23. Kapitel

»Was ist denn nun?«, fragte Wonne bereits zum dritten Mal. »Wir sollten zu diesem Georgi fahren.«

»Juttas Infos sind sicher auch wichtig. Wir könnten Zeugen finden, die Marino kannten …«

Auch das hatte ich schon dreimal gesagt, aber Jutta kam immer noch nicht. Schließlich war ich es leid und rief sie wieder an.

»Ich biege gerade in die Einfahrt«, rief sie, und im selben Moment näherte sich auf der anderen Seite des Hauses ein Motorengeräusch.

Ich ging nach vorne und ließ sie herein. »Nett habt ihr’s hier«, sagte sie, als sie auf die Terrasse trat. »Hallo, Wonne.«

Die beiden Frauen begrüßten sich mit Küsschen links und Küsschen rechts. Irgendwie hatte ich aber das Gefühl, dass das alles nur Show war. So nah sie sich mit ihren Wangen kamen, so deutlich war die Grenze. Nach der Begrüßung traten beide sofort einen Schritt zurück. Das Ganze erinnerte mich an zwei Magneten, bei denen man denselben Pol aneinanderzudrücken versucht, die sich aber immer wieder abstoßen.

»Was gibt’s denn so Dringendes?«, fragte ich.

Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich. Irgendwas stimmte nicht. Wir standen immer noch auf Mannis Rasen herum.

»Soll ich vielleicht noch eine Liege holen?«, fragte ich. »Im Schuppen müsste noch eine sein.«

»Oder willst du was trinken?«, bot Wonne an.

»Nein danke«, sagte Jutta, und ihre Stimme kam mir schneidend vor.

»Also, ich hole mir was«, erklärte Wonne und ging aufs Haus zu. Ich ließ mich auf einer der beiden Liegen nieder, legte mich aber nicht hin, sondern setzte mich nur. Jutta nahm auf der zweiten Platz.

»Was ist denn los? Bist du sauer?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur das Gefühl, dass du einen Riesenfehler machst.«

»Wie meinst du das?«

»Erklär mir erst noch mal genau den Stand der Dinge.«

»Also gut. Das Spannendste hast du noch gar nicht mitbekommen …«

Ich fasste alles möglichst knapp zusammen: unseren Verdacht, dass Gabriele Scherf nicht einfach nur verschwunden, sondern ermordet worden war. Den Überfall von gestern Abend, bei dem Matze und seine Leute es gezielt auf die Unterlagen über Gabriele abgesehen hatten. Die Brandstiftung in Wermelskirchen an dem Hackenberg-Haus.

Wonne kam mit zwei Gläsern Wasser zurück. Eins davon hielt sie mir hin, das andere behielt sie für sich. »Du wolltest ja nichts«, sagte sie zu Jutta und trank.

Ich blieb beim Thema. »Auch die Brandstiftung hatte nur den Sinn, eventuelle Beweismittel zu vernichten. So passt alles zusammen. Klara Hackenberg muss diesem Marino auf die Spur gekommen sein. Er hat Gabriele auf dem Gewissen. Deswegen musste sie sterben. Und Marino ist der Täter. Wir müssen ihn nur noch finden.«

»Klingt überzeugend«, sagte Jutta. »Und die Geschichte mit dem Überfall - das ist wirklich ein starkes Stück.« Zum ersten Mal seit sie hier war, zeigte sie Mitgefühl. Oder überhaupt ein bisschen Emotion. Aber eben nur ein bisschen. Es reichte noch nicht mal, um mich zu fragen, wie es mir ging. Ob ich okay war.

»Wir müssten Gabrieles Leiche finden«, ergänzte ich. »Damit hätten wir einen Beweis. Oder zumindest ein starkes Indiz.«

Jutta schüttelte den Kopf. »Marino hat sie angeblich 1975 versteckt. Die ist längst verwest. Was wollt ihr denn da noch finden?«

Ich sah Wonne an. Jutta hatte natürlich recht.

»Also müssen wir versuchen, Marino zu finden«, sagte ich. »Wir müssen Leute ausfindig machen, die ihn kannten. Irgendeiner wird schon wissen, wo er heute lebt. Und da der Mord an Klara Hackenberg in Altenberg passiert ist, ist er womöglich noch in der Gegend. Vielleicht hat ihn ja jemand gesehen und …«

»Stopp«, unterbrach Jutta meinen Redefluss. »Das kannst du dir alles sparen. Wie gesagt.«

Ich trank etwas Wasser. Mein Mund war ganz trocken geworden.

»Wieso? Hast du eine bessere Idee?«

»Ich habe dir schon am Telefon gesagt, dass das alles sinnlos ist. Du hattest mich doch gebeten, etwas mehr über Sandro Marino herauszufinden.«

»Heißt das, du weißt, was aus ihm geworden ist? Wo er sich aufhält?«

Jutta sah mich an. Komischerweise schien sie sich gar nicht zu freuen. Und plötzlich wusste ich auch, warum. Sie war immer noch eifersüchtig auf Wonne. Sie war sauer, dass ich mit Wonne durch die Gegend zog und den Fall löste statt mit ihr, wie in alten Zeiten.

»Jetzt sei nicht sauer«, sagte ich. »Hilf uns bitte. Hilf mir bitte. Und hilf vor allen Dingen diesem armen Schwein Reinhold Hackenberg. Er mag ein Versager und ein Krimineller sein, aber ist er wirklich ein Mörder? Und wenn wir seine Unschuld beweisen können …«

»Gar nichts könnt ihr. Ich bin der Ansicht, dass die Polizei recht hat. Dass es Hackenberg war. Seine Mutter hat irgendwas über ihn oder diesen Matze rausgekriegt… Aber das ist auch egal. Sandro Marino war es jedenfalls nicht. Deine Story ist phantastisch. Perfekt sozusagen. Sie klingt gut.«

»Genau, und …«

»Aber sie ist eben nur perfekt konstruiert.«

»Warum?«

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Jutta eine auffallend große Tasche dabeihatte, die vor der weißen Liege auf dem Gras stand. Sie griff danach und holte ein großformatiges Buch heraus.

»Ich habe noch mal mit den Leuten gesprochen, die damals mit der Organisation der Konzerte im Altenberger Dom befasst waren. Einer davon wohnt hier in der Nähe. Das ist auch der Grund, warum ich spontan beschlossen habe, vorbeizukommen. Aber jetzt sehe ich, dass das auf jeden Fall nötig gewesen wäre. Sonst hättet ihr mir vielleicht nicht geglaubt. Und eine Riesendummheit gemacht.«

»Was geglaubt?«, rief Wonne, die sich neben mich auf die Liege gesetzt hatte.

»Das hier.«

Ich las den Titel des Buches: »Musik und Musiker im Bergischen Land«. Jutta blätterte. Ich erkannte zwischen den Textblöcken Schwarz-Weiß-Fotos von Orchestern, außerdem Porträts von Künstlern.

»Kennt ihr den hier?«

Sie drehte das Buch um. Wonne und ich beugten uns darüber, sodass wir sehen konnten, was sie meinte.

Das Foto war recht alt, bestimmt über zwanzig Jahre, aber das überhebliche Grinsen und die Haarpracht, die damals freilich noch dunkel gewesen war, ließen keinen Zweifel.

»Mathisen«, sagte ich.

Ich sah Wonne an und versuchte ihr durch einen Blick zu verstehen zu geben, dass ich nichts dafür konnte, dass es wieder mal um ihn ging.

»Mathisen ist Sandro Marino«, sagte Jutta.

Ich war wie vom Donner gerührt. Wonne schwieg.

»Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es mir. Unter dem Foto informierte ein kurzer Text über den damals noch jungen Sänger. Ich überflog die Zeilen, konnte es aber trotzdem nicht fassen.

»Er hat in Italien studiert«, sagte Jutta. »Und dort hat er sich einen italienischen Künstlernamen gegeben, weil deutsche Namen in Italien nicht so gut ankommen.«

Sie nahm das Buch weg und schlug es mit lautem Knall zu.

»Er hat sich ganz am Beginn seiner Karriere so genannt. Ein paar Jahre später ist ihm klar geworden, dass er sich damit eher lächerlich machte. In Klassikkreisen sind Künstlernamen verpönt. Deswegen hat er davon wieder Abstand genommen und sich Siegfried Mathisen genannt.«

»S und M«, sagte ich. »Dieselben Initialen.« Ich dachte an den kurzen Brief an Wonnes Mutter.

»Genau.« Jutta packte das Buch weg. »Und damit ist die Sache ja wohl klar. Ihr glaubt doch sicher nicht, dass Siegfried einen Mord begangen hat? Und dann auch noch an dem Tag, an dem er auf meine Party kam? Er und Hermine sind beide an diesem Wochenende erst angereist.«

Ich dachte nach. Juttas unbarmherziger Blick, mit dem sie mich durchbohrte, erschwerte meine Gedankentätigkeit deutlich. Sicher, sie konnte nicht glauben, dass ihr langjähriger Bekannter ein Mörder war. Andererseits, wenn man die persönlichen Bedenken abzog und alles nüchtern betrachtete …

»Das heißt überhaupt nichts«, rief Wonne. »Wenn Mathisen und Sandro Marino ein und dieselbe Person sind, dann war es eben Mathisen.«

»Spinnst du?«, fuhr Jutta auf. »Das ist ein in seiner Branche renommierter Mann. Dem kannst du nicht einfach einen Mord in die Schuhe schieben.«

Wonne sprang auf. »Wir haben die Indizien. Sandro Marino war mit Gabriele zusammen.«

»Aber sie hat Klara Hackenberg von Salzburg aus einen Brief nach Wermelskirchen geschickt. Ihr habt nur eine Theorie, aber nicht den Schatten eines Beweises.«

»Der Brief wurde mit der Schreibmaschine geschrieben«, sagte ich. »Er könnte eine Fälschung sein. Sie hätte ihn wahrscheinlich sonst mit der Hand verfasst. Der Brief könnte von ihm stammen … Und die Sache mit der Handverletzung war eine Finte.«

»Alles konstruiert«, sagte Jutta scharf. »Alles Theorie. Wie du selbst sagst.«

»Darf ich das Buch bitte noch mal sehen?«

»Selbstverständlich«, sagte sie und warf Wonne einen Blick zu, in dem das Gift fast sichtbar war. Wonne hielt ihm wunderbar stand. Ohne hinzusehen, griff Jutta in die Tasche und reichte mir den Band.

»Hier steht’s doch klar und deutlich«, sagte ich. »Mathisen alias Marino hat am 31. Oktober 1975 zum letzten Mal im Bergischen Land gesungen. Verdis ›Requiem‹. Und am selben Abend oder einen Tag später hat er …«, ich zögerte kurz, »… jemandem einen Brief geschrieben. Das wissen wir sicher.«

»Noch ein Brief? Was für ein Brief soll das denn gewesen sein?«

»Hier steht weiter, dass er direkt danach nach Salzburg ging, wo er an der Seite der Agentin Hermine Weißenburg eine große Karriere begann. Wie wir heute wissen, war diese Karriere dann irgendwann zu Ende, und er ist selbst ins Agenturgeschäft eingestiegen.«

»Erklär mir, was das für ein Brief sein soll«, beharrte Jutta.

Ich ging immer noch nicht darauf ein. »Mathisen hatte im Oktober 1975 mehrere Beziehungen zu jungen Frauen. Unter anderem zu Gabriele Scherf, die unbedingt nach Salzburg mitkommen wollte. Wenn Mathisen sie mitgenommen hätte, wäre aber die Beziehung zu seiner Agentin geplatzt, die wichtig für seine Laufbahn war. Er konnte es sich nicht leisten, mit einer jungen Geliebten in Salzburg aufzutauchen. Vielleicht hat sie ihn erpresst, was weiß ich … Jedenfalls hat er sie umgebracht und die Leiche versteckt. Und Klara Hackenberg war drauf und dran, diesen Mord von damals aufzudecken.«

»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, ereiferte sich Jutta. »Das ist alles reine Spekulation.«

Ich blieb ruhig. »Jutta, jetzt versuch doch mal deine persönliche Bekanntschaft mit Mathisen beiseite zu lassen. Wenn dir das gelingt, wird dir klar, dass wir recht haben. Oder zumindest recht haben könnten. Dass man dem nachgehen muss.«

Sie sprang auf, offenbar hatte sie ein ähnlicher Bewegungsdrang überfallen wie Wonne. Der Effekt war, dass ich nun zu beiden Frauen aufsehen musste. Das gefiel mir nicht, also stand ich ebenfalls auf.

»Wie hätte das denn ablaufen sollen?«, fragte Jutta aufgebracht. »Woher hätte Siegfried die genauen Gewohnheiten von Klara Hackenberg kennen sollen? Wie ist er an Reinhold Hackenbergs Auto gekommen?« Sie lachte nervös. »Ja, nicht nur das: Er musste ja auch am frühen Samstagmorgen irgendwie nach Tente kommen - und das ohne eigenen Wagen, denn der hätte ja gesehen werden können, Und dann brauchte er auch noch das Messer aus dem Haus. Gut, das hätte er ja gleich mit dem Autoschlüssel nehmen können, da gebe ich dir recht…«

Sie atmete schwer. Ich wagte nicht, etwas zu sagen. Auch Wonne schwieg. Schließlich kam Jutta wieder zur Besinnung und sah uns erstaunt an.

»Soll das heißen, ihr glaubt wirklich … Remi, sag, dass das nicht wahr ist.«

»Klara Hackenberg kann sich auf einer ihrer Reisen nach Österreich mit ihm getroffen haben. Auch wenn sie noch nicht ahnte, dass er Gabrieles Mörder ist, wusste sie, dass er mit ihr zusammengelebt hatte. Dabei kann er von ihren Gewohnheiten, morgens den Dom zu besuchen, erfahren haben. Und alles andere ist ebenfalls möglich, Jutta. Man kann auf viele verschiedene Arten morgens von Köln nach Tente kommen. Zum Beispiel mit dem Bus.«

»Siegfried in einem Bus?« Sie lachte. »Da hätte ihn ja jeder gesehen.«

»Man kann sein Äußeres verändern. Vielleicht ist er auch schon am späten Abend vorher hingefahren und hat bis zum Morgen gewartet.«

Jutta wirkte plötzlich wie versteinert. »Remi - wenn du das weiterverfolgst, und es wird bekannt, dann gibt das einen Skandal. Ist dir das klar?«

»Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, Jutta. Es tut mir leid. Ich verspreche dir, ich halte mich nur an Fakten. Ich werde auch nicht gleich zur Polizei gehen, sondern erst mit Mathisen reden. In Ordnung?«

»Du bist auf der falschen Fährte. Gib es auf. Hackenberg ist der Mörder. Niemand sonst.«

»Nur reden, Jutta.«

Plötzlich standen wir uns auf dem Rasen wie zwei Revolverhelden gegenüber, die sich auf der breiten, staubigen Straße der Westernstadt zum Duell verabredet hatten.

»Und tu mir einen Gefallen«, fügte ich hinzu. »Halte dich raus. Sprich mit Mathisen nicht darüber. Ich werde das alles noch mal genau durchgehen.« Eigentlich hatte ich »mit Wonne durchgehen« sagen wollen, aber das hätte Jutta sicher noch mehr gereizt.

»Was grinst du so?«, fragte Jutta. »Weißt du was, Remi? Lass mich in Ruhe. Natürlich werde ich mit Siegfried nicht darüber reden. Ich mache mich doch nicht lächerlich.«

Offenbar hatte meine unwillkürliche Reaktion für den letzten Tropfen gesorgt, der das Fass zum Überlaufen brachte. Starren Blickes setzte sich Jutta in Bewegung und stapfte in Richtung Haus.

Kurz darauf knallte die Autotür, und der Motor ihres Wagens heulte auf.

Wonne kam zu mir. »Du bist ein Held«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

»Jemand, der so sehr seinen Ideen folgt und dafür sogar einen Krach in Kauf nimmt, kann nur ein Held sein, findest du nicht?«

Ich küsste sie. »Es tut mir leid, dass es jetzt doch wieder um Mathisen geht.«

»Schon okay.« Ich versuchte, ihren Blick zu lesen. Und ich fand darin etwas Ähnliches wie bei Jutta. Wonne wollte es Mathisen heimzahlen, Jutta wollte ihn schonen. Beide waren emotional in die Sache verstrickt.

Der Einzige, der den objektiven Überblick behielt, war ich -der Held.

Dachte ich jedenfalls.

»Immer langsam, wir sind hier nicht bei ›Miami Vice‹«, rief ich, als Wonne mit quietschenden Reifen vor der Einmündung zur Hauptstraße bremste.

»›Miami Vice‹? Ist das nicht eine Krimiserie aus dem Mittelalter?«

Ein Pulk Motorradfahrer zog aus Richtung Mettmann vorbei. Als sie in der Ferne verschwunden waren, gab Wonne so stark Gas, dass es heulte.

War unser Altersunterschied tatsächlich so groß? Ich schüttelte nur den Kopf und zog mein Handy heraus.

Wir rasten die Straße nach Mettmann zum Jubiläumsplatz hinunter, als sich bei Georgis endlich jemand meldete.

»Hallo, Herr Georgi, hier ist Rott.«

»Der Detektiv?«

»Ja, genau. Ich hatte mit Ihrer Frau telefoniert.«

»Sie hat mir gesagt, worum es geht. Sie wollen wissen, wo wir damals den Ohrring gefunden haben.«

Wonne hatte an einer Ampel gehalten und fuhr wieder an, die Lautstärke im Wagen erhöhte sich rapide, und ich musste gegen den Lärm anschreien. Wenigstens hatte sie das Faltdach geschlossen.

»Haben Sie sich denn erinnern können?«, fragte ich.

»… Mühe gemacht… Fotos … Kalender nachgesehen«, verstand ich.

»Wonne, fahr langsamer«, rief ich. »Herr Georgi, es tut mir leid, wir sind gerade im Auto unterwegs.«

»Ich glaube, ich kann es Ihnen ganz gut erklären«, sagte er. Wonne hatte das Tempo gedrosselt - keine Ahnung, ob meinetwegen oder wegen der Tatsache, dass wir in der Innenstadt unterwegs waren. Hauptsache, ich verstand Georgi wieder.

»Damals war ich auf der Suche nach einem Grab«, sagte Georgi.

Ich war nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. »Ein Grab?«

»Ja, wissen Sie, ich bin Geografie- und Geschichtslehrer, und ich habe mich damals schon sehr für das Bergische Land interessiert. Ich habe in meinen Unterlagen nachgesehen: Meine Frau und ich haben damals eine Wanderung zur Knochenmühle gemacht.«

Knochenmühle, Grab - das klang ja immer interessanter.

»Dort gibt es ein Grab im Wald. Das Grab einer jungen Frau.«

»Gabriele Scherf?«, entfuhr es mir.

Georgi wirkte verwundert. »Nein. Hildegard Maria Klingenburg. Sie kam kurz vor Ende des Krieges ums Leben, und wahrscheinlich konnte man sie wegen der allgemeinen Wirren und Zerstörungen nicht auf einem Friedhof beisetzen. Sie wurde nur zwanzig Jahre alt.«

Einen Moment lang dachte ich, die Geschichte, die mir Georgi da erzählte, hätte etwas mit meinem Mordfall zu tun. Ein paar Sekunden starrte ich vor mich hin. Wir befanden uns gerade hinter Mettmann auf der grünen Landstraße in Richtung Autobahn, die uns nach Köln bringen würde.

»Dieses Grab im Wald war damals unser Ziel«, fuhr Georgi fort. »Und in unmittelbarer Nähe, ein Stück in Richtung Talausgang, lag der Ohrring. Das heißt, er hing an einem tiefliegenden Ast eines Baumes. Als wenn ihn jemand anders schon mal gefunden und so drapiert hätte. Damit man ihn sieht, falls danach gesucht wird.«

»Ich verstehe.« Im Stillen bedankte ich mich beim Schicksal dafür, mir einen pingeligen Lehrer zum Zeugen beschert zu haben.

»Wir haben uns damals schon gewundert«, berichtete er weiter, »denn eigentlich gibt es in der Nähe des Grabes keinen richtigen Wanderweg. Die Stelle ist ziemlich abgelegen. Sie befindet sich im Tal der Kleinen Dhünn. Gegenüber der Straße, die durch das Tal führt, ist ein langer bewaldeter Hang. Da ist die Stelle.«

»Können Sie mir genau sagen, wo das ist? Ich würde mir das gern ansehen.«

»Von wo kommen Sie?«

»Warten Sie einen Moment, ich muss eine Karte aufschlagen. Südliches oder nördliches Bergisches Land?«

»Wie meinen Sie das?«

»Eher die Gegend von Overath, Wiehl, Waldbröl? Oder Wermelskirchen, Wipperfürth, Gummersbach?«

»Wissen Sie nicht, wo die kleine Dhünn fließt?«, fragte er - offenbar fassungslos über diese Bildungslücke.

»Doch, schon gut, entschuldigen Sie, nördlicher Teil.« Warum entschuldigte ich mich eigentlich bei ihm? Weil er Lehrer war? Die Schule prägte einen ganz schön. Auch mit Ende vierzig hatte man noch Ehrfurcht vor einem Pauker.

»Ich komme von Köln«, sagte ich, denn die Besichtigung des Fundortes würde nach dem Besuch bei Mathisen stattfinden.

»Ich erkläre Ihnen, wie Sie es auf der Karte finden. Das ist einfacher. Suchen Sie mal die Dhünntalsperre.«

»Sekunde.« Ich legte das Handy auf die Knie und beugte mich zum Rücksitz. Da lagen die Utensilien, die ich sicherheitshalber mitgenommen hatte. Nicht nur meine Pistole, sondern auch Kartenmaterial.

Ich fischte nach der Naturparkkarte »Bergisches Land Nordteil«, die mir schon große Dienste erwiesen hatte, und schlug sie auf.

Der berühmte Stausee war schnell gefunden. Er zog sich diagonal von Odenthal nordwestlich in Richtung Hückeswagen hinauf. Oberhalb der zerfaserten blauen Fläche lag Wermelskirchen. Darunter Kürten.

»Ich hab’s«, rief ich ins Handy.

»Gut. Auf der östlichen Seite teilt sich die Talsperre in zwei kleine Finger. Wissen Sie auch, warum?«, fragte er in Lehrer-Manier.

»Äh, ich glaube, das hat was mit den Tälern zu tun … ?

»Es liegt daran, dass zwei Bäche in die Dhünntalsperre fließen. Die Große Dhünn und die Kleine Dhünn. Die Kleine ist die nördlichere.«

Ich hatte immer gedacht, es gäbe nur eine einzige Dhünn, und das mit dem groß und klein hätte irgendwas mit der Quelle und der Mündung zu tun. Ich hütete mich aber, das jetzt zu sagen.

»Wenn Sie nun vom Stausee aus den Bach nach Norden verfolgen, dann kommen Sie erst an den kleinen Ort Dhünn, dann an die Stählsmühle und schließlich an die Knochenmühle am Ende der Straße. Ich weiß nicht, ob das auf Ihrer Karte eingezeichnet ist. Dhünn müssten Sie aber finden.«

Ich versuchte, die Knochenmühle zu entdecken. Erst gelang es mir nicht. Dann wurde mir klar, dass sie sich genau auf dem Knick der Karte befand. Die Ortsbezeichnung war auf der abgenutzten, faserigen Falte fast verschwunden.

»Ich hab sie«, rief ich triumphierend.

»Sehr gut!«, sagte er, als würde er mir eine Note geben. »Dort müssen Sie hin.«

Ich bedankte mich bei ihm, verabschiedete mich und legte auf. Es passte alles zusammen. Die Orte lagen alle dicht beieinander.

Gabriele Scherf hatte damals in dem Haus in Tente gelebt. Sie und Mathisen konnten durchaus in der Gegend bei der Knochenmühle spazieren gegangen sein. Es war nicht weit entfernt. Und daher kannte Mathisen das Tal vielleicht.

Noch etwas fiel mir auf.

In der kurzen Biografie in Juttas Buch hatte ich gelesen, dass Mathisen aus Remscheid stammte. Er war hier aufgewachsen. Wenn er in Altenberg ein Konzert gegeben hatte, dann hatte er vermutlich auch hier in der Gegend übernachtet.

Ich stellte mir den Ablauf vor: Die Aufführung ist vorbei. Die Musiker trinken vielleicht noch etwas zusammen. Gabriele kommt zu Mathisen, um ihm zu eröffnen, dass sie mit ihm nach Salzburg gehen wird. Sie hat alles vorbereitet und ihre Tante informiert. Sie ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln herunter nach Altenberg gekommen. Sie hat vielleicht ohnehin kein Auto besessen. Sie stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Mathisen kann ihre Anhänglichkeit nicht gebrauchen. Er hat eine neue Geliebte - die einflussreiche Agentin. Er will es ihr ausreden, will sie wieder nach Hause fahren. Sie sitzen im Auto. Spätestens hier macht sie ihm unmissverständlich klar, dass es kein Zurück gibt. Sie hat alle Brücken hinter sich abgebrochen.

Das setzt den jungen, aufstrebenden Startenor noch mehr unter Druck.

Er beschließt, sie aus dem Weg zu räumen.

Er bringt sie um.

Die Knochenmühle lag grob gesehen zwischen Altenberg und Remscheid. Natürlich war es aufwendig, nachts eine Leiche durch den Wald zu schleifen …

Ich dachte weiter nach: Er fährt also nach Remscheid, übernachtet dort, reist am nächsten Tag nach Salzburg, und niemand vermisst Gabriele. Sie hat allen gesagt, dass sie nach Salzburg geht. Vielleicht hat sie an diesem Abend wirklich alle Brücken hinter sich abgebrochen.

Plötzlich donnerte Musik los. Ich erschrak, erinnerte mich aber daran, dass Wonne diese apokalyptischen Klänge auch eingeschaltet hatte, als sie damals - war es wirklich erst ein paar Tage her? - zu Juttas Fest gefahren kam. Und auf dem Weg runter zu Schloss Burg.

»Das Verdi-Requiem?« schrie ich gegen die Musik an.

Wonne nickte. »Übrigens in einer Aufnahme, bei der Mathisen mitsingt. Die Produktion stammt von 1978.«

Jetzt verstand ich. Sie hielt ihn ja für ihren Vater. Deswegen hatte sie sich diese Version besorgt.

Wir schossen auf die Autobahn, und ich versuchte, mich zu entspannen. Nacheinander ging ich noch mal die Indizien durch. Am Ende war ich immer noch zufrieden mit meiner Theorie, auch wenn ein kleiner Einwand blieb. Ein Stachel, der bei den Überlegungen immer wieder schmerzte.

Wenn Mathisen damals in der Nacht wirklich Gabrieles Leiche versteckt hatte, dann musste es irgendetwas geben, das den Wald um die Knochenmühle besonders geeignet dafür machte. Und wenn dem so war, dann war die Leiche so gut versteckt, dass niemand sie fand.

Warum sollte uns das dann gelingen?

Das war aber noch nicht alles. Die nächste Frage war: Wie passte der Überfall von Matze und seinen Leuten in das Gesamtbild?

Alles der Reihe nach, dachte ich, schloss die Augen und versank in den apokalyptischen Klangfluten der Totenmesse.