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Sechseinhalb Jahre früher

Tal der Könige

»Dein heimlicher Verehrer ist wieder da.«

Kat hievte ihren Rucksack auf eine Werkbank vor der Grabstätte und klappte das Oberteil auf. Ihr Schädel dröhnte, weil sie in der Nacht zuvor nicht genug geschlafen hatte und wegen der unerbittlichen Hitze, an die sie sich auch nach drei Monaten immer noch nicht gewöhnt hatte. Sie drückte zwei Ibuprofen aus der Verpackung und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. »Er ist nicht mein Verehrer.«

Shannon Driscoll verdrehte die Augen und suchte das Werkzeug für den heutigen Arbeitstag zusammen. »Das fünfte Mal in Folge, dass er die Führung gebucht hat. Ich würde das einen Verehrer nennen.«

»Das vierte. Und mit dieser Meinung stehst du allein da.«

»Du vergisst Sonntag. Da war er hier, und als er feststellte, dass du die Gruppe nicht führen würdest, ging er wieder.«

Kat sah ihre Zimmergenossin finster an und nahm ihren Hut ab. »Zufall. Und ganz nebenbei: Selbst wenn er meinetwegen hier wäre was nicht der Fall ist «, sagte sie mit einem eindringlichen Blick, »ich bin nicht interessiert. Mit diesem Mann stimmt ganz offensichtlich etwas nicht. Entweder das, oder er ist hinter etwas Bestimmtem her.«

»Das glaube ich auch«, murmelte Shannon. Ihr blondes Haar fiel ihr über die Schulter, als sie nach einer Hacke griff. »Und ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was dieses Bestimmte ist. Übrigens hast du Dreck an der Backe.«

Kat schnellte herum und rieb sich mit der Handfläche übers Gesicht. »Wo? Hier? Ist es weg?«

Shannon bog sich vor Lachen. »Ja. Und nur fürs Protokoll: Ich kauf dir das mit dem nicht interessiert voll und ganz ab! Bis nachher, nach deiner Führung mit deinem Loverboy.«

Kat blickte wieder finster drein, während Shannon den Hang hinunter auf Dr. Latham zulief, den Leiter der Ausgrabungsstätte, der mit dem Klemmbrett in der Hand, seinem getreuen Begleiter, Aufgaben für den Tag verteilte. Typisch: Kat war für die Touristenführungen eingeteilt schon wieder –, ganz wie es sich für eine Arbeitssklavin wie sie gehörte.

Mann, wenn das kein spannender Job war! Sie liebte die Ausgrabungen und die Forschung, aber sich um den Öffentlichkeitskram zu kümmern, ging ihr ziemlich auf den Wecker. Hin und wieder war das ja ganz nett. Aber mehrere Tage am Stück? Nein danke!

Sie gab es ungern zu, aber sosehr sie es auch genoss, Teil dieses Projektes zu sein, freute sie sich wirklich darauf, fertig zu werden und hier wegzukommen. Vor allem in letzter Zeit. Die Spannungen an der Grabungsstätte waren groß. Mehrere Stücke, die sie in den letzten Monaten ausgegraben hatten, waren auf mysteriöse Weise verschwunden. Innerhalb der Crew herrschte die einhellige Meinung, dass sie einfach nur falsch katalogisiert worden waren, aber Kat war sich da nicht so sicher.

Sie seufzte tief, wischte sich den Staub von der Stirn und nahm sich vor, sich nicht allzu viele Sorgen deswegen zu machen. Ohne Beweise konnte sie ohnehin nicht viel dagegen unternehmen, und wie ihr Kollege Sawil ihr wiederholt ins Gedächtnis gerufen hatte, war sie auch nicht dafür verantwortlich. Insbesondere, weil sie nichts weiter war als eine Arbeitsbiene. Am allermeisten wünschte sie sich, bald ihre Doktorarbeit abzuschließen. Und sie wollte für ein paar Wochen nach Hause fahren, um ihre Mutter zu besuchen. Es war schon viel zu lange her.

Weil sie wusste, dass sie darauf noch mindestens ein paar Monate warten musste, schnaufte sie frustriert und klatschte sich den Hut wieder auf den Kopf. Dann drehte sie sich zu der Touristengruppe um, die fünfzig Meter entfernt auf ihre Führerin wartete. Und genau wie Shannon gesagt hatte, war dieser sexy Amerikaner wieder da und drückte sich im hinteren Teil der Gruppe herum. Wie bisher jedes Mal in den letzten vier – oder vielmehr fünf – Tagen.

Er gehörte zu den Typen, die einem Mädchen höchstens dann nicht auffielen, wenn es mit Blindheit geschlagen war. Groß, blond, wahnsinnig gut aussehend. Seine Augen waren von einem seltsamen Grauton. Heute trug er ein weißes, kurzärmeliges Freizeithemd und Kakihosen, dazu abgewetzte Stiefel, die aussahen, als seien sie schon ziemlich weit herumgekommen.

Er war kein Tourist. Darauf würde sie die Gebühren für ihr Aufbaustudium verwetten. Wenn er auch die nötige Ausrüstung hatte – schicker neuer Hut, glänzende Kamera und eine Karte des Tals in der hinteren Hosentasche –, die Schuhe verrieten ihn. Genauso wie das Selbstvertrauen und die berechnende Gelassenheit, die ihn umgaben. Er wechselte kaum ein Wort mit jemandem, hielt sich immer im Hintergrund und betrachtete alles mit Argusaugen, denen zweifellos nichts entging. Und sie wusste es, weil sie ihn genauestens beobachtet hatte, wie er alles andere eingehend studiert hatte.

Klar, er war nett anzusehen, aber der Kerl war hinter irgendetwas her. Etwas ganz Bestimmtem, wie Kat es nur wenige Augenblicke zuvor zu Shannon gesagt hatte. Und mit Sicherheit war es nicht sie.

Heute wollte sie herausfinden, was es war.

Sie tauchte unvermittelt hinter ihm auf und tippte ihm auf die Schulter. »Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Er drehte sich zu ihr um, und die Überraschung, die sie in seinem Gesicht zu sehen gehofft hatte, blieb aus.

Verdammt! Er hatte mit ihr gerechnet.

»Dr. Meyer. Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«

»Ja sicher. Hören Sie, Mr –«

»Kauffman. Peter Kauffman. Aber meine Freunde nennen mich Pete.«

»Schön. Mr Kauffman, was ich sagen wollte. Ich bin sicher, Sie könnten die Führung mittlerweile selber leiten.« Sie unterbrach sich, um Luft zu holen, und erst als er sie mit der ganzen Wucht seiner Augen traf, bemerkte sie, dass sie nicht einfach nur grau waren, sondern regelrechte Wirbel von rauchigem Blaugrau, die sie an einen Hurrikan in der Karibik erinnerten. Und was ebenso verrückt war: Sie ließen vor ihrem geistigen Auge sie selbst in einem Clubsessel an einem flimmernden Sandstrand auftauchen und ihr gegenüber diesen Kerl, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.

Diese faszinierenden Augen glitten ihren ganzen Körper hinunter. Verweilten auf ihrem schweißnassen Hemd, das ihr an der jetzt schon aufgeheizten Haut klebte. Und dass ihr angesichts seiner offenkundigen Verehrung augenblicklich das Blut ins Gesicht schoss, rief ihr deutlich ins Bewusstsein, dass sie, selbst in dieser Bullenhitze, auch eine Frau war und nicht nur Wissenschaftlerin.

Eine Erkenntnis, die zu keinem unpassenderen Zeitpunkt hätte kommen können.

Seine Augenbrauen hoben sich langsam. »Bieten Sie mir etwa einen Job an, Dr. Meyer?«

Sie schluckte, als sie den erotischen Klang seiner Stimme hörte. Weich und tief und noch viel besser, als sie erwartet hätte. Verflucht! Diese Stimme würde ihre bereits außer Kontrolle geratenen Fantasien nur noch anfachen.

Sie verpasste sich im Geist eine Ohrfeige. »Nein, eigentlich nicht. Und ich bin nicht promoviert. Jedenfalls noch nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass Sie hier nichts Neues mehr erfahren werden. Daher sollten Sie Ihre Zeit vielleicht besser nutzen, indem Sie wieder nach Kairo fahren. Die Führungen in die Pyramiden sind verblüffend –«

»Ich habe diese Führungen gemacht. Sie sind nicht annähernd so interessant wie das hier. Glauben Sie mir.«

Oh Mann! Schon allein, wie er sie mit diesem Funkeln in den Augen und diesem Halbgrinsen ansah, ließ sie an Sex denken. Was jetzt gerade denkbar ungünstig war.

Denk daran, er ist kein Tourist!

»Mr –«

»Pete.« Ehe sie protestieren konnte, hatte er ihre rechte Hand ergriffen, fuhr sanft mit seinen Fingern über ihre Handfläche und senkte den Blick auf die Stelle, wo er sie festhielt. »Ihre Haut ist zart. Viel zarter, als ich erwartet hätte, wenn man bedenkt, wie viel Zeit Sie hier draußen verbringen.«

»Ich « Was machte er da nur! Obwohl es zig Millionen Grad heiß war, lief es ihr eiskalt den Rücken runter. »Ich benutze viel Feuchtigkeitscreme«, brachte sie hervor, ehe ihr klar wurde, wie dämlich sich das anhörte. »Also, bei der Arbeit hier draußen.«

Na toll! Jetzt klang sie wie eine komplette Idiotin.

»Ich würde gern alles darüber hören.«

Verärgert über sich selbst, blickte sie zu ihm hoch, um ihm ihre Meinung zu sagen. Aber dann verschlug es ihr die Sprache, als sie dieses Ziehen spürte. Dasselbe, das sie in den letzten Tagen jedes Mal verspürt hatte, wenn er sie angesehen hatte. Dasselbe, das ihren Magen Purzelbäume schlagen und ihr Herz in ihrer Brust Bocksprünge zum Takt einer Marschkapelle machen ließ.

»Das haben Sie doch schon«, brachte sie schließlich hervor. »Sie haben diese Woche jeden Tag etwas darüber gehört.«

Da lächelte er, und seine Lippen bildeten langsam eine lässige Kurve, die ein tiefes Grübchen in seiner linken Wange zum Vorschein brachte.

Oh Mann! Der Kerl hatte Grübchen. Jetzt saß sie richtig in der Klemme.

Seine Finger beschrieben gemächlich einen Kreis in ihrer Handfläche. Die winzige Bewegung jagte Stromstöße ihren Arm hinauf und direkt in ihren Bauch. »Ich will mehr über Sie hören.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute –«

»Vertrauen Sie mir.« Er schielte auf ihr Namensschild und blickte ihr dann wieder ins Gesicht. »Katherine.«

Sie schluckte. Unfähig, ihre Hand wegzuziehen oder zurückzuweichen, als er einen Schritt näher kam. Die Leute beobachteten sie, aber eigentlich machte es ihr gar nichts aus. Verdammt, er roch auch noch gut. Sauber, frisch. Nach einem Hauch von Leder und irgendetwas Würzigem. Sie kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu schließen und tief seinen Duft einzuatmen.

»Normalerweise werde ich Kat genannt.« Warum erzählte sie ihm das? »Von meinen Freunden. Nicht von, na ja. Von jedem.«

Großer Gott, sie verlor völlig die Kontrolle!

»Kat. Ja, das ist besser. Passt zu Ihnen.« Er kam noch näher. »Aber noch besser gefällt mir Kit-Kat.«

Warum hörte sich dieser bescheuerte Spitzname aus seinem Mund bloß so verdammt sexy an?

»Wissen Sie, Pete. Ähm. Mr Kauffman.« Wow! Der Klang seines Vornamens gefiel ihr viel zu gut. »Sie scheinen ein netter Kerl zu sein.« Grundgütiger, sie würde für diese Lüge in der Hölle schmoren! Er erschien ihr wie ein Sexgott und absolut nicht wie ein netter Kerl. »Und ich fühle mich geschmeichelt. Wirklich. Aber, ähm, ich denke, Sie haben eine falsche Vorstellung von mir.«

»Und welche Vorstellung sollte das sein, Ms Meyer?«

Das Funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass er versuchte, sie zu ködern, und ein Teil von ihr wollte das Spiel fortsetzen. Aber der gesunde Menschenverstand übernahm die Kontrolle. »Ich arbeite hier.«

Er musterte sie eine Weile. »Wissen Sie was? Sehe ich es richtig, dass ich Sie ablenke und Sie es vorziehen würden, wenn ich nicht mehr an Ihrer Grabungsstätte herumlungerte?«

Sie nickte langsam, nicht ganz sicher, worauf er hinauswollte.

»Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag.« Er lächelte wieder, ließ ihre Hand los, und Kat wollte verflucht sein, wenn dieses Grübchen ihr nicht zuzwinkerte. »Gehen Sie heute Abend mit mir essen!«

»Was?«

»Essen. Mit mir. Heute Abend. Ich bestimme, wo. Wenn Sie das tun, höre ich auf, Sie zu belästigen. Wenn Sie Nein sagen, nun, dann « Er zuckte mit den Achseln und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Dann werde ich diese Führung wohl so lange mitmachen müssen, bis Sie es sich anders überlegen.«

Dieser Mann hatte den Verstand verloren. Er war bereit, ihre langweilige Führung und diese Bruthitze zu ertragen, nur um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen? Deswegen war er hier?

Shannon hatte also doch recht gehabt.

»Also?«

Sie hob die Hand, um die Kette zu berühren, die um ihren Hals hing und unter ihrem Hemd verschwand, während sie in seine fesselnden Augen starrte. Sie sollte Nein sagen, aber jeder Kerl, der all das auf sich nahm, hatte es verdient, dass man ihm zumindest einen Knochen hinwarf. Und schließlich ging es nur um ein Abendessen.

Ein einziges Essen würde ja nicht gleich ihr Leben verändern.

Gegenwart

Kairo, Ägypten

Omar Kamil war nicht erfreut über die Unterbrechung.

Er hatte sich gerade über Rehemas schlanken, nackten Körper gebeugt und griff nun nach dem Mobiltelefon, das er, für den Fall, dass es etwas Dringendes gab, auf den Nachttisch gelegt hatte. Er hielt sich nicht damit auf, nach der Nummer zu sehen, stattdessen schnippte er es auf und knurrte, »Matha?«

»Es tut sich etwas.«

Augenblicklich galt seine ganze Aufmerksamkeit der Englisch sprechenden Stimme mit dem starken Akzent am anderen Ende der Leitung, und er setzte sich auf.

Busir.

»Schieß los«, sagte er ebenfalls auf Englisch.

»Sie hat auf der Auktion ihre Deckung aufgegeben. Du hattest recht.«

Das wurde auch verdammt noch mal Zeit.

Omar atmete hörbar aus und lehnte sich an das kunstvoll geschnitzte Kopfende seines Bettes in der Nil-Suite des Four Seasons in Kairo. Vor dem gegenüberliegenden Fenster rahmten Palmen den Blick auf die in der Nachmittagssonne funkelnden Hochhäuser am anderen Flussufer ein. Noch vor wenigen Minuten hätte er sich einen Dreck um die Aussicht geschert. Aber jetzt schien sie ihm das herrlichste Bild, das er je gesehen hatte.

Sechs verfluchte Jahre hatte er auf diesen Anruf gewartet.

Rehema ließ ihre Hand über seinen Unterleib gleiten, lächelte lüstern und presste ihre Lippen auf seinen Bauchnabel. Als sie sich abwenden wollte, wohl um ihn in Ruhe telefonieren zu lassen, fuhr er ihr mit den Fingern ins lange schwarze Haar und zog ihren Kopf wieder zu seinem Bauch. Er würde sie nicht weglassen, nicht jetzt, da ihm nach Feiern war. Und schon gar nicht, da sie nicht ein Wort Englisch verstand.

Sie wusste genau, was er wollte, glitt tiefer und nahm ihn in den Mund. Das Stöhnen, das seinen Lippen entfuhr, war der reine Triumph.

»Wo haltet ihr sie gefangen?«, fragte er mit entspannter Stimme.

»Gar nicht.«

Er setzte sich abrupt auf. »Was?«

Rehema würgte und fiel rücklings auf die Matratze. Ihr Körper wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, doch Omar nahm kaum Notiz davon. Er sprang vom Bett auf und trat, nackt wie er war, ans Fenster. »Was für ein Vollidiot bist du eigentlich? Sie taucht endlich auf, und du verlierst sie? Von allen gottverdammten –«

»Es gab einen Zwischenfall. Aber der Wagen, den sie fährt, hat einen GPS-Peilsender. Die vom Limousinen-Service sind absolute Sicherheitsfanatiker. Wir haben schon jemanden auf sie angesetzt und ihren Aufenthaltsort eingegrenzt. Es ist nur noch eine Frage von Stunden, bis wir sie gefasst haben.«

Omar spürte, wie das Blut in seinem Hirn pulsierte. Seine Hand zitterte, als er sich über die Stirn fuhr und sich die hervortretenden Schweißperlen fortwischte. Die Enge in seiner Brust machte es ihm schwer, Luft zu holen, und er konzentrierte sich darauf, tief durchzuatmen. Eins, zwei, drei.

Er konnte sich nicht noch einen Herzanfall wegen dieser Sache leisten. Nicht, nachdem er endlich seine Ernährung umgestellt und angefangen hatte, Sport zu treiben. Das Ergebnis war, dass er zehn verfluchte Kilo von seiner bulligen Statur abgenommen hatte, aber es war nicht sein Ziel gewesen abzunehmen, sondern am Leben zu bleiben. Er hatte zu lange und zu hart gearbeitet, um jetzt alles wegzuwerfen.

Als er sich sicher war, dass seine Stimme sich beruhigt hatte, sagte er: »Erklär mir mal, wie du sie in einer Limousine mitten in New York verloren hast. Sie ist eine Frau in einem Auto von der Größe eines verfluchten Bootes!«

So viel zum Thema ruhig. Er atmete noch einmal tief ein.

»Nach der Auktion war Hochbetrieb. Wir haben sie im Verkehr aus den Augen verloren. Aber wir wissen, wo sie ist.«

Er hatte es mit Schwachköpfen zu tun. Egal, welche Verbindungen sie hatten oder woher sie ihre Aufträge erhielten. Sie waren immer dieselben Schwachköpfe.

Zutiefst frustriert, rieb er sich mit der Hand über seinen kahl werdenden Kopf. »Das hast du schon erwähnt. Wenn das so ist, warum kaust du mir dann das Ohr ab, statt ihr zu folgen?«

»Ein Nor’easter ist über die Region gefegt. Straßen wurden gesperrt, und größtenteils ist der Strom ausgefallen. Sie hat sich versteckt gehalten, bis der Sturm vorbei war, aber wir sind an ihr dran. Wir werden sie und ihren Freund innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden haben.«

Ihren Freund.

Omar starrte hinaus auf die Stadt, in der er aufgewachsen war und die er mit jeder Faser seines Seins hasste. Peter Kauffman im Auge zu behalten, hatte sich schließlich ausgezahlt, so wie er es vorausgesagt hatte. Hatte der Mann gewusst, dass sie sich die ganze Zeit versteckt hatte? Hatte er vielleicht sogar von Anfang an mit ihr unter einer Decke gesteckt? Alles war möglich, aber eine Sache war gewiss: Den Antiquitätenhändler am Leben zu lassen, in der Hoffnung, dass er eines Tages als Köder herhalten würde, war ein wahrer Geniestreich gewesen.

Ein bösartiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Vierundzwanzig Stunden. Ein Tag, und dann würde er frei sein.

Wenn Katherine Meyer erst einmal sicher wieder in Ägypten war, konnte er über sie verfügen, wie er es sich sechs Jahre lang ausgemalt hatte.

Fragte sich nur noch, wer es tun würde. Sollte er sie erst Min­yawi überlassen? Oder würde er selbst die Tat an ihr verüben?

Tausend verschiedene Szenarien kamen ihm in den Sinn. Und jedes davon versetzte ihn in höchste Erregung.

Nord-Pennsylvania

Die bittere Kälte weckte ihn.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken und riss ihn aus dem Schlaf. Er blinzelte, machte die Augen auf und starrte in absolute Dunkelheit. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo oben und unten war. Dann nahm er das kühle Leder unter seiner Wange und das Gewicht seines Armes wahr, der unter seinem Körper eingeklemmt war.

Er stemmte sich langsam hoch und bereute die Bewegung augenblicklich. Das dumpfe Pochen, das er im Liegen hinter seinen Augen gespürt hatte, wuchs sich, als er sich aufrichtete, zum Gebrüll eines Dolphins-Spiels aus, und er schloss die Augen schnell wieder. Er rieb sich mit halb erfrorenen Fingern die Schläfen, um das Klopfen in seinem Schädel zu mildern, und zuckte zusammen, als der Schmerz seine Haut zu zerschneiden schien.

Was zum

Er zog die Hand zurück und versuchte angestrengt zu erkennen, was das Nasse an seinen Fingern war. Es fühlte sich klebrig und kalt an. Blut?

Okay, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen, war eine wirklich blöde Idee gewesen, obwohl er sich gar nicht erinnern konnte, noch etwas getrunken zu haben, nachdem er Maria an ihrer Wohnung abgesetzt hatte. Er musste irgendwie hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen sein. Wie auch immer, ein achtunddreißigjähriger Mann musste es eigentlich besser wissen.

Als er sicher war, dass ihm nicht wieder schwarz vor Augen wurde, öffnete er sie, und dann wurde ihm schnell klar, dass noch etwas nicht stimmte.

Er befand sich nach wie vor in der Limousine. Er konnte das kalte italienische Leder spüren, auf dem er lag, und den harten Boden an seinen Füßen. Er war in irgendeine Decke gehüllt. Er streckte eine Hand aus, um die Umgebung zu ertasten, und fühlte das Vinyl und das Holz um die Bar herum.

Er hielt inne und lauschte. Versuchte dahinterzukommen, was hier los war und warum eigentlich keine Stimmen oder Laute zu hören waren.

Wo war er? In einer Tiefgarage? Falls ja, wo war dann der Fahrer? Warum hatte man ihn ganz alleine hier zurückgelassen? Und wer hatte diese Decke über ihn gebreitet?

Sein Adrenalinpegel stieg rasant an, und er rutschte ein wenig dichter ans Fenster, formte mit seinen Händen einen Trichter an der Scheibe und spähte hinaus. Nichts. Seine Augen blickten in eine schwarze Leere.

Langsam und behutsam, weil sein Magen rebellierte, sobald er sich rührte, bewegte er sich zur anderen Seite des Fahrzeugs und wiederholte das Ganze. Durch das getönte Glas konnte er lediglich so etwas wie ein schwaches Licht erkennen, das irgendwo aus der Ferne zu kommen schien. Eine Tür? Anscheinend. Und sie stand einen Spaltbreit offen. Wenn das so war, dann war er eindeutig in einer Art Garage oder Gebäude.

Er rückte zur hinteren Tür des Mercedes, fand den Griff und drückte. Die Anstrengung verstärkte das Pochen in seinem Schädel noch ein bisschen mehr, und er ächzte. Als er das Fahrzeug verließ, fragte er sich, ob es nicht klüger gewesen wäre, drinnen zu bleiben. Es war eiskalt hier draußen.

Er verschränkte die Arme und zog sich die Smokingjacke fester um den Körper, um die Körperwärme nicht entweichen zu lassen, und ging langsam auf die Tür vor sich zu. Das Licht war sanft, wie von einer Lampe, und er spürte, dass der Nebenraum Wärme ausstrahlte, noch bevor er überhaupt die Türschwelle erreicht hatte.

Wärme war gut. Egal, was auf der anderen Seite der Tür war, alles war besser, als hierzubleiben und sich die Eier abzufrieren.

Er legte eine Hand auf das Holz, hauptsächlich, um sich festzuhalten, und stieß die Tür auf.

Es war eine Art Wohnung. Endlich hörte das Zimmer so lange auf, sich zu drehen, dass er in der hinteren Ecke einen Fernseher erkennen konnte. Heruntergekommene Möbel füllten den Raum. Sein schwankender Blick blieb an der Gestalt hängen, die zu einer Kugel zusammengerollt auf dem Sofa lag.

»Hey«, sagte er mit einer rauen Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte. Als die Gestalt sich rührte, räusperte er sich. Er würde irgendjemandem den Kopf abreißen, wenn er nicht schleunigst hier raus- und wieder in seine Suite im Waldorf kam. Dort rief schon ein Alka-Seltzer nach ihm. »Was zum Henker ist hier –«

Die Gestalt setzte sich kerzengerade auf, blinzelte ein paarmal und starrte ihn mit großen, braunen, erstaunten Augen an. Und plötzlich konnte er sich nicht mehr erinnern, was er eigentlich fragen wollte.

»Oh Mann!«, flüsterte er.

Das Blut wich ihm aus dem Kopf, geradewegs in seinen Unterleib, und ließ ihn schwindelnd und wankend zurück. Unmöglich, dass das wirklich passierte. Er war immer noch betrunken. Das war die einzige Erklärung. Er war noch benebelt von irgendwelchem ganz miesen Champagner und halluzinierte, denn das war nicht real. Er stand nicht der lebendigen Katherine Meyer gegenüber, denn die war tot.

Sie erhob sich langsam von der Couch.

Da es ihm die Sprache verschlagen hatte, konnte er sie nur anstarren, als sie mit ihren Händen über ihre Oberschenkel strich und vorsichtig einen Schritt auf ihn zumachte.

Sie sah aus wie Kat. Oder zumindest wie eine Variante von ihr. Das Haar dieser Frau war fast schwarz und kurz geschnitten wie das eines Jungen. Doch das Gesicht – Teufel noch eins! – das Gesicht war dasselbe. Dieselben großen Rehaugen, dieselben Schmolllippen, dasselbe dunkle Muttermal rechts über dem Mund.

»Pete. Du hast mich erschreckt. Ich alles okay mit dir?«

Sie hörte sich sogar so an wie sie. Ungläubig riss er die Augen auf.

Ihr Blick flog über sein Gesicht. »Du siehst etwas besser aus. Wie fühlst du dich?«

Wie er sich fühlte? Als hätte ihn gerade ein Bulldozer gerammt. Frontal.

Er schaffte es kaum, die Türklinke zu erwischen, um sich festzuhalten, bevor die Beine unter ihm nachgaben. Er machte den Mund auf, tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, und obwohl er versuchte, Worte zu formen, brachte er seine Lippen nicht dazu, sich zu bewegen.

Halluzinationen. Du halluzinierst, Mann. Das ist die einzige Erklärung.

»Ich habe versucht, dich zu bewegen, aber du warst schwer wie Blei, und, na ja, ich bin ein bisschen müde nach allem. Deshalb hab ich dir eine Decke gebracht und die Tür offen gelassen. Ich weiß, es ist kalt da draußen «

Ihr waren die Worte ausgegangen. Und sie hielt schnell den Mund, vermutlich, weil sie seinen mit Sicherheit fassungslosen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Dann biss sie sich mit den oberen Schneidezähnen auf die Unterlippe, genau wie Kat es immer getan hatte, wenn sie schüchtern oder wegen irgendetwas verunsichert war. »Ich schätze, du willst dich mit mir unterhalten. Man kann wohl behaupten, dass du ein wenig überrascht aussiehst.«

Überrascht?

Kein verdammtes bisschen.

Der Raum klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Er wusste, er würde umfallen wie ein Eins-a-Schlappschwanz, doch er konnte nichts dagegen tun. Vor seinen Augen verschwamm alles und wurde dunkel, bis nur noch Rabenschwärze übrig blieb und der Klang einer Stimme, die er niemals vergessen konnte.