den brauche ich selbst. Und? Warum störst du mich?«

»Sagt dir der Name Klara Hackenberg etwas?«

»Nein.«

»Hör mal, ich weiß, dass du Rücksicht auf deine Kunden nehmen musst und keine Namen rausrückst, aber …«

»Warum fragst du dann?«

»Die Dame ist tot. Du kannst es also ruhig sagen, wenn du sie kennst.«

»Tot? Das ist ja ein Ding.«

»Du kennst sie also?«

»Nö. Aber ich wundere mich, dass du in einem Mordfall ermittelst.«

»Meinertzhagen, sie hatte deine Visitenkarte in der Tasche. Hast du sie getroffen? Siebenundsiebzig Jahre alt, schlanke, hagere ältere Frau …«

»Und jetzt hat sie ein Messer im Rücken - jedenfalls hatte, bis die Gerichtmedizin es rausgenommen hat.«

»Du kennst sie. Ich wusste es.«

Er machte ein schlürfendes Geräusch. Wahrscheinlich hatte er sich eine weitere Ladung Haferschleim einverleibt.

»Nein …« Etwas raschelte. »Aber ich lese Zeitung. Das ist nicht ganz verkehrt in dem Job. Sag mal, da komme ich immer noch nicht drüber: Du klärst diesen Mord auf? Gibt’s im Bergischen Land keine Polizei?«

»Ich arbeite für eine Anwältin«, sagte ich.

»Lukrative Sache. So was suche ich auch. Bisschen Matula spielen. Nicht schlecht. Kannst du mir mal ihre Telefonnummer geben?«

»Sag du mir erst mal, ob du Frau Hackenberg getroffen hast.«

»Und wenn schon.« Wieder Schlürfen, unterbrochen von metallischem Geschähe. Seine Stimme wurde blubbernd. Ich hatte nur wenig Kaffee getrunken, aber jetzt kam mir mindestens ein Löffel voll davon wieder hoch - zusammen mit beißendem Magensaft. Es war so unangenehm, dass ich husten musste.

»Bist du erkältet?«

Ich fing mich wieder. »Nein, deine Fresserei ekelt mich. Lenk außerdem nicht ab.«

»Du solltest es auch mal mit gesünderer Ernährung probieren. Bist du sicher, dass du kein Refluxproblem hast?«

»Was für ein Ding?«

»›Gastroösophagealer Reflux‹. Du solltest mal deinen Arzt danach fragen. Dabei kommt immer Magensäure in die Speiseröhre, nur ein bisschen, und du hast bestenfalls etwas Sodbrennen. Ansonsten spürst du gar nichts. Deine Speiseröhre entwickelt aber nach und nach eine Reizung, und dann verändert sich das Gewebe. Am Ende steht ein kapitaler Speiseröhrenkrebs. Und aus die Maus, Nikolaus.«

»Kannst du dich bitte aufs Wesentliche konzentrieren?«

»Was ist daran unwesentlich? Ich will dir ja nur helfen. Pass auf, um einen guten Haferschleim herzustellen …«

»Meinertzhagen!«, brüllte ich so laut in den Hörer, dass die Kuh, die friedlich weitergegrast hatte, irritiert aufsah. »Kanntest du Frau Hackenberg?«

»Ja, verdammt noch mal. Sie war hier.«

»Und was wollte sie?«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sag mal, Rott, wenn ich dir das sage - ist da vielleicht was für mich drin? Ich meine, mir geht’s finanziell nicht so gut, und du hast doch jetzt den Riesenauftrag …«

»Immerhin kannst du dir eine Vorzimmerdame leisten«, sagte ich streng. »Da geht’s dir immer noch besser als mir.«

»Das ist nur eine Schülerpraktikantin. Die kostet gar nichts.«

»Ach, so nennt man das heutzutage.«

»Die ist zwei Wochen hier und findet das mordsaufregend. Das heißt, eigentlich würde sie lieber bei den Ermittlungen dabei sein. Aber das geht natürlich nicht.«

»Können wir zum Thema zurückkommen?«

»Wie viel?«

»Fünfzig.«

»Zweihundert.«

»Du spinnst.«

»Hundertfünfzig. Das ist mein letztes Wort.«

Wieder hörte ich Geschepper. Ich deutete es so, dass Meinertzhagen aufgegessen hatte. Er hielt die Hand über den Hörer, aber nicht dicht genug. Und so hörte ich, wie er sagte: »Nimm das bitte mit, Jasmin.« Die Praktikantin war also auch seine Kellnerin. Wer weiß, was sonst noch.

»Hör mal, was willst du eigentlich?«, schnaubte er, wieder klar zu verstehen.

»Gegenvorschlag. Ich zahle dir hundert.«

»Langsam nähern wir uns an.«

»Aber nur, wenn du dieser Info etwas Substanzielles hinzufügen kannst: Klara Hackenberg war auf der Suche nach einer Großnichte namens Gabriele, zu der sie irgendwann in den Achtzigern den Kontakt verloren hat. Das Mädchen war Anfang zwanzig, als es ins Ausland ging - genauer: nach Österreich. Nach Salzburg. Klara Hackenberg war eine alte Frau, die sich wehmütig an diese einzige Verwandte neben ihrem missratenen Sohn erinnerte, und sie hatte den Wunsch, Gabriele noch einmal in ihrem Leben zu sehen. Du solltest sie suchen.«

»Scheiße, Rott, was soll das?«

»Kannst du dem etwas hinzufügen oder nicht?«

Stille in der Leitung. Meinertzhagen hatte sein detektivisches Gehirn angeschmissen. Dann hörte ich wieder Gebrabbel durch den zugehaltenen Hörer. Etwas raschelte. Sein Gedächtnis reichte nicht. Jasmin hatte ihm wohl Notizen gereicht.

»Zwei Dinge weiß ich, die du nicht weißt. Jedenfalls hast du sie nicht gesagt.«

»Und die wären?«

»Erstens: Wie Gabriele mit Nachnamen hieß.«

Das stimmte. Verdammt…

»Und zweitens?«

»Wann Klara Hackenberg bei mir war. Das ist für deine Mordermittlung doch sicher wichtig.«

Zweimal Bingo. Zu meinen Ungunsten.

»Also gut - du hast gewonnen.«

»Scherf. Das war Gabrieles Nachname. Ich liefere dir noch was, nämlich ihr Geburtsdatum: 3. Februar 1953.«

Ich hatte was zu schreiben aus dem Handschuhfach geholt und notierte.

»Und wann war Klara Hackenberg bei dir?«

»Am Freitagmittag.«

Nicht mal vierundzwanzig Stunden vor ihrem Tod …

»Ich hätte gerne noch eine Zugabe. Könntest du dir vorstellen, wer sie umgebracht hat? Hat sie irgendwas gesagt? Fühlte sie sich bedroht?«

»Sie hat gar nicht viel gesagt. Sie hat mir die Informationen gegeben und ist dann wieder gegangen.«

»Sie hat dich nicht beauftragt? Warum nicht?«

»Sie wollte es sich überlegen. Ich habe ihr gesagt, was das kostet, und das hat sie wohl abgeschreckt.«

»Kann ich verstehen.«

»Na und? Das hat alles seinen Wert. Und du schiebst bitte den Hunni rüber. Und zwar in bar.«

»Auch noch schwarz? Das wird ja immer schöner.«

»Eben. Und die Schönheit ist es doch, die wir anstreben, oder?«

»Ich komme zu dir, wenn ich das Geld habe.«

Damit drückte ich den roten Knopf und steckte das Handy weg. Versonnen sah ich der Kuh beim Kauen zu.

Dann warf ich den Motor an.