15. Kapitel

Die Autobahn war frei, und angefeuert von meiner Oldie-CD gab ich kräftig Gas. Es gelang der Musik nicht, mich davon abzulenken, dass die Matze-Spur ins Nichts geführt hatte. Und dieser Gedanke ließ mich so darüber grübeln, wie ich weiter vorgehen sollte, dass ich erst an der Raststätte Ohligser Heide einen Ford Fiesta bemerkte, der mir offenbar folgte. Seine Farbe lag zwischen Blau und Türkis. Mitten auf dem Kühler befand sich ein sternförmig auseinandergelaufener Schlammfleck in hellem Ocker -als hätten die Jungs, die ich im Rückspiegel erkennen konnte, damit eine ähnliche Rallye gemacht wie ich mit Wonne gestern. Mit dem Unterschied, dass deren Rallye durch eine Kiesgrube geführt haben musste.

Ich ließ mich zurückfallen, setzte mich hinter einen der heute am Sonntag seltenen Laster, überholte, fuhr wieder langsamer. Der Fiesta blieb. Kein Zweifel: Sie waren hinter mir her.

Kurz vor der Ausfahrt Mettmann hielt ich mich links, um dann in letzter Sekunde zur Abfahrtspur rechts hinüberzuziehen. Ein Kleinwagen, den ich dabei ein bisschen schnitt, hupte - und für eine kurze Zeit dachte ich, ich hätte den Ford abgehängt. Doch als ich am Ortseingang, an der Ecke der Polizeistation, an einer roten Ampel anhalten musste, war der Fiesta wieder da. Ich konnte die Typen zählen. Vorne saßen zwei, hinten mindestens noch einer. Der vom Rücksitz beugte sich nach vorne und ließ sich Feuer geben. Es war der Vorstadtcasanova aus der Leverkusener Kneipe.

Als die Ampel auf Grün sprang, gab ich Gas und brachte so viel Abstand zwischen uns, dass ich das Nummernschild erkennen konnte. LEV für Leverkusen.

Ich folgte der Straße hinunter durch die Stadt. Am Jubiläumsplatz war der Fiesta plötzlich verschwunden. In Richtung Wülfrath drückte ich ordentlich auf die Tube, und kurz bevor ich bremste, um in die Einfahrt zu Mannis Haus einzubiegen, versuchte ich im Rückspiegel zu erkennen, ob das dunkle Gefährt am Horizont das meiner Verfolger war. Aber es war zu weit entfernt. Entschlossen riss ich das Steuer herum und näherte mich Mannis Haus.

Wonne öffnete die Tür, fiel mir um den Hals, nahm sich Zeit für einen innigen Kuss, doch dann machte sie sich ruckartig von mir los.

»Ich bin gerade dabei, alles einzupacken«, rief sie und lief zurück in Richtung Küche. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie eine Schürze trug.

Mich streifte eine Vision. Uralte Fernsehwerbung. Sechziger Jahre. Der Mann kommt von der Arbeit nach Hause - völlig ausgelaugt von den Mühen, die ihm im Beruf abverlangt wurden. Die ihm treu ergebene Hausfrau hat in der Zwischenzeit nur ein einziger Gedanke beseelt: die Wohnung so herzurichten, dass sich der Göttergatte gebührend erholen kann. Er nimmt im bequemsten Sessel Platz, den das Wohnzimmer zu bieten hat. Die bessere Hälfte bringt ihm Hausschuhe, Zeitung und etwas zu trinken. Sie informiert ihn, wie lange es noch dauert, bis das Essen serviert wird, damit er seine Lektüre darauf einrichten kann. Selbstverständlich hat sie sich am Morgen beim gemeinsamen Frühstück erkundigt, was der Mann zu speisen gedenkt. Keine Frage, dass die dabei geäußerten Wünsche Befehl sind.

»Jetzt erzähl schon«, drängte Wonne, »was hast du rausgefunden?«

Unglaublich, welche Phantasien eine einfache Schürze an einer Frau, die die Tür öffnet, hervorrufen kann. Ich löste mich aus der Rolle des Paschas. Hausschuhe hatte ich eh keine. Und beim Abendessen ließ ich mich lieber überraschen.

»Sekunde.« Ich legte meine Beretta auf den Tisch.

Wonne beäugte die Waffe wie ein gefährliches Tier, das gerade schlief und das man auf keinen Fall wecken durfte.

»Ist die geladen?«

»Klar«, nickte ich. »Nicht anfassen«, fügte ich hinzu, als Wonne die Hand danach ausstreckte.

»Schon gut.« Sie lächelte mich an. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Hast du nicht was von Einpacken gesagt? Ich meine, hast du die Sachen, die du vorbereitet hast, eingepackt? Warum?«

Sie lächelte schelmisch. »Warum packt man Lebensmittel ein?«

Ich machte das Ratespiel mit, obwohl ich natürlich ahnte, was sie vorhatte.

»Um sie woanders zu essen?«

»Genau. Und wie nennt man das dann?«

»Eine Einladung?«

»Quatsch.«

»Keine Ahnung.« Es tat gut, sich dumm zu stellen.

»Ein Picknick. Und das machen wir heute noch.«

»Sind Picknicke - sind Picknicks nicht etwas für tagsüber?«

»Nächtliche Picknicke sind meine Spezialität. Aber erst erzählst du mir, was du rausgefunden hast.«

»Ich fürchte, wir müssen das verschieben. Ich muss noch was erledigen. Lass uns gleich fahren. Wir sparen damit Zeit. Ich erzähle unterwegs.«

In der Küche standen zwei gepackte Körbe; in dem einen befanden sich Plastikdosen und Flaschen, in dem anderen Geschirr.

»Ich hoffe, dein Freund hat nichts dagegen, wenn wir seine Teller und sein Besteck verwenden«, sagte Wonne.

»Kann ich mir nicht vorstellen. Haben wir außerdem heute Morgen schon getan.«

Wir verstauten alles in Wonnes Kofferraum.

»Wohin soll’s gehen?«, wollte sie wissen, als wir auf die Hauptstraße kamen.

»Wermelskirchen. Wir müssen das Haus von Klara Hackenberg untersuchen. Wenn wir Glück haben, liegt der Schlüssel immer noch unter dem Blumentopf.«

Weiter im Westen, über Düsseldorf und den nördlichen Ausläufern Kölns, hing noch ein hellblauer Fleck am Himmel, aber von Osten, aus den Tiefen des Bergischen Landes, kam die Dunkelheit und holte uns ein. Wonne hatte das schwarze Faltdach geschlossen, sodass wir uns - ich wieder mit hochgezogenen Knien - kuschelig in der Knutschkugel drängten. Mir war es recht.

Als wir in Burscheid von der A1 abfuhren und auf die Straße Richtung Wermelskirchen bogen, flammten wie auf Kommando die Straßenlaternen auf.

Ich hatte Wonne von meinen Ermittlungen berichtet. Sie war von Matzes Unschuld nicht überzeugt.

»Ich bin mir sicher, dass er bei dieser Immobilensache ein krummes Ding gedreht hat«, sagte sie. »Von solchen Betrügereien habe ich schon mal gelesen. Und wer sagt denn, dass er den Mord an Klara Hackenberg selbst begangen hat?«

»Und welche Betrügereien meinst du jetzt genau?«

»Man gibt eine Anzeige auf und behauptet, eine Wohnung von privat vermieten zu wollen. Wenn die Leute auf die Chiffre antworten …«

»Moment, Matze hat das aber nicht mit Chiffre gemacht, sondern hat sich als Mitarbeiter einer Immobilienfirma ausgegeben.«

»Dann ist es eben eine Variante davon, das ist doch egal. Der angebliche Vermieter ruft dann an, erklärt, die Wohnung oder das Haus befinde sich noch im Bau, sei aber in zwei Monaten oder so fertig. Er bestellt die Interessenten auf eine x-beliebige Baustelle. Am besten sonntags oder kurz nach Feierabend. Und er behauptet, das sei das Mietobjekt.«

»Und das merkt keiner? Ich meine, dass der dort gar nicht hingehört? Es sind doch manchmal trotzdem Leute auf so einer Baustelle. Auch am Wochenende oder nach Arbeitsende.«

»Da muss man halt ein bisschen geschickt sein. Man gibt sich als Verwandter des Eigentümers oder so aus. Noch echter wirkt es, wenn man ein Telefonat mit dem Eigentümer vortäuscht. Jedenfalls bietet der angebliche Vermieter direkt einen Mietvertrag, verlangt dann aber eine Baranzahlung. Nur hundert oder zweihundert Euro. Was die Interessenten gerade so dabeihaben. Und das macht der Betrüger dann vielleicht fünfmal am Tag. Sind im günstigen Fall fünfhundert bis tausend Euro Verdienst. Steuerfrei.«

»Und die Leute sehen ihn nie wieder.«

»Natürlich nicht. Sie gehen fröhlich nach Hause. Bis dann irgendwann das böse Erwachen kommt.«

»Matze hat behauptet, er arbeite für eine Immobilienfirma namens Markgraf.«

»Du kannst sie ja mal im Internet suchen. Wahrscheinlich gibt’s die gar nicht. Oder sie ist nichts als eine Webseite.«

Als wolle sie ihre Worte bekräftigen, gab sie Gas. Ich las ein Vorortschild: »Neuenhaus«.

Was sie mir geschildert hatte, gehörte in eine ähnliche Kategorie wie der Enkeltrick. Insofern passte es in Matzes Repertoire. Ich fragte mich, warum die Leute so dumm waren und auf so etwas eingingen. Aber wenn der Mietvertrag für die Traumwohnung vor der Nase liegt und der angebliche Vermieter einen vertrauenswürdigen Eindruck macht. Wenn es nur noch darum geht, mal eben zwei-, dreihundert Euro dazulassen …

»Du musst das der Polizei melden«, sagte Wonne.

»Klar.«

Ich überlegte einen Moment, wie die Geschädigten hießen. Rosenau. Sie waren sicher aufzufinden.

»Jedenfalls hat er Frau Hackenberg nicht auf dem Gewissen«, sagte ich. »Die Flugscheine waren echt.«

»Und wenn es einen Komplizen gibt?«

Ich dachte an Vorstadtcasanova und Konsorten.

Das Schild »Tente« erschien auf der rechten Straßenseite. Kurz darauf setzte Wonne den Blinker und bog ab. Wir passierten die Brücke. Die Leitplanken erinnerten im grellen Lichtkegel an lange weiße Schlangen. Auch der Asphalt leuchtete hell in dem künstlichen Licht. Dann tauchten die Bäume neben dem Haus aus dem Dunkel auf und warfen harte Schatten auf die Fassade.

»Mach das Licht aus«, sagte ich.

»Aber wir sind noch gar nicht da.«

»Wir sollten vermeiden, dass der Nachbar uns bemerkt.«

»Warum? Haben wir kein Recht, das Haus zu untersuchen?«

»Machst du Witze? Natürlich nicht. Wir können nicht einfach irgendwo eindringen. Auch wenn wir wissen, wo der Schlüssel ist.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hat Frau Dr. Rath auch so was gesagt. Sie hat gefragt, ob wir in das Haus reinwollen.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass ich das dir überlasse. Du bist schließlich der Chef.«

»Dann bestimme ich jetzt, dass es dunkel werden möge. Und leg mal einen höheren Gang ein. Untertourig macht weniger Lärm.«

Die Umgebung wurde schlagartig von der Dunkelheit verschluckt. Wonne ließ den Wagen noch ein bisschen rollen und stellte den Motor dann ab.

Ich öffnete die Beifahrertür und hielt inne.

»Hörst du das auch?«, fragte ich.

»Ja.«

Von irgendwoher kam Musik.

Wir stiegen aus. Die laue Luft der Sommernacht umfing uns. Von den Wiesen kam ein weicher Duft nach Gras und Erde.

Und das Konzert einer Blaskapelle.

»Romantisch, oder?«, sagte sie. »Jetzt ist es wirklich Sommer geworden. Wer hätte das gedacht.«

Die Sommer im Bergischen Land waren leider oft durchwachsen. Gelegentlich unterschieden sich die Temperaturen kaum von denen zu Weihnachten. Und dann gab es wieder zwei, drei Wochen lange Hitzeperioden, während deren man fast im schmelzenden Asphalt versank.

Einen richtig schönen, angenehm warmen, nicht zu heißen Sommer: So etwas gab es selten. Aber seit ein paar Tagen hatten wir ihn.

»Wunderbar«, sagte ich. »Wenn nicht diese komische Musik wäre.«

»Ist doch egal. Da wird irgendwo ein Fest sein. Was stört es uns?«

»Schauen wir mal nach dem Schlüssel.«

»Werden wir lange brauchen?«

»Warum fragst du?«

»Och, nur so … Mir wäre nach etwas anderem.«

Mein Mund war plötzlich trocken. Fast hätte ich der Versuchung, die Arbeit aufzuschieben, nachgegeben. Doch dann sagte ich mir, dass es nicht lange dauern würde. Dass die Nacht gerade erst begonnen hatte.

Wir umrundeten das Haus von der linken Seite. Dahinter lag der kleine Garten, vom angrenzenden Grundstück durch die Büsche abgetrennt, bei denen wir den Nachbarn getroffen hatten. Die Grenze zeigte sich als schwarze undurchdringliche Mauer. Darüber leuchtete etwas in der Ferne, von wo aus auch die Musik kam. Es war gar keine Blaskapelle. Jedenfalls keine, die live spielte. Der Herr Nachbar veranstaltete sein Privatkonzert. Offenbar war er ein Freund gediegener Marschmusik.

»Das ist gut«, sagte ich. »Dann wird er hoffentlich nicht mitkriegen, dass wir hier sind. Wahrscheinlich marschiert er gerade nach ›Preußens Gloria‹ durchs Wohnzimmer. Mit dem Besenstil als Gewehrersatz.«

»›Preußens Gloria‹? Kennst du dich so gut mit Militärmusik aus? Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Ich mir auch nicht. Aber mein Vater spielte in der Polizeikapelle Tuba. Der hat dieses Zeug rauf- und runtergehört. Und keine Volksmusiksendung im Fernsehen wurde ausgelassen. Vor allem nicht der ›Blaue Bock‹.«

»Du Ärmster. Lass uns schnell den Schlüssel suchen, damit wir hier fertig werden und ich dich trösten kann.«

Wir betraten den schwarzen Teppich der Rasenfläche.

»Und wie sollen wir hier einen bestimmten Blumentopf finden?«, fragte Wonne. »Hast du eine Taschenlampe dabei?«

»Nein, das wäre viel zu auffällig. Ich weiß was Besseres.«

»Einfach Licht machen?«

»Warte es ab.«

Ich versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Das Trompetengeschmetter und die Beckenschläge aus den Fenstern dreißig, vierzig Meter weiter trugen nicht gerade zu meiner Konzentration bei.

Aus den Tiefen meiner Taschen förderte ich ein Feuerzeug zutage. Ich ging in Wonnes Nähe und riss die Flamme an. Am Ende der Hauswand lagerten alle möglichen Gartengeräte - Eimer, ein Rechen. Etwas Unförmiges, das ich für zusammengeklappte Stühle hielt.

Wir waren heute tagsüber hier gewesen. Ich versuchte, mich zu erinnern.

»Und jetzt mach bitte mal dein Handy an«, sagte ich.

Das Telefon gab ein sanftes Leuchten von sich. Der bläuliche Schein war schwach, reichte aber aus, um Konturen des Sammelsuriums sichtbar zu machen.

Wonne arbeitete sich durch den Haufen. Ich hörte schwaches Klappern von Töpfen, dann hielt sie triumphierend etwas in die Höhe. Es war der Schlüssel.

»Lass das Handy eingeschaltet«, sagte ich. »Wir werden das Licht da drin auch brauchen.«

Wir gingen zur Vorderseite, steckten den Schlüssel ins Schloss und betraten das Haus.

Der matte Schein des Displays schwebte durch den kleinen Flur und enthüllte eine Garderobe mit ordentlich aufgehängten Jacken.

»Was genau suchen wir eigentlich?«, fragte Wonne.

»Ich muss mir ein Bild davon machen, wie Frau Hackenberg ihren Alltag verbracht hat. Und wir suchen nach einer Verbindung zwischen ihr und Matze.«

»Also gehen wir nach oben? Die Wohnung von Reinhold Hackenberg willst du gar nicht sehen?«

»Doch, natürlich.«

Wir begutachteten das Chaos aus Computerspielen, Pornos und anderen DVDs, aus dreckiger Wäsche und einem stinkenden, ungemachten Bett.

»Ist das eklig hier«, sagte Wonne.

Im diffusen Licht des Handys wirkte die Szene wie aus einem Gruselfilm. Ich versuchte, etwas Brauchbares zu finden, tastete über Haufen von DVD- und CD-Hüllen, die sich auf dem Tisch neben dem PC, aber auch auf dem Boden stapelten.

Es brachte nichts.

»Wir gehen rauf«, sagte ich.

Von dem kleinen Flur bog eine Treppe ab - so schmal, dass wir uns hintereinander hinaufzwängen mussten.

Im oberen Stock änderte sich der Geruch. Putzmittel. Seife. Ein Hauch Parfüm. Der Gang führte in eine winzige, sauber aufgeräumte Küche. Sie war das totale Kontrastprogramm zu Reinholds Chaotenbude. Ich öffnete den Hängeschrank, in dem sich ordentlich Teller und Tassen stapelten. Darunter stand der Holzblock mit den Messern. Eins fehlte.

Am anderen Ende der Küche gab es eine weitere Tür mit einem geriffelten Glasfenster. Sie war abgeschlossen.

»Probieren wir den Schlüssel von der Haustür«, sagte ich. »Vielleicht passt der auch hier.«

Fehlanzeige.

»Wahrscheinlich hat Frau Hackenberg ihre Wohnung vor ihrem Sohn schützen wollen«, sagte Wonne. »Kann ich verstehen. Es fragt sich, wo der Schlüssel ist.«

»Keine Ahnung. Vielleicht auch versteckt.«

»Willst du danach suchen?«

»So viel Zeit haben wir nicht. Gib mir mal das Handy bitte.«

Ich nahm es, bückte mich und beleuchtete den Bereich rund um die Klinke.

»Das Schloss ist primitiv. Das hätte Hackenberg nicht abgehalten, hier reinzukommen, wenn er es gewollt hätte. Uns wird es auch nicht aufhalten.«

»Was meinst du damit? Willst du die Tür etwa aufbrechen?«

Ich zeigte Wonne meinen eigenen Schlüsselbund, an dem ich einige kleine Dietriche befestigt hatte - genau für solche Fälle. Es dauerte keine halbe Minute, und die Tür war offen. Als sie nach innen zurückschwang, knarrte es leicht.

»Moment mal«, sagte Wonne. »Hörst du das?«

Ich hörte es. Beziehungsweise ich hörte es nicht.

Die Musik von drüben war verstummt. Es herrschte Totenstille.

»Vielleicht ist er schlafen gegangen«, mutmaßte ich. »Auf jeden Fall sollten wir keine Zeit verlieren. Los.«

Der bläuliche Schein wanderte wieder, diesmal über einfaches Mobiliar. Im kleinen Wohnzimmer stand nichts als ein Sessel, ein leerer Couchtisch und ein schmales Regal mit Büchern. Alles wirkte, als stamme es aus schwedischer Produktion. Ein großes dunkles Kruzifix überragte ein gerahmtes Papst-Foto. Benedikts Namen fand sich auch im Bücherregal wieder - gelegentlich auch als Ratzinger. Ich sah Titel wie »Glaube - Wahrheit - Toleranz«, »Der Geist der Liturgie«. Ratzingers Buch über Jesus.

Wir gingen weiter ins Schlafzimmer. An der Wand vor dem Fußende des schmalen Bettes stand ein Sekretär aus dunklem Holz. Darüber beherrschte ein weiteres Kruzifix den Raum, diesmal sogar mit der Figur des Gekreuzigten daran. Mit gequältem Gesicht sah er auf uns herab. Riesige dunkle Augen unter dem Rund der Dornenkrone.

Auf dem Sekretär hatte sich Klara Hackenberg ein klein wenig Unordnung geleistet. Auf der Schreibfläche lag ein offener Aktenordner.

»Leuchte mal hierhin«, sagte ich und begann in den Unterlagen zu blättern. Ich überflog die Seiten.

Bingo! Ein Artikel über den Immobilientrick. Außerdem Briefe.

»Ich schau mir das später genauer an«, sagte ich und schloss den Ordner.

»Du nimmst es mit?«

»Es ist das, womit sich Klara Hackenberg beschäftigt hat. Das ist sicher wichtig.«

Plötzlich machte Wonne eine schnelle Bewegung. Sie hielt die Hand vor das Handydisplay. Schlagartig standen wir im Dunkeln. Nur ein schwacher Rest von Licht schwebte vor mir im Raum.

»Hast du das gehört?«, flüsterte sie.

Ich lauschte. Irgendwo knirschte etwas.

Schritte.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging zum Fenster. Unten war eine Gestalt zu sehen, die um Wonnes Auto herumschlich. Die Figur hatte fatale Ähnlichkeit mit dem Nachbarn.

Jetzt drehte er sich um, sah aber nicht zu uns hoch, sondern wandte sich der Straße zu.

»Hallo?«, rief er, und ich erkannte die Stimme, die gedämpft heraufdrang. »Hallo? Ist da jemand?«

»Mann, der führt sich hier auf wie ein Kontrolletti«, flüsterte Wonne, die mittlerweile zu mir gekommen war.

»Er darf nicht mitkriegen, dass ich hier bin. Das gibt sonst Ärger. Du musst ihn ablenken.«

Gemeinsam schlichen wir nach unten und durch Hackenbergs Reich bis zur Terrassentür. Ich hoffte inständig, dass der Nachbar immer noch vorne nach uns suchte.

Wir hatten Glück. Der Mann war nicht mehr zu sehen.

Ich ließ Wonne hinten raus und schloss die Tür wieder. Dann wandte ich mich dem Haupteingang zu. Kurz darauf hörte ich die beiden reden.

»He, was machen Sie da? Das ist Privatgelände.«

Ein gelber Lichtschein bewegte sich. Der Nachbar benutzte im Gegensatz zu uns eine Taschenlampe. Ich stellte mir gerade vor, wie er sie Wonne ins Gesicht hielt.

»Weiß ich«, sagte sie. »Es tut mir auch leid, dass ich Sie störe. Aber ich wollte nachsehen, ob ich gestern hier meine Sonnenbrille vergessen habe.«

Es vergingen ein paar Sekunden, die der Marschmusikfan offensichtlich mit Nachdenken verbrachte. Es war Nacht. Eine Zeit, zu der Sonnenbrillen für ihn wahrscheinlich keine Existenzberechtigung hatten. Auch der Gedanke daran nicht.

»Ihre Sonnenbrille?«, wiederholte er misstrauisch.

Wonne gab weiter die Unschuldige, als hätte sie Schauspielerei studiert. »Ja, ich hatte sie hier auf die Fensterbank gelegt, als wir gestern hier waren.«

»Und? Haben Sie sie gefunden?« Er hörte sich tatsächlich an wie jemand, der hier etwas zu sagen hatte.

»Jawohl«, meldete Wonne militärisch, und das war wahrscheinlich der einzig angemessene Tonfall. »Und ins Auto gelegt.«

Der Feldwebel war noch nicht zufrieden. »Und was haben Sie eben hinter dem Haus gemacht?«

»Wieso hinter dem Haus? Da war ich gar nicht.«

Jetzt wirkte er wie ein Staatsanwalt, der einen Verdächtigen bei einem Widerspruch ertappt hat.

»Erzählen Sie mir keinen Unsinn. Ich habe Sie gesehen. Keine Ausflüchte. Sie waren auf dem Grundstück.«

»Ach das. Nein, ich war nur zwischen den Büschen.«

»Aha - ertappt! Und warum?«

»Warum wohl? Können Sie sich das nicht denken?«

»Nein, ich kann mir gar nichts denken.« Damit hatte er endlich mal recht. »Also?«

»Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich musste mal für kleine Mädchen. Darf ich jetzt vielleicht endlich fahren? Mein Freund wartet auf mich.«

Schleifer Platzek hatte es wohl die Sprache verschlagen. Ich hörte wieder Schritte. Wenn ich mich nicht irrte, bewegten sie sich in Richtung seines Hauses.

Wie zu erwarten, behielt er aber das letzte Wort. »Suchen Sie sich das nächste Mal gefälligst einen anderen Platz zum Pinkeln. Das ist kein Damenklo hier.«

Wonne ließ ihm ein wenig Zeit. Ich hörte, wie sie die Tür ihres Wagens öffnete. Kurz darauf startete der Motor. Vermutlich fuhr sie ein paar hundert Meter in Richtung Tente. Ich zählte leise bis fünfzig und verließ das Haus. Einen Moment befürchtete ich, der Feldwebel könnte so schlau gewesen sein, das Ablenkungsmanöver zu durchschauen, und auf mich warten.

Doch da war nur die weite bergische Nacht. Und Wonnes Wagen, dessen Rücklichter rote Flecken in die Dunkelheit malten.

Ich schloss ab und steckte den Schlüssel ein. Den Ordner fest an mich gepresst, lief ich los.

Wonne empfing mich mit einem heißen Kuss.

»Hast du jetzt endlich Dienstschluss? Darf ich dich entführen?«

Ich dachte an die Unterlagen aus Klara Hackenbergs Haus und daran, dass ich sie jetzt eigentlich am liebsten sofort gelesen hätte. Aber das hatte auch bis morgen früh Zeit. Irgendwann musste auch mal Schluss sein.

»Entführen …«, sagte ich und machte mich langsam los, nur um dann noch einen weiteren Kussangriff zu wagen, bis ich kaum noch atmen konnte. »Entführen«, brachte ich schließlich hervor, »klingt richtig gut.«

Ich ließ mich forttragen. Hinaus in die Sommernacht.

Irgendwo in meinem Hirn, aber weit im Hintergrund, registrierte ich, dass Wonne in Richtung Leverkusen abgebogen war.

»Wollen wir nicht weiter ins Bergische Land?«, fragte ich.

»Ich hab mich vertan«, sagte sie, und ihre Stimme klang brüchig, als wäre etwas von ihrer Selbstbeherrschung verloren gegangen.

Plötzlich riss sie das Steuer nach links und gab Gas. Es war eine ähnlich kleine Straße wie die in Tente zu dem Hackenberg-Haus. Die Scheinwerfer wanderten über einen kleinen Parkplatz. Hinter einem Zaun leuchteten rote Lichtpunkte.

Wonne stellte den Motor aus. Die roten Lichter wurden deutlicher. Es waren Grablichter.

»Sorry, aber ich halt’s nicht mehr aus«, stöhnte sie. »Stört dich der Friedhof?«

»Hast du solchen Hunger?«

»Und wie.«

»Na ja, wir müssen ja nicht gleich auf dem Friedhof essen.« Etwas abseits brannte eine Straßenlaterne und beleuchtete die Abzweigung eines Feldwegs. »Wir könnten auch erst einen kleinen Abendspaziergang …«

Ich brach ab, denn Wonne stieg plötzlich aus. Ich war noch angeschnallt und tastete nach dem Gurtschloss, als Wonne an der Beifahrertür auftauchte und sie öffnete. Ungeduldig zog sie mich aus dem Auto.

»Los komm, beeil dich.«

»Willst du den Wagen nicht abschließen?«

»Keine Zeit. Nun komm schon.« Sie hielt mich an der Hand; gemeinsam rannten wir in Richtung des Feldwegs. Das heißt: Sie rannte, ich stolperte hinterher. Sollte das jetzt etwa der romantische Spaziergang sein? Wir näherten uns dem gelblichen Licht der Straßenlaterne, in dem eine Wolke aus Nachtfaltern flatterte. Ab und zu stob etwas hindurch - ein Wesen, so groß wie eine Faust. Eine Fledermaus auf der Jagd nach Insekten.

Nur eine Sekunde tauchten wir durch das gelbliche Licht. Dahinter erwartete uns Dunkelheit. Wonne zog mich immer weiter den Weg entlang. Er war holprig, und ich musste aufpassen, dass ich nicht hinfiel. Dann raschelten Halme an meinen Beinen. Vor uns zeichnete sich eine graue Fläche ab. Ein Meer aus Gras.

Als Wonne endlich schwer atmend anhielt, sah ich vor uns einen majestätischen Baum aufragen. Seine Äste waren knorrige schwarze Verknotungen, Wonne eine weißliche Figur davor. Ein geisterhafter Schemen, der sich jetzt raschelnd seiner Kleider entledigte und sich an mich drängte.

»Nun mach schon«, stöhnte sie mir ins Ohr. »Raus aus den Klamotten.«

Mir rauschte das Blut in den Ohren.

»Äh - geht das nicht ein bisschen zu … ?«

»Zu schnell?«, flüsterte sie. Vorsichtig, aber entschieden griff sie mir zwischen die Beine. »Ich glaube nicht, dass du noch Zeit brauchst.« Sie kicherte.

In diesem Moment ließ ich die Kontrolle sausen. Und gab mich ganz und gar dem hin, was geschah.

Wonne zog mich in die noch tiefere Dunkelheit des riesigen Baumes, hinunter in das weiche, trockene und immer noch sonnenwarme Gras. Mit wenigen Handgriffen hatte sie mich von Hemd und Hose befreit. Als ich ebenso nackt wie sie dalag, entfuhr ihr ein »Endlich …«. Kaum war ich in ihr, zitterte sie am ganzen Körper, als hätte sie schon sehr lange auf diesen Moment gewartet.

Sie bewegte die Hüften langsam, und nach diesem ersten Höhepunkt erlangte sie wieder die Kontrolle über sich und mich, und es war, als würden wir vollkommen mit dem Gras, dem Duft nach Heu und mit der ganzen Nacht verschmelzen.

Als ich wieder etwas klarer denken konnte, hörte ich, dass es neben mir raschelte. Wonne ging vor dem schwarzen Himmel durchs Gras und sammelte unsere Kleidungsstücke ein.

Ich legte mich auf den Rücken und blickte nach oben. Ein sternenübersätes Firmament spannte sich über mir, halb bedeckt von den Ästen des Baumes.

Plötzlich fröstelte ich. Mein Verstand übernahm langsam wieder. Sicher war es besser, etwas anzuziehen. Man riskierte leicht eine Erkältung.

Und Zeckenbisse. Und die dazugehörenden Krankheiten.

Ich schüttelte diese ganz und gar unromantischen Gedanken ab und zog mich an.

Wonne näherte sich. Sie trug die beiden Körbe.

»Hättest du was gesagt«, empörte ich mich. »Ich hätte dir tragen helfen können.«

»Ist nicht schwer. Und du hast keine Kraft mehr. Oder doch? Ich denke, dann sollten wir dafür sorgen, dass sich das ändert…«

Sie stellte die Körbe ab, legte sich neben mich und begann das Spiel von Neuem. Nicht ganz so impulsiv wie beim ersten Mal, aber es endete damit, dass ihr Schrei in einem gewaltigen Höhepunkt über die Weide gellte.

»Mach die Augen zu«, sagte sie dann und griff in den Korb.

»Ich will dich aber ansehen.«

»Ist doch eh fast dunkel. Jetzt gibt’s erst mal was Kräftigendes.«

Ich gehorchte, und kurz darauf spürte ich etwas Metallenes an meinen Lippen.

»Mund auf«, befahl Wonne.

Es war etwas Kühles, Glattes, Getreidiges. Mit einer Note von Eiern und Fleisch. Säuerlich.

»Lecker«, sagte ich. »Mehr bitte. Ist das dein Nudelsalat?«

»Nudelsalat mit Panhas«, erklärte Wonne. »Mein eigenes Rezept.«

Panhas? Das kam mir bekannt vor. Eine bergische Spezialität. Irgendwas Fleischiges.

»Was ist noch mal Panhas?«, fragte ich.

»Eine Art Leberkäse«, erklärte Wonne, während ich eine zweite Portion bekam. »Mit Leberwurst und Blutwurst. Also eine Art Blutkuchen. Eigentlich isst man ihn warm, aber …«

Ich versteinerte innerlich, traute mich nicht zu schlucken. Sie merkte es.

»Nicht drüber nachdenken. Spür einfach den Geschmack. Es ist auch nur wenig drin. Ich hab ihn klein geschnitten. Ansonsten sind in dem Nudelsalat Eier, bergisches Rapsöl und Joghurt. Und natürlich Majoran.«

Natürlich, dachte ich - der ich null Ahnung vom Kochen hatte.

Wir aßen, tranken. Zum Salat gab es Weißbrot. Ich bekam mein Flaschenkölsch, Wonne trank nach eigenen Worten selbst gemachte Limonade. Ob man auch selbst Bier brauen konnte? Wahrscheinlich.

Dann sanken meine Gedanken wieder in sich zusammen. Machten etwas anderem Platz. Purer Empfindung. Fühlen. Als wäre ich nur noch Haut und Nerven. Doch irgendwann kehrten die Gedanken zurück. Ich wurde mir der Zerbrechlichkeit dieses Moments bewusst. Ich wäre gerne auf der sicheren Seite gewesen, hätte Wonne gerne auf der Stelle alles Mögliche gefragt.

Wie es mit uns weiterging.

Wo wir die heutige Nacht verbringen würden.

Wer sie eigentlich war.

Wo sie wohnte.

Mir sank der Mut. Was, wenn sie mir sagte, dass zwar alles ganz schön war, aber für eine feste Beziehung …

Nicht darüber nachdenken, dachte ich. Tu, was Wonne gesagt hat: Genieße den Augenblick.

Ich versuchte es. Und als es mir gerade gelungen war, begann sie zu reden.

»Morgen ist Montag.«

»Und?«

Sie küsste mich, und ich schmeckte auf ihrer Zunge noch etwas Würziges. Wahrscheinlich der Majoran.

»Ich muss früh aufstehen und arbeiten. Ich werde zu Hause übernachten.«

Es klang absolut. Eine Entscheidung. Sie gab mir einen Stich.

Aber es war ja klar. Die Frau hatte ein eigenes Leben. Sie musste ihr Geld verdienen, genau wie ich. Und sie hatte nun fast zwei Tage mit mir verbracht - zwei Tage, die wie im Flug vergangen waren.

Die Stimmung sank. Sie verflüchtigte sich. Und sie war nicht festzuhalten.

Wir trugen die Körbe zum Auto, und ich bemühte mich, den Schmerz, der leise in mir aufflammte und immer stärker wurde, zu ignorieren.

Wir quetschten uns in die Nussschale. Ich fror und war müde. Auf dem ganzen Rückweg schwiegen wir.

Schließlich waren wir kurz vor der Einfahrt zu Mannis Haus. Ich hatte am Ende der Fahrt vor mich hin gedöst. Doch jetzt riss ich die Augen auf. Weit vor uns waren die Rücklichter eines Wagens zu sehen, der sich schnell in Richtung Wülfrath entfernte. Ich konnte die roten Punkte gerade noch erahnen, da hatte die Nacht sie schon verschluckt.

»Das Auto ist gerade hier rausgekommen«, sagte Wonne.

»Bist du sicher?«

»Absolut.«

Das entspannte Gefühl war mit einem Schlag verschwunden. Genauso wie die Wehmut darüber, dass ich den Rest der Nacht ohne Wonne verbringen musste. Meine Sensoren waren auf Alarm gestellt.

Wonne bog in die Zufahrt ein. Langsam krochen wir bis zum Vorplatz. Die Scheinwerfer erfassten meinen Golf.

Ich stieg aus und ging zur Haustür. Sie war verschlossen. Alles schien in Ordnung zu sein.

Wir betraten das Haus, ich prüfte Raum um Raum und schaltete überall die Lichter ein. Penibel checkte ich die Fenster. Es war nichts Auffälliges zu entdecken.

»Kann es nicht sein, dass du dich verguckt hast?«, fragte ich Wonne.

»Ausgeschlossen. Es kam hier heraus.«

»Na ja, zum Glück ist ja nichts passiert.« Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss. »Lass mich nicht zu lange allein, hörst du?«

»Hast du Angst allein?«

»Vielleicht.«

»Mach dir keine Sorgen«, murmelte sie. »Spätestens morgen Abend sehen wir uns wieder.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

Wir zögerten den Abschied noch ein bisschen hinaus.

Schließlich winkte mir Wonne ein letztes Mal zu, setzte sich in ihren Wagen und fuhr los. Ich sah ihr eine ganze Weile nach. Als sie um die Ecke an der Hauptstraße verschwunden war, lauschte ich dem Motorengeräusch, bis es im Rauschen des fernen Verkehrs verschwand.