12

Gegenwart

Philadelphia

In einer heruntergekommenen Wohnung im Herzen Philadelphias ließ Dean Bertrand die Hand mit der Pistole fallen und starrte auf den leblosen Körper David Halloways. Aus dem Schussloch im Kopf des Mannes sickerte Blut in den Teppich.

Vorsichtig schraubte er den Schalldämpfer vom Lauf der Neunmillimeter ab und steckte ihn in seine Jackentasche. Dann schob er die Waffe in das Halfter hinten am Hosenbund und betrachtete den Toten wie eine Katze eine Maus. Verrückt, dass die meisten David Halloway noch bis eben für seinen Freund gehalten hätten. Das heißt, falls Halloway überhaupt Freunde hatte.

Es würde Tage dauern, bis irgendjemand nach dem Ex-FBI-Agenten David Halloway suchen würde. Er war von der eigenbrötlerischen Sorte, keine Freundin, keine Ehefrau, keine Kinder, die nach dem Rechten sehen würden. Er hatte sein Leben dem FBI gewidmet. Und was hatte er dafür bekommen? Eine lächerliche Rente und eine Verabredung mit dem Teufel.

Kopfschüttelnd beobachtete Dean, wie der Teppich vor seinen Augen die Farbe veränderte. Er überlegte, dass der Gestank irgendwann in den Flur hinausdringen und jemand der Sache nachgehen würde. Wahrscheinlich die ältere Frau nebenan, die den Fernseher immer zu laut laufen und ihre blöden Katzen im Treppenhaus herumstreunen ließ. Die Hausverwaltung würde ihn finden, wenn die Frau steif und fest behauptete, dass er in seiner Wohnung Drogen zusammenbraute oder etwas ähnlich Abscheuliches tat. Man würde die Polizei rufen, und ein Fall würde aufgerollt werden. Nur dass die Behörden Halloways Killer niemals ermitteln würden.

Denn, lautlos und unsichtbar wie ein Schatten, war Dean Bertrand niemals hier gewesen.

Dean wandte sich ab, nahm das nicht zurückverfolgbare Mobiltelefon vom Couchtisch und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte, obwohl er sie seit Jahren nicht benutzt hatte.

Er wartete, während das Freizeichen ertönte. Die Verbindung, die er vor so langer Zeit mühsam aufgebaut hatte, hatte sich endlich bezahlt gemacht. Als Halloway ihm vorhin über den Messenger eine Nachricht geschickt und von Slades Anruf berichtet hatte, hatte er gewusst, dass es sich gelohnt hatte, zwei Jahre lang geduldig auf der Lauer zu liegen. Innerhalb von wenigen Minuten war er hier gewesen.

Eine abgehackte weibliche Stimme meldete sich. »Es ist lange her, Dean.« Ihr nahöstlicher Akzent war stark, ihr Ton geschäftsmäßig. Wie immer.

»Ja. Sehr lange.« Er starrte durch die trübe Fensterscheibe auf eine Taube, die wagemutig auf dem Geländer der Feuerleiter balancierte, während er darüber nachdachte, welche Taktik er am besten anwendete. Manche Frauen waren leicht zu beeinflussen. Diese hier nicht. Ein Hai mit Krallen, das war das Bild, das er schon immer mit ihr verbunden hatte. »Ich habe etwas, das Sie interessieren könnte.«

»Ach wirklich?« Im Hintergrund war Straßenlärm zu hören. Eine Hupe erklang. »Ihnen muss ja viel daran liegen, dass Sie deswegen aus der Versenkung auftauchen. Nicht einmal Jamesons Tod letzten Herbst hat Sie aus Ihrem Bau gelockt. Wir dachten schon, Sie seien vom Erdboden verschwunden.«

Nicht ganz. Aber er hätte es sich gewünscht. Mehr als einmal. Er hatte in seinen fünfzehn Jahren bei INTERPOL Dinge gesehen und getan, auf die er nicht eben stolz war.

Natürlich war das jetzt alles nicht mehr wichtig.

Er ignorierte ihre Sticheleien. »Ich weiß, wo Aten Minyawi in etwa drei Stunden sein wird.«

Ein Knistern in der Leitung, gefolgt von dem Klacken von Absätzen und dann Stille, als habe sie ein Gebäude betreten oder eine ruhige Ecke gefunden, um das Gespräch fortzusetzen. Oh ja! Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.

»Das interessiert mich allerdings«, sagte sie. »Wie sind Sie denn an diese Information gekommen?«

Er blickte auf Halloways leblosen Körper hinunter. »Ein gemeinsamer Bekannter hat mich über diese Bewegung in Kenntnis gesetzt. Katherine Meyer wird in Kürze anrufen.«

Schweigen.

Tja. So war das, wenn man eine Bombe wie diese platzen ließ. Er hatte jetzt definitiv ihre Aufmerksamkeit.

»Also ist Katherine Meyer tatsächlich am Leben«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

»Am Leben und auf dem Weg, sich mit mir zu treffen.«

»Mit Ihnen?«

»Unser gemeinsamer Bekannter ist quasi unabkömmlich.«

Wieder Stille, während sie die Information verarbeitete. Dann: »Minyawi hat für uns oberste Priorität.«

»Ich weiß. Natürlich ist er nur ein kleiner Fisch in einem richtig großen Teich, nicht wahr?«

»Das stimmt. Aber nicht für Sie.«

Nein, nicht für ihn. Dean jagte Minyawi seit Jahren. Es war der Grund, warum er INTERPOL verlassen und auf eigene Faust weitergemacht hatte. Der Mann, der seine Frau umgebracht hatte, war seine einzige Priorität. Und so dicht würde er nie wieder an diesen Hurensohn herankommen.

»Sie wollen verhandeln«, sagte sie.

»Will ich das nicht immer?« Er stellte sich vor, wie sie mit dem Fuß auf den Boden klopfte und an dem Ring an ihrem Finger drehte, während sie nachdachte. Er hatte das in der Vergangenheit unzählige Male beobachtet.

»Dass Sie anrufen, bedeutet, dass Sie meine Hilfe brauchen. Sie würden mir das alles nicht aus reiner Höflichkeit unter Geschäftspartnern erzählen.«

Sie war schon immer ein gerissenes Weibsstück gewesen. Gerissen, klug und tödlicher als eine Schlange. Was das anging, stand er ihr in nichts nach. Und Kelly hatte teuer dafür bezahlt.

Er spannte seine Gesichtsmuskeln an. »Lassen Sie die Information durchsickern, dass Meyer lebt und auf dem Weg nach Philadelphia ist, um sich mit einem FBI-Kontakt zu treffen. Früher oder später wird es sowieso herauskommen, wenn es nicht schon geschehen ist, aber wenn Sie es jetzt auf den Weg bringen, wird Minyawi garantiert angerannt kommen. Und dann gehört er Ihnen.«

Stille.

Er hielt den Atem an, während er auf ihre Antwort wartete. Ahnte sie, was er wirklich vorhatte?

»Und was ist mit Meyer?«

Nein, sie ahnte nichts. Jedenfalls noch nicht.

Seine Atemzüge wurden langsam, als er an die dunkelhaarige Ägyptologin dachte, von der er in Halloways Ordner Fotos gesehen hatte. Er hatte jeden Winkel ihres Gesichts auswendig gelernt, jedes Wort in ihrer Akte.

Halloway hatte sie vor sechs Jahren einmal in Kairo gesehen, als sie zum SCA gegangen war, um ihren Verdacht zu melden, dass an ihrer Grabungsstätte ein Schmugglerring agiere. Er war an jenem Tag wegen einer anderen laufenden Ermittlung, bei der das FBI mit INTERPOL zusammengearbeitet hatte, im SCA-Büro in Kairo gewesen. Obwohl ihre Geschichte für kurze Zeit Halloways Interesse wachgerufen hatte, hatte er nichts unternommen. Er hatte es weder seinen Vorgesetzten beim FBI noch seinen Kollegen bei INTERPOL gemeldet, obwohl die Frau völlig aus dem Häuschen und übernervös gewesen war. Stattdessen hatte er es dem SCA überlassen.

Und das war sein erster Fehler gewesen. Denn wenn Halloway es gemeldet hätte, wäre Minyawi schon früher gefasst worden. Und Kelly würde heute womöglich noch leben.

Ja, Halloway war ein mehr als akzeptables Opfer.

»Sie gehört Ihnen, und Sie können mit ihr tun, was Sie wollen«, sagte er.

An ihrem Ende der Leitung herrschte wieder Schweigen, dann sagte sie schließlich, »Sagen Sie mir den genauen Ort.«

Seine Erleichterung war bittersüß, als er ihr den Treffpunkt durchgab, den er sich überlegt hatte.

In der Stille, die folgte, als er das Gespräch beendet hatte, starrte er aus dem Fenster auf die Skyline von Philadelphia und dachte an Kellys sonniges Lächeln, ihre bronzene Haut, ihr langes, seidiges, dunkles Haar. Unten auf der Straße rauschte der Verkehr vorbei, und die schwachen Geräusche von quietschenden Reifen und Gehupe hallten von den Wänden der schäbigen Wohnung im vierten Stock wider. Die Taube starrte zu ihm zurück, als kennte sie jedes einzelne seiner düsteren Geheimnisse. Dann flog sie mit großem Geflatter in den Himmel auf.

Hinauf zu Kelly.

Er schloss die Augen. Atmete tief durch. Er war nur noch wenige Stunden von Freiheit und Frieden entfernt. Er hatte Kelly zu deren Lebzeiten enttäuscht. Er würde sie nicht in ihrem Tod enttäuschen.

Er setzte sich hin, um auf Katherine Meyers Anruf zu warten.