2. Kapitel

Das gedrungene Fachwerkhaus, das zur Hälfte mit Efeu zugewuchert war, schien missmutig auf die große Wiese hinüberzublicken. Als wundere es sich, was sich da in seiner Umgebung für neumodische Dinge taten. Zwischen den Obstbäumen leuchteten weiße Tische. Ein Stück weiter waren junge, adrett gekleidete Männer damit beschäftigt, Getränke aufzubauen. Als Sitzgelegenheiten hatte Jutta bequeme Korbstühle heranschaffen lassen.

Das Gesamtbild wirkte, als hätte jemand eine Szene aus einem dieser Rosamunde-Pilcher-Filme, in denen am Schluss immer eine Hochzeit gefeiert wurde, ins Bergische Land übertragen.

Ich fuhr den Feldweg entlang und versuchte auf den Vorplatz des Hauses einzubiegen, wo mein roter Golf wunderbar im Schatten des Nussbaumes stehen konnte. Aber da kam Jutta angelaufen und klopfte an die Scheibe.

»Du kannst hier nicht parken«, sagte sie, ohne mich zu begrüßen. »Wir haben einen Teil der Wiese auf der anderen Seite zum Parkplatz erklärt.«

Sie deutete irgendwohin. Einer der jungen Männer rief nach ihr, und schon war sie wieder weg.

Ich brachte meinen Wagen direkt neben Juttas BMW-Flitzer unter. Ansonsten war die Fläche noch vollkommen leer. Die ersten Gäste wurden in einer Stunde erwartet.

Gemütlich schlenderte ich an den Ort des Geschehens. Nur nicht zu schnell. Juttas Hektik konnte leicht ansteckend wirken. Als ich den kleinen Weg überqueren wollte, ratterte ein blauer Lieferwagen heran, in dessen Fahrerkabine sich vier Männer drängten. Der Wagen blieb stehen, und ein Fenster senkte sich.

»He, Chef, wo können wir abladen?«, fragte ein bärtiger Mann.

Ich wurde selten mit Chef angesprochen. Umso mehr freute ich mich - zumal ich Bescheid wusste. Doch bevor ich auf den Parkplatz deuten konnte, kam Jutta wieder angerannt.

»Hier rüber. Da haben Sie einen kürzeren Weg, wenn Sie das Equipment tragen müssen.

Der Bärtige nickte und ließ das Fahrzeug im Schritttempo hinter Jutta herrollen. Sie lotste den Transporter auf den Vorplatz unter den Baum. Als er abbog, konnte ich auf der hinteren Tür eine große, schräg angebrachte Aufschrift lesen: »Gummersbacher Rentnerband«.

Was hatte sich Jutta dabei wieder gedacht?

»Man macht sich keine Vorstellung, wie viel Arbeit das ist«, keuchte sie, als sie zu mir zurückkam.

»Hält jung«, sagte ich knapp. »Wie läuft das denn hier alles so ab? Nur falls mich einer fragt.«

»Also - wenn die Gäste kommen, werden Getränke gereicht. Natürlich nichts Alkoholisches. Eine kleine Stärkung gibt’s auch. Eine Suppe und etwas Salat -.«

»Moment«, unterbrach ich. »Warum nichts Alkoholisches?«

Sie sah mich an, wie man einen Irren betrachtet, bei dem die Chance auf Heilung gleich null ist.

»Weil die Leute auf die Rallye fahren sollen. Auto fahren. Du verstehst?«

Ich nickte nur. Meine Güte, konnte sie das alles hier nicht mal ein bisschen locker nehmen?

»Mir ist schon ganz heiß.« Sie friemelte ein Papiertaschentuch aus ihrer weißen Jeans. Vorsichtig tupfte sie sich die Stirn ab.

»Du hast Glück mit dem Wetter«, stellte ich fest.

»Glänze ich?«, fragte sie.

»Du siehst so glänzend aus wie nie.«

Sie verzog den Mund zu einem Grinsen. »Komm mit. Dann zeige ich dir die Unterlagen für die Teams.«

Ein Stück entfernt stand ein Zeltpavillon, darin ein runder Tisch mit Stühlen drum herum. Jutta wies auf einen Stapel Mappen und eine Schachtel voller Kugelschreiber.

»Das hier ist sozusagen die Einsatzzentrale. Am Anfang verteilen wir die Informationen an jedes Team. Und wenn sie unterwegs sind, bleiben wir hier und passen auf das Handy auf.«

»Welches Handy?«

»Na, meins. Das ich dir noch gebe. Auf dem rufen die Leute an, falls es Probleme gibt.«

»Was denn für Probleme?«

»Keine Ahnung. Reifen platt. Verfahren. Unfall. Man muss auf alles vorbereitet sein.«

Ich schlug einen der Plastikschnellhefter auf. Die ersten Seiten bestanden aus farbig kopierten Straßenkarten der Umgebung. Erfasst war in Nordsüdrichtung etwa das Gebiet zwischen Wuppertal und Bergisch Gladbach. Nach Osten ging es bis Wipperfürth, nach Westen bis Leverkusen und die Kölner »Schäl Sick«. Dazu gab es Stadtpläne.

»Wer sich mit dem Material verfährt, dem ist wirklich nicht zu helfen«, sagte ich. »Und ansonsten wird schon nichts passieren.«

»Du darfst nicht vergessen, dass manche von der linken Rheinseite kommen und sich hier nicht so gut auskennen.«

»Wen erwartest du denn überhaupt so?«

»Ingesamt sind es genau zwanzig. Zehn Männer und zehn Frauen. Sie werden gemischte Teams bilden, je ein Mann und eine Frau. Natürlich wird darauf geachtet, dass keine Paare zusammen fahren.«

»Ist das hier eine Geburtstagsparty oder eine Verkupplungsaktion?«

»Quatsch. Ich will, dass sich die Leute ein bisschen näher kennenlernen.« Sie griff in ihre Tasche und holte einen eng gefalteten Zettel hervor. »Also, da sind die Schönemanns aus Remscheid. Du weißt schon - der Inhaber der Werbeagentur, in der ich mal gearbeitet habe. Dann Siegfried Mathisen und seine Frau Hermine. Anwalt Dr. Heimlich und seine Frau, außerdem noch Theo, der Cousin meines verstorbenen Mannes, und …«

Ich hörte nicht mehr zu. Die Namen dieser Leute tauchten immer wieder mal in Juttas Erzählungen auf, aber irgendwie war das nicht meine Welt. Eine Ausnahme war Dr. Heimlich, der mir vor einigen Jahren geholfen hatte, als ich bei einem meiner größeren Fälle unschuldig in U-Haft gelandet war.

»Am besten, du machst dich jetzt mal nützlich«, sagte Jutta, die mein Desinteresse bemerkt hatte.

»Es ist doch noch niemand da. Also kann ich auch keine Mappen verteilen. Und du hast Kellner. Hat die Bar eigentlich schon geöffnet?« Ich deutete auf die adrett Gekleideten, die ganze Batterien von Gläsern in Position gebracht hatten.

»Später«, sagte sie.

Ich zog eine Zigarette hervor und beschloss, sie in aller Ruhe zu rauchen. Meine vierte heute.

»Wo gibt’s denn hier Aschenbecher?«, fragte ich.

Jutta ging nicht darauf ein. »Du kannst was anderes tun. Erkundige dich, ob jemand Hilfe braucht.« Sie rauschte in Richtung des Hauses davon. Keine Ahnung, was sie dort wollte. Vielleicht aufs Klo. Oder der Rentnerband helfen.

Ich beobachtete das geschäftige Treiben und beschloss, mich von den Kellnern fernzuhalten. Die wirkten selbstsicher und wussten offenbar, was sie taten. Man sollte sie nicht stören. Am Ende machte man noch irgendwas kaputt.

Also wandte ich mich den Musikern zu. Sie hatten auf dem Vorplatz des Hauses Verstärker aufgestellt. Einer der Bärtigen war gerade dabei, ein Mikrofon anzuschließen.

»He, Chef«, sagte er, als er mich kommen sah. »Wo gibt’s denn hier Strom?«

»Im Haus«, behauptete ich und deutete auf die Tür. Der Mann nickte und bewegte sich mit der Kabelrolle dem Eingang zu. Die anderen hatten ihre Instrumentenkoffer aus dem Wagen geholt; einer nahm gerade eine E-Gitarre heraus.

»Fangt ihr schon gleich an zu spielen?«, fragte ich. »Ich dachte, die Leute wollen noch auf die Rallye.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir bauen erst mal auf. So richtig los geht’s dann heute Abend.«

Der Mann kam mit leeren Händen zurück. Offenbar hatte es mit dem Stromanschluss hingehauen. Ich stellte mich unter die Kastanie am Haus und gab mich der sonnigen Landschaft hin, bis ich aus meinen Gedanken gerissen wurde.

Ein Stück weiter hinten näherte sich etwas Winziges, Knallrotes. Ein stupsnasiges Auto von der Größe einer Maus. Eine leuchtend rot lackierte Nussschale. Sinfonische Musik donnerte aus dem offenen Faltdach. Die Rentner sahen erstaunt auf. Mit Klassik-Konkurrenz hatten sie offenbar nicht gerechnet.

Es war ein wunderbar erhaltener Fiat 500. Ein alter, nicht die Retroversion, die inzwischen auf den Markt gekommen war. So einen hatte ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen. Die Musikanlage darin war wahrscheinlich neu.

Als der Wagen fast herangekommen war, stellte die blonde Fahrerin die Musik aus. Ihr Mund lächelte. Ob ihre Augen mitlächelten, konnte ich nicht erkennen, weil sie eine große Sonnenbrille mit runden schwarzen Gläsern trug, die ihr das Aussehen eines erstaunt dreinblickenden Käfers verlieh.

Im Schritttempo rollte sie näher und versuchte genau wie ich vorhin, auf den Vorplatz zu fahren, aber dort stand bereits der Transporter der Musiker. Ich beschloss, ein bisschen den Parkwächter zu spielen. Schließlich hatte Jutta mir aufgetragen, mich nützlich zu machen.

»Hier geht’s leider nicht weiter«, sagte ich. »Die Partygäste sollen hinten auf der Wiese parken. Sie müssen ein Stück zurücksetzen.«

Ich überlegte, ob sie überhaupt ein Partygast war. Aber das bunt verpackte Geschenk auf dem Beifahrersitz sprach dafür.

Sie drehte den Kopf und präsentierte mir dabei ihren hellen Nacken, der mich von ihren langen Beinen ablenkte, die ich, seit ich an das Auto herangetreten war, ausgiebig bewundern konnte. Ein fast unverschämt kurzer weißer Baumwollrock mit roten, blauen und gelben Blumen umschmeichelte ihre Oberschenkel. Ihre nackten Füße steckten in schwarzen Sandalen, wie sie gerade modern waren: mit bis zur Wade hochgeschnürten Riemen, als habe sie sie auf dem Markt von Asterix’ Dorf erworben und mit Sesterzen bezahlt.

»Würden Sie mich bitte einweisen?« Die Stimme klang golden und weich. Wie Honig.

Sie schob die Sonnenbrille hoch, als wolle sie mich genauer unter die Lupe nehmen; dabei wurde ihr Lächeln intensiver. Es wirkte belustigt, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen, könne sich aber gerade noch so beherrschen. Ein heiterer Blick aufs Leben, dachte ich. So was konnte man nur beneiden.

Wer sie wohl war? Jutta hatte mir vor allen Dingen Namen von Leuten vorgelesen, die mindestens so alt waren wie sie. Diese Frau hier war deutlich jünger.

Lautes Gehupe ertönte. Hinter dem roten Fiat war ein weiterer Wagen aufgetaucht. Ein Taxi. »Ich mach das schon«, rief ich der Blondine zu. Dann gab ich dem Taxifahrer ein Zeichen: Zurücksetzen. Auf dem Feldweg, der auf das Grundstück führte, wurden in der Ferne weitere Fahrzeuge sichtbar.

»Was ist denn hier los?« Jutta stand plötzlich neben mir.

»Du hättest mich als Parkwächter engagieren sollen, nicht als Mappenverteiler«, sagte ich.

Ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas sagen wollte, doch dann bemerkte sie die blonde Frau. Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie wandte sich ab und winkte in das Taxi hinein, auf dessen Rücksitz ein älteres Ehepaar saß. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie würde mich gleich anschnauzen, weil ich ihrer Meinung nach etwas falsch gemacht hatte. Es gelang mir -nach meiner Ansicht bravourös - das Taxi zur Seite zu dirigieren, damit die rote Kugel mit aufknatterndem Motor zurücksetzen und auf die Wiese fahren konnte. Wo ich schon mal dabei war, wies ich auch die anderen Neuankömmlinge auf den improvisierten Parkplatz, während Jutta nach und nach alle Aussteigenden begrüßte.

Ich kam mir super vor und genoss den Anblick der Blondine, die - ihre Sonnenbrille immer noch nach oben geschoben - gemächlich ausstieg, weitere ausgiebige Blicke auf ihre Beine ermöglichte und mit dem Geschenk unter dem Arm auf Jutta zustakste.

Das Taxi wendete umständlich und trat den Rückweg an. Neue Autos kamen an. Die Kellner waren damit beschäftigt, Getränke zu servieren. Es sah etwas seltsam aus, wie sie in ihren weißen Hemden und schwarzen Hosen zwischen den Obstbäumen umherliefen und ihre Tabletts balancierten. Man vermisste das Schloss oder das Schlosshotel.

Ich hielt mich zurück. Jutta war mit Begrüßen, Händeschütteln, Küsschengeben und Ein-nettes-Gesicht-Machen beschäftigt. Einen alkoholfreien orangefarbenen Cocktail in der Hand, hörte ich mit halbem Ohr hin und bekam mit, dass die Gäste aus dem Taxi Siegfried Mathisen und seine Frau waren. Der Mann gehörte für mich zum Typ ältlicher Schwerenöter: Dünnes, langes, nach hinten gekämmtes Haar; die Sonnenbrille war nicht hochgeschoben, sondern hing im Ausschnitt eines schwarzen Designer T-Shirts, das Jackett seines hellen Sommeranzugs hatte er sich leger über die Schulter gelegt. Seine Stimme schallte laut und dominant über die ganze Wiese.

Ein lächerliches Detail fiel mir auf: Er trug gleich zwei goldglänzende Armbanduhren. An jedem Handgelenk eine. So was hatte ich bisher nur einmal gesehen: bei dem argentinischen Fußballstar Diego Maradona.

Ich tippte auf Schauspieler oder so was und trank weiter meinen Cocktail.

Als Dr. Heimlich mit seiner Frau auftauchte, begrüßte ich ihn kurz. Aber dann wurde er von Mathisen abgelenkt und kümmerte sich nicht mehr um mich. Es ging um irgendwelche Aufführungen im Ausland. An Opernhäusern. Aha. Nicht Schauspieler, sondern Sänger.

Es füllte sich. Ich hielt mich abseits. Bald war ich ja dran mit meiner großartigen Funktion, die Mappen zu verteilen.

Ich näherte mich der Einsatzzentrale und beschloss, mir anzusehen, welche Aufgaben Jutta den Rallyeteilnehmern so aufgebrummt hatte. Doch dazu kam es nicht.

Kaum hatte ich mich über den Tisch gebeugt, packte mich jemand so hart am Arm, dass ich beinahe meinen Cocktail verschüttet hätte. Es war Jutta.

»Wir haben ein Problem.«

»Deswegen musst du mir nicht gleich den Arm brechen. Was ist denn los?«

»Es ist jemand gekommen, der nicht vorgesehen war.«

»Ein ungebetener Gast? Wie kann das denn passieren?«

»Na ja - eigentlich nicht ungebeten. Aber sie hatte auf die Einladung nicht geantwortet, deshalb dachte ich, sie kommt nicht. Und jetzt ist sie da … Meine Güte, ist das peinlich. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.«

»Aber wieso? Hast du nicht genug zu essen bestellt?«

»Es geht nicht ums Essen, Remi! Es geht um die Rallye! Die Teams sind genau eingeteilt. Alles ist geplant. Und wenn eine Person mehr da ist, geht es nicht mehr auf.«

»Hm - aber hättest du nicht eh ein Auto zu wenig gehabt? Mathisen und seine Frau sind mit dem Taxi gekommen.«

»Blödsinn, das ist geklärt. Sie nehmen dein Auto.«

»Wie bitte?«

»Oder eben meins. Mensch, das ist doch egal. Es geht um was ganz anderes. Wir haben eine Person zu viel.«

»Wer ist es denn überhaupt?«

»Yvonne. Dass die auch einfach so hierherkommt … Was mach ich nur? Ich kann ihr ja schlecht sagen, dass sie nicht mitfahren darf. Oder soll ich ein Dreierteam losschicken? Das wirkt auch irgendwie komisch. Und dann sind die ja im Vorteil … es wäre ungerecht.« Jutta sah sich nervös zu den Gästen um. Alle schienen sich gut zu unterhalten. Niemand hatte bemerkt, dass sich die Gastgeberin kurz abgesetzt hatte. Die blonde Frau aus dem Faltdach-Fiat sprach gerade mit den Mathisens. Sie lächelte den alten Galan genauso an, wie sie es mit mir gemacht hatte.

Plötzlich kam mir eine Erkenntnis.

»Lass mich raten. Yvonne ist die Blondine aus dem roten Fiat.«

»Das Blondchen, ja.« Jutta wirkte giftig.

»Also, mir gefällt sie.«

Sie seufzte. »Ist mir klar, aber das tut nichts zur Sache. Ich muss jetzt meine kleine Ansprache halten, dann machen wir die Auslosung. Und dann müssen wir umorganisieren. Aber wie?«

»Lad sie doch wieder aus. Ich übernehme gerne den Rausschmiss. Vielleicht kann ich sie zum Trost irgendwo zum Essen einladen. Auf deine Kosten natürlich.«

»Wegen ihr ist es mir egal. Aber was sollen die anderen denken, wenn ich einen Gast von der Party verweise? Sie ist ja jetzt schon der Mittelpunkt der Veranstaltung.«

Jutta hatte recht. Vor allem die Herren hatten sich um sie geschart und erfreuten sich des schönen Anblicks, den eine freundliche, wohlproportionierte Blondine im Minirock und einem Top mit Spaghettiträgern nun mal bot.

»Lass ihnen doch ihren Spaß«, erklärte ich und meinte damit eigentlich mich.

»Remi, das hilft mir jetzt auch nicht weiter.«

»Wir könnten sie ja in einem unbemerkten Moment ins Haus schleppen, dort einsperren und den anderen sagen, sie sei krank geworden.«

Juttas Blick verfinsterte sich. Witze waren nicht angebracht.

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte ich.

»Da bin ich mal gespannt.«

Vor mir schien sich plötzlich ein Fenster zu öffnen. Der Tag war gerettet. Die Welt war wunderbar. Wenn ich es geschickt anstellte, würde ich nicht hier in der sogenannten Einsatzzentrale rumhängen und mich langweilen, sondern …

Vor meinem inneren Auge entfalteten sich herrliche Bilder. Die grünen Hügel des Bergischen Landes. Der strahlend blaue Himmel. Der Wind in den Haaren dieser … wie hieß sie noch mal?

Yvonne.

»Sag schon«, drängelte Jutta.

Mir wurde klar, dass ich in letzter Zeit zu Tagträumen neigte. Das musste an meinem abgeschiedenen Leben liegen. Schließlich war ich von Natur aus ein einsamer Wolf. Den niemand vermisste und der manchmal einfach im Dunkel verschwand, um irgendwann wieder aufzutauchen. Entweder in den weiten Wäldern zwischen Gummersbach und Wuppertal oder in den Vorstädten von Leverkusen oder Solingen …

»Hallo! Jutta an Remi! Bist du noch da?«

Ich holte tief Luft und sagte: »Ich werde an der Rallye teilnehmen.«

»Was? Das ist aber so nicht vorgesehen.«

»Es war ja auch nicht geplant, dass Yvonne auftaucht.«

»Sei leise.« Jutta sah nervös zu den Gästen hinüber. Einige waren mittlerweile auf unsere Lagebesprechung aufmerksam geworden und prosteten in unsere Richtung. Mathisen rief sogar etwas. Wegen seiner lauten Stimme war es gut zu verstehen.

»Jutta, wo bleibst du? Leiste uns Gesellschaft!« Er hob das Glas. Die Sonnenbrille hatte den Ausschnitt des T-Shirts verlassen und saß auf seiner Nase. Jetzt wirkte er wie ein alternder Mafioso.

Jutta lächelte zurück. Dann wandte sie sich wieder mir zu, und ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich blitzschnell in den eines Polizisten, der einen Verdächtigen in der Mangel hat.

»Das gefällt mir nicht«, sagte sie.

»Aber warum? Es wäre die unauffälligste Methode.«

»Also gut«, sagte sie schließlich. »Ich habe keine Wahl. Fangen wir an. Hier habe ich die Auslosung vorbereitet.«

Sie ging um den Tisch herum und zeigte auf zwei Sektkühler. In jedem lagen zusammengefaltete Zettel. »Einen für die Damen, einen für die Herren«, erklärte sie. »Jeder zieht einen Zettel und findet den Namen des Partners oder der Partnerin.«

»Vergiss es.«

»Was? Ich denke, wir sind uns einig.«

»Sind wir ja auch. Bis auf ein kleines Detail. Es wird keine Auslosung geben.«

»Wieso das denn? Es funktioniert doch. Ich muss nur deinen und Yvonnes Namen hinzufügen. Wenn du Glück hast, landest du neben Hermine Weißenburg, die Ehefrau von Siegfried Mathisen. Sie ist sehr gebildet. Du wirst dich prächtig mit ihr unterhalten. Sie hat eine große Agentur für klassische Musik.«

»Nein.«

Sie wurde hektisch. »Remi, du hast versprochen, mitzumachen und mir zu helfen.«

»Das tue ich ja. Ich will bloß, dass es keine Auslosung gibt. Das ist meine Bedingung. Du gehst jetzt hin, schreibst die Namen der Teilnehmer auf und stellst die Paare selbst zusammen. Damit verhinderst du übrigens auch, dass eventuell Ehepaare ein Team bilden. Das wolltest du doch so. Und mich«, fügte ich triumphierend hinzu, »mich teilst du bitte als Partner von Yvonne ein.«

»So hast du dir das gedacht.«

»Mach schon. Ich mische mich unter die Gäste und gebe bekannt, dass es gleich losgeht.«

»Ist das dein letztes Wort?«

Von hinten meldeten sich Stimmen: »Jutta, wenn du nicht bald kommst, haben wir alles ohne dich ausgetrunken.«

»Mein allerletztes«, erklärte ich.

Jutta murmelte etwas vor sich hin. Ich verstand es nicht genau, aber es kam irgendwas von »Blondine« und »schwanzgesteuert« oder so was in der Art darin vor.

Ich ließ die Einsatzzentrale hinter mir und näherte mich strahlend den Menschen, die erwartungsfroh die Wiese füllten. Yvonne stand jetzt etwas abseits. Offenbar hatten die Ehefrauen ihre besseren Hälften an die Kandare genommen, um sie von ihr fernzuhalten. Sie schien nicht darunter zu leiden und sah mich fröhlich an, das Cocktailglas in der rechten Hand.

Und sie lächelte, lächelte, lächelte. Es war wohl ihr ganz natürlicher Gesichtsausdruck. Als ob sie auf die Welt gekommen wäre, um Sonnenschein zu verbreiten.

»Liebe Gäste«, begann ich meine Ansprache mit einer Souveränität, die mich selbst erstaunte. »Liebe Gäste, während Jutta noch die letzten Vorbereitungen für die spannende Rundfahrt durchs Bergische trifft, zu der sie Sie alle eingeladen hat und zu der ich Sie herzlich begrüße - eine Rundfahrt, die uns allen viel Spaß machen wird, denn sie ist mit Aufgaben verbunden, wie sie eine Rallye so an sich hat, und es wird Teams geben, wobei immer zwei Leute in einem Auto …« Ich stockte, weil mir klar wurde, dass ich den Satz irgendwie vermasselt hatte und nicht mehr wusste, wie er losgegangen war. Yvonne hatte Spiel- und Standbein gewechselt. Ein laues Lüftchen wehte und erfasste den Saum ihres Rocks. Ihr Blick war die pure Aufforderung. Wozu auch immer.

»Jedenfalls …« Ich räusperte mich. »Mein Name ist übrigens Remigius Rott. Ich bin Juttas Neffe. Ich glaube, ich bin vielen von Ihnen noch nicht vorgestellt worden. Und es wird sicher Gelegenheit geben, dass man sich heute näher kennenlernt…«

Irrte ich mich, oder hatte Yvonne bei dieser Bemerkung das Glas etwas angehoben, als wollte sie mir zuprosten?

Ich musste ein drittes Mal anfangen.

»Ich wünsche uns allen einen schönen Tag. Wie gesagt, ich heiße Remigius Rott, und ich bin sehr glücklich, dass …«

»Fertig!«, schrie Jutta von hinten, und die ganze Gesellschaft brach in Gelächter aus. Auch Yvonne. Sie musste sogar die Hand vor den Mund halten, weil sie ein Hustenanfall schüttelte. Wahrscheinlich hatte sie sich verschluckt. Die Kellner, die meine Ansprache duldsam ertragen hatten, standen im Hintergrund und grinsten sich eins.

Jutta kam mit dem Stapel Mappen aus der Einsatzzentrale und raunte mir etwas zu, das ich nicht verstand.

»Gleich geht’s los«, rief sie. »Jedes Team bekommt eine Mappe.« Und zu mir, leiser: »Hast du verstanden? Geh schon!«

»Nein, ich habe nichts verstanden«, raunte ich zurück. »Was willst du?«

»Geh ins Haus und kopier eine. Ich rede noch ein bisschen. Nimm alles mit, damit es nicht auffällt.«

Der Groschen fiel. Wir hatten jetzt ein Team mehr und mussten natürlich auch eine zusätzliche Mappe haben. Ich marschierte mit den Unterlagen auf das Haus zu.

Hier sollte es einen Kopierer geben? In dem alten Bauernhaus?

Mir fiel ein, dass Jutta einen Mieter erwähnt hatte.

Fast hätte ich mir im unteren schmalen Flur den Kopf angeschlagen, so niedrig war es hier. Ich checkte das Erdgeschoss. Links lag eine kleine, bemerkenswert modern eingerichtete Küche, an die ich mich noch von meinem letzten Aufenthalt erinnern konnte. Auf der anderen Seite ging es in ein winziges Wohnzimmer. Es war eher ein Büro. Mit einem Schreibtisch aus hellem Holz, einem modernen Telefon, Fax und Kopierer.

Durch die offene Tür hinter mir hörte ich Jutta immer noch reden. Ich machte rasch die Kopien und fand sogar einen Locher und einen Schnellhefter, der so ähnlich aussah wie die anderen.

Als ich zurückkam, gab Jutta gerade die Zusammensetzung der Teams bekannt.

Jede Entscheidung der Rallyeleitung wurde mit Applaus begrüßt. Gerade wurde Dr. Heimlich Hermine Weißenburg zugeteilt.

Vorfreude erfasste mich, als Jutta endlich meinen Namen vorlas und erklärte, wer meine Partnerin sein würde. Aus dem Mund der verbliebenen Herren kam ein kaum unterdrückter Laut der Enttäuschung. Wie unritterlich den restlichen Damen gegenüber, dachte ich.

Ich ging zu Yvonne, die immer noch abseits der Gruppe stand, und stellte mich vor.

»Remigius Rott«, sagte ich. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte, und fügte hinzu: »Ob wir gewinnen?«

»Haben wir jetzt schon«, sagte sie. »Sie zumindest.«

Wie meinte sie das denn? Etwa so, wie ich dachte, dass sie es meinte?

»Man liest Ihnen alles von den Augen ab, wussten Sie das? Reden scheint nicht gerade Ihre Stärke zu sein. Lassen wir das Siezen. Und lass auch das Ypsilon weg.«

»Welches Ypsilon?«

»Das in meinem Namen.«

»Wird er mit I geschrieben?«

Sie sah mich mit ihrer unbändigen Fröhlichkeit an und schüttelte den Kopf. »Du bist aber schwer von Begriff.«

»Wieso? Yvonne - ohne Ypsilon.«

»Gibt was?«

»Vonne?«

»Genau.« Sie lächelte. »So werde ich am liebsten genannt.«

Vonne, dachte ich. Vonne wie Wonne.

Es passte so gut, als würde ein Schloss einrasten.

»Remi«, sagte ich heiser, »nennen mich meine Freunde.«

»Du bist der Detektiv, stimmt’s?«

»Stimmt. Nicht der richtige Beruf für jemanden, dem man alles von den Augen abliest«, sagte ich in gespielter Entrüstung. »Und der nichts kapiert.«

Sie nickte, und ihr Lächeln riss nicht ab.

Ich ließ mich anstecken. Die Welt war heiter. Und ich war mittendrin.

»Da habe ich ja verdammtes Glück gehabt«, sagte sie. »Aber du hast dran gedreht, oder?«

Jemand rempelte mich an. Jutta. »Hier, eure Mappe. Viel Spaß.« Es klang ironisch.

»Haben wir unter Garantie«, sagte Wonne, ohne Jutta anzublicken. Stattdessen nahm sie die Sonnenbrille ab, schob den einen Bügel in den Mund und betrachtete mich ein Weilchen.

Plötzlich spürte ich die stechende Sonne.

Nach endlosen Sekunden nickte Wonne in Richtung Parkplatz. »Nun komm schon«, sagte sie schließlich. »Fangen wir an.« Sie ging davon.

Ich folgte ihr und bekam mit jedem Schritt weichere Knie.