14

Sechs Jahre früher

Kairo

»Danke, dass wir uns so kurzfristig treffen konnten. Ich weiß, dass du viel zu tun hast.«

»Aber nie, wenn es um dich geht, Kat. Das weißt du doch.« Martin Slade rückte einen Stuhl für Kat zurecht und wartete, bis sie sich an den kleinen Bistrotisch in der Ecke gesetzt hatte. Draußen auf der Straße hupten Autos und drängelten sich zwischen Abgas speiende Industriefahrzeuge und durch den Verkehr preschende Eselskarren. Drinnen klapperte die überwiegend europäische Klientel inmitten des gleichmäßigen Summens aus Gesprächen und nachmittäglichem Koffein mit Tassen und Untertassen.

»Ich wünschte nur, ich könnte dir mehr sagen«, sagte Marty, während er um den Tisch ging und sich setzte.

Kat stellte ihre Handtasche auf den Boden und wartete, bis die Kellnerin bei ihnen war und ihre Bestellung aufnahm. Während Marty mit dem jungen Mädchen sprach, wanderten Kats Augen über diesen Mann, mit dem sie einst sehr vertraut gewesen war. Verrückt, aber jetzt empfand sie gar nichts mehr für ihn außer Freundschaft.

Es war ein paar Monate her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber er sah gut aus, wenn auch etwas müde. Allerdings sah Marty eigentlich immer müde aus. Es gehörte genauso zu ihm wie die breiten Schultern, der robuste Körperbau und die Aura der Verschwiegenheit, die ihn umgab wie ein Eau de Cologne. Heute trug er ein weißes, durchgeknöpftes Hemd und schwarze Stoffhosen, die seinen modellierten Körper betonten. Sein dunkles Haar war länger, als sie es in Erinnerung hatte, wirkte aber immer noch stilvoll und gepflegt, da es seine dunklen Augen hervorhob, ebenso wie das, was aussah wie die Bartstoppeln eines Tages, die abzurasieren er sich nicht die Mühe gemacht hatte.

Er war ein attraktiver Mann. Einer, an dem sie interessiert gewesen war, aber in den sie sich nicht Hals über Kopf verliebt hatte. Nicht so wie in Pete.

Allein bei dem Gedanken an Pete machte ihr Herz einen Sprung. Seit ihrer ersten Nacht im Mena House waren sechs Monate vergangen. Seitdem war er in ihrem Leben ein- und ausgegangen, immer ohne Vorankündigung und ohne jede Regelmäßigkeit. Es vergingen Wochen, ohne dass sie ihn zu Gesicht bekam, Tage, ohne dass sie von ihm hörte oder wusste, wo er war und was er machte. Sie malte sich jedes Mal das Schlimmste aus, sagte sich, dass diese irrsinnige Beziehung nicht halten konnte, weil so vieles zwischen ihnen ungesagt und unerklärt blieb, aber dann tauchte er auf magische Weise an ihrer Türschwelle auf, und all ihre rationalen Überlegungen waren vergessen.

Wenn sie zusammen waren, konnte sie nichts sehen oder fühlen als ihn. Und sie wusste, dass es ihm genauso ging. Es war in seinen Augen zu lesen, jedes Mal, wenn er sie berührte, jedes Mal, wenn er sie küsste. Jedes Mal, wenn er seinen Körper tief in ihren versenkte und sie fest an sich drückte. Er sagte ihr nie, dass er sie liebe, doch für sie bedurfte es keiner Worte, um zu wissen, was in seinem Herzen vorging. Sie spürte es.

Und dieses Wissen machte alles andere so viel schwerer zu ertragen.

Sie wusste sehr wenig über sein Geschäft, darüber, was er trieb, wenn er weg war. Sie hatte ihn natürlich gefragt, immer wieder, aber er war ihrer Frage ausgewichen und hatte gesagt, er arbeite an etwas, das für die Zukunft von großer Bedeutung sei, und er wolle ihre Zeit nicht damit verschwenden, über die Arbeit zu sprechen, wenn es wichtigere Dinge zu tun gab.

Dass er sie aus einem so großen Teil seines Lebens ausschloss, schmerzte sie, doch sie drängte ihn nie. Er hatte recht: Die Zeit, die sie miteinander verbringen konnten, war ohnehin schon so begrenzt, dass sie nichts tun wollte, das sie trüben könnte. Aber jetzt, da sie Marty gegenübersaß, wusste sie, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte. Auch Sawil hatte sie schon gewarnt.

Als die Kellnerin mit ihrer Bestellung wegging, wandte Marty seinen Blick wieder ihr zu. Der nächste Tisch war zu weit weg, als dass jemand ihr Gespräch hätte mit anhören können, dennoch sprach er mit leiser Stimme. »Ein paar der Stücke, die du mir beschrieben hast, sind in einer Galerie in der Türkei aufgetaucht.«

Kat schloss die Augen. Pete hatte letzte Woche aus Istanbul angerufen.

»Türkische Beamte arbeiten mit dem Supreme Council of Antiquities zusammen, um sie nach Ägypten zurückzubringen. Angeblich weiß niemand, wie sie dorthin gekommen sind.«

Als er das SCA erwähnte, blickte Kat auf. »Aber ihr habt einen Verdacht, stimmt’s?«

»Streng genommen, Kat, darf ich nicht einmal mit dir darüber reden, weil das nicht in mein Gebiet fällt. Ich habe das, was du mir erzählt hast, weitergeleitet, aber ich bin nur aus freundschaftlicher Verbundenheit hier.«

»Ich weiß, und ich rechne dir das hoch an. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte. Ich habe Sawil von meinem Verdacht erzählt, und er hat mit Dr. Latham darüber gesprochen, aber bisher hat das SCA so gut wie nichts getan.«

Was sie nicht sagte, war, dass Sawil sie an jenem Abend, als sie sich an ihn gewandt hatte, vor Pete gewarnt hatte. Als sie nach Sawils wiederholtem Zureden, es einfach auf sich beruhen zu lassen, nicht lockergelassen hatte, hatte er schließlich seinen Verdacht geäußert. Die Schwierigkeiten an ihrer Grabungsstätte und Petes Auftauchen in Kats Leben lägen zu dicht beieinander, um bloßer Zufall zu sein. Er hatte damit argumentiert, dass Pete Antiquitätenhändler war. Selbst wenn er nicht auf der dunklen Seite agierte, kannte er Leute, die das taten. Es konnte gar nicht anders sein.

Sie hatte Sawil gesagt, er spinne und Pete könne niemals in so etwas verwickelt sein, doch irgendetwas in ihr war durch diese Anschuldigung aus dem Lot geraten.

Denn es gab einfach zu viele Dinge, die sie über Pete nicht wusste. Und selbst jetzt, als sie Marty gegenübersaß, erinnerte sie sich daran, wie Pete ihr Grab während der ersten Führungen inspiziert hatte. Nicht wie ein Tourist oder jemand, der bloß ein romantisches Interesse verfolgt, sondern so, als sei er hinter etwas ganz Bestimmtem her.

Das war wohl auch der Grund, warum sie Marty angerufen hatte. Damit er ihr versicherte, dass Pete keinen Dreck am Stecken hatte und jemand anders für die Diebstähle verantwortlich war.

Diese Neuigkeit trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.

»Hat Latham die Sicherheitsmaßnahmen um das Grab herum verstärkt?«

»Ja«, sagte sie. »Aber wenn das stimmt, was du mir gerade gesagt hast, spielt das keine Rolle. Irgendjemand verschafft sich trotzdem Zutritt.«

Seine Lippen wurden schmal. »Das ist nicht Sache der USA, Kat. Das SCA hüllt sich in Schweigen. Die regeln die Dinge lieber intern.«

Sie ließ die Schultern hängen.

»Wenn du einen Beweis hättest, wäre das etwas anderes. Aber so wäre mein Vorschlag, dass du selbst einen Bericht beim SCA einreichst. Auch wenn Latham sich darum kümmert – je mehr Personen einen Vorstoß wagen, desto größer ist deine Chance, dass das SCA reagiert.«

Sie nickte und wusste, dass er recht hatte.

Ihr Kaffee wurde serviert, und es gelang ihnen, sich über die positiveren Aspekte ihrer Ausgrabung zu unterhalten, statt über die vermissten Relikte.

Als es allmählich dunkel wurde, brachte Marty sie zu Fuß zu ihrer Wohnung vier Blocks weiter. Sie fühlte sich kein bisschen besser als vor ihrem Treffen. Sie hatte immer noch Tausende von Fragen, und sie wünschte sich nichts mehr, als Pete zu sehen, um ihre blödsinnigen Zweifel zu zerstreuen. Sie hatte seit einer Woche nicht mehr mit ihm gesprochen, und jeder Tag, der ohne eine Nachricht von ihm verstrich, ließ Sawils Warnung umso drohender erscheinen.

Sie bogen um die Ecke zu ihrem Block, und Kats Herzschlag beschleunigte sich, als sie zu ihrem Gebäude hinübersah. Pete erhob sich von den Treppenstufen, wo er gesessen und auf sie gewartet hatte. Zu seinen Füßen stand eine Reisetasche, sein Haar war ungekämmt. Sein zerknittertes blaues Hemd und seine abgetragene Jeans sahen aus, als hätte er darin geschlafen.

Doch es war sein Gesicht, das sie fixierte, während sie näher kam. Seine Haut war von Falten der Erschöpfung gezeichnet, und sie fragte sich, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Sie ging etwas schneller, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern, und geriet dann ins Wanken angesichts des düsteren, kalten Blicks, der zwischen ihr und Marty hin und her wanderte.

Er kam nicht auf sie zu, sondern beobachtete sie nur mit zusammengekniffenen Augen.

»Pete«, sagte sie, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Sie warf sich ihm in die Arme, und er erwiderte die kurze Umarmung, jedoch steif und reserviert, ganz und gar nicht wie seine gewöhnliche leidenschaftliche Begrüßung mit Mund und Zunge und Zähnen. Ihr Magen zog sich zusammen, und die offensichtliche Spannung zwischen ihnen ließ ihren Zweifel teilweise in Gewissheit umschlagen. »Was machst du denn hier?«

»Ich hatte hier eine Zwischenlandung und dachte, ich überrasche dich.« Seine Stimme klang hart und unfreundlich, und seine Augen übersprangen sie und landeten auf Marty. »Aber du hattest offensichtlich schon etwas vor.«

Ihr Puls hämmerte, als sie sich zu Marty umdrehte. »Ähm. Das ist Martin Slade. Marty, das ist Peter Kauffman. Mein, äh, Bekannter.«

»Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe«, korrigierte Pete im selben rauen Tonfall, »waren wir weit mehr als Bekannte.«

Kat stieg die Hitze ins Gesicht.

Martys Blick wechselte von Pete zu Kat und wieder zurück, dann streckte er die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen. Kat und ich haben bloß über ihre Arbeit geplaudert.«

Pete antwortete nicht und schüttelte Marty auch nicht die Hand. Die Warnung in seinen kalten Augen war unmissverständlich: Finger weg!

Schuldgefühle für etwas, das sie gar nicht getan hatte, verwandelten sich rasch in Frust. Er war derjenige, der sich wochenlang nicht bei ihr gemeldet hatte, und dann regte er sich auf, dass sie Freunde hatte? Sechs Monate, in denen sie nicht gewusst hatte, wo er war, was er machte und wann er wiederkommen würde, ballten sich zusammen und wuchsen sich zu einem ordentlichen Zorn aus.

Marty ließ seine Hand sinken, blickte zwischen den beiden hin und her und spürte offenbar die Spannung. »Ich geh dann mal, Kat. Wenn noch irgendetwas ist, lass es mich wissen, und ich werde sehen, was ich tun kann.«

Sie lächelte ihm zuliebe, obwohl ihre Wangen durch die Anstrengung rissig zu werden drohten. »Danke, Marty! Das werde ich.«

Kat wartete, bis Marty das Ende der Straße erreicht hatte und hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Als sie sich Pete zuwandte, konnte sie die Feindseligkeit, die er ausstrahlte, praktisch fühlen. »Findest du nicht, dass das ein bisschen kindisch war?«

Sie drängelte sich an ihm vorbei und stieg die Stufen zu ihrem Haus hoch.

»Ich weiß es nicht. Sag du’s mir!« Er riss seine Tasche vom Boden hoch und folgte ihr auf den Fuß.

»Wenn du erwartest, dass ich mich dafür entschuldige, dass ich einen Kaffee mit ihm getrunken habe, hast du dich geschnitten.« Die Eingangstür fiel hinter ihnen ins Schloss, als sie durch das schmale Treppenhaus in den ersten Stock hochgingen.

»Warum sollte ich auch erwarten, dass du dich entschuldigst?«, fragte er hinter ihr in kaltem Ton.

Sie ignorierte seine Frage, drehte den Schlüssel im Schloss um, ging hinein und schäumte dabei die ganze Zeit vor Wut. Gott sei Dank war Shannon an diesen Nachmittag nicht da.

Er hatte verdammt noch mal kein Recht, sauer auf sie zu sein. Nicht im Mindesten. Sie warf ihre Handtasche auf die Couch, während er hinter ihr eintrat und die Tür zustieß. Seine Tasche fiel am Eingang zu Boden, doch er machte keine Anstalten, weiter in die Wohnung vorzudringen. »Seit wann bist du hier?«, fragte sie.

»Seit zwei Stunden.«

Oh Mann! Er hatte zwei Stunden lang auf ihrer Treppe in der Bullenhitze gesessen? Kein Wunder, dass er angefressen war. »Wenn du mir gesagt hättest, dass du kommst, hätte ich –«

»Ist das deine Angewohnheit? Zu deinem Ex zu rennen, wenn ich nicht da bin?«

Der Schock fuhr ihr in die Glieder. »Natürlich nicht. Ich habe ihn seit Monaten nicht gesehen.«

Seine unerbittlichen Augen gaben ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er ihr nicht glaubte. »Und warum bist du dann heute zu ihm gelaufen? Ich habe das doch richtig verstanden, oder? Du warst diejenige, die ihn angerufen hat?«

Kat blieb das Herz stehen. Da war sie also. Die Anschuldigung, die sie erwartet hatte. Er vertraute ihr nicht. Und die Ironie an diesem Gedanken traf sie direkt unterhalb ihrer Brust, bis selbst das Einatmen schmerzte.

»Ja. Aber nur, weil ich mit ihm reden wollte. Sonst ist nichts passiert. Ich bin nicht mehr an ihm interessiert. Und er nicht an mir.«

»Na klar«, sagte Pete spöttisch und legte die Hände auf die Hüften. »Und worüber wolltest du mit ihm reden?«

»Über « Sie stockte. »Über die verschwundenen Stücke an meiner Grabungsstätte. Ich dachte, vielleicht könnte er über seine Verbindungen herausfinden, was da vor sich geht.«

»Lass mich raten! Er hat keinen blassen Schimmer.«

Warum klang er so selbstsicher? Sie hatte schon mehrmals versucht, mit ihm darüber zu reden, was am Ausgrabungsort geschah, doch er hatte es stets beiseitegeschoben, so wie immer, wenn sie auf ihre oder auf seine Arbeit zu sprechen kamen. Und wenn er wusste, was da geschah? Und sogar etwas vor ihr verbarg?

In der Stille zwischen ihnen kamen ihr Sawils Warnungen wieder in den Sinn, gepaart mit den vielen Unbekannten über Pete und seine Weigerung, sie an seinem Leben teilhaben zu lassen.

»Woher weißt du das?«, fragte sie leise.

Seine Schultern verspannten sich. Etwas, das stark nach Fassungslosigkeit aussah, huschte über sein Gesicht und ließ sich dann als Abscheu in seinen Augen nieder. »Warum fragst du mich nicht einfach, was du wirklich wissen willst?«

Sie schluckte schwer, während sich die Angst in ihrem Magen ausbreitete. Eine schwache Stimme rief: Tu es nicht! Doch sie musste. Sie konnte die Geheimniskrämerei zwischen ihnen nicht mehr ertragen. Und mehr als alles andere wollte sie aus seinem Mund hören, dass er unschuldig war. »Hast du irgendwas mit diesen verschwundenen Artefakten in meinem Grab zu tun?«

Sie bereute die Worte in dem Moment, als sie sie ausgesprochen hatte. Seine sturmgrauen Augen wurden hart wie Stein, und das Licht, das sie immer darin erblickte, wenn er sie ansah, verdüsterte sich.

Sein Mund bewegte sich kaum, als er sprach. »Du denkst, ich hätte etwas damit zu tun?«

»Nein.« Ja! »Ich weiß es nicht.« Sie hob die Arme, ließ sie wieder sinken. »Es passiert einfach im Moment so viel, und es gibt so viel, was ich von dir nicht weiß. Jedes Mal, wenn ich versuche, mit dir darüber zu reden, machst du dicht. Ich will einfach nur, dass du dich mir öffnest und mir die Wahrheit sagst.«

»Du würdest mir sowieso nicht glauben, egal, was ich sage, also, warum soll ich mir die Mühe machen?«

»Doch, das würde ich«, sagte sie rasch. Sie wollte ihn berühren, aber noch drängender war ihr Wunsch, seine Antwort zu hören.

Seine Augen funkelten sie an. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen. Die Luft in der Wohnung schien plötzlich heiß und stickig zu sein. Für einen Augenblick wünschte sie sich, er würde zuschlagen, nur um ihr einen Anhaltspunkt zu geben, dass er dieser Sache irgendeine Bedeutung beimaß, doch das tat er nicht. Er bewegte sich nicht einmal.

»Nein«, sagte er schließlich. »Ich habe nichts mit den fehlenden Artefakten zu tun.«

Ihre Erleichterung kam prompt und war überwältigend. Kat ging auf ihn zu, wollte unbedingt, dass er sie in den Arm nahm, stutzte jedoch, als sie den warnenden Ausdruck in seinen Augen aufflackern sah. Er bückte sich und schnappte sich seine Tasche. »Wo willst du hin?«

»Ich bin weg.«

Panik ergriff sie. »Warte! Pete, lass uns darüber sprechen!«

»Es gibt nichts zu besprechen. Du hast mir gerade alles gesagt, was ich wissen muss.« Er riss die Tür auf und ging.

Kat stand mitten in ihrem Wohnzimmer, während seine Schritte sich über den Flur entfernten. In ihr stieg Übelkeit hoch, während ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte.

Was hatte sie da gerade getan? Sie hatte es zugelassen, dass ihr Ärger über die Szene mit Marty, ihre Angst davor, wo ihre Beziehung mit Pete hinführte, und ihre Sorge über all das, was an der Grabungsstätte geschah, ins Wanken gebracht hatten, was sie tief in ihrem Herzen über Pete wusste.

Die hundert verschiedenen Arten, auf die er sie in den letzten sechs Monaten geliebt hatte, blitzten vor ihr auf, die geflüsterten Versprechen tief in der Nacht und die Zärtlichkeit in seinen Augen, wenn er sie ansah. Ihr Herz bekam einen tiefen Sprung.

Sie liebte ihn. Wenn sie es nicht schon vorher gewusst hatte, wusste sie es jetzt. Sie liebte ihn, und sie war dabei, ihn zu verlieren.

Sie riss die Tür auf und stürmte die Treppe hinunter. Ihre Hände zitterten, als sie die wuchtige Haustür aufriss, schwer atmend auf der obersten Stufe stehen blieb und mit den Augen die vor Hitze flimmernde Straße in allen Richtungen nach ihm absuchte. Bitte, mach, dass er noch nicht weg ist!

Sie konnte ihn nicht sehen. Eine muslimische Familie lief an ihrem Haus vorbei. Ein Müllwagen, der die Straße entlangzottelte, stieß Abgaswolken aus. Ein Radfahrer raste vorbei.

Wo war er? Bitte, lieber Gott

Dann entdeckte sie ihn, einen Block weiter, die Tasche über die Schulter gehängt, mit gesenktem Kopf und mit großen Schritten entfernte er sich von ihr.

»Pete!«

Beim Klang ihrer Stimme drehte er sich sofort um, und sie zögerte nicht eine Sekunde. Sie stürzte in seine Arme, umschlang ihn und hielt ihn ganz fest.

»Geh nicht! Nicht so. Bitte!« Ein Schluchzen steckte ihr im Hals. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Bitte geh nicht!«

Er zögerte, und einen furchtbaren Moment lang dachte sie, er würde sie von sich stoßen. Dann fiel seine Tasche auf den Asphalt, und seine Arme umfingen sie so fest, bis die Umarmung ihr die Luft aus den Lungen presste.

»Verdammt, Kit-Kat!«

Eine Träne rann über ihre Wange, als sich sein Mund auf ihren drückte, hart und besitzergreifend und so fordernd, dass es fast schmerzte. Sie erwiderte den Kuss inbrünstig.

Irgendwie schafften sie es, wieder in ihre Wohnung zu gelangen, wo sie sich mit einer Eindringlichkeit liebten, die an Gewalttätigkeit grenzte. Als es vorbei war, lagen sie verschwitzt und atemlos in dem Bett, das sie schon so viele Male geteilt hatten, dass sie aufgehört hatten zu zählen. Aber diesmal war es anders. Obwohl sie Haut an Haut lagen und seine Arme sie umschlangen, erschien Kat die Distanz zwischen ihnen so weit wie der Ozean, der normalerweise ihre Kontinente voneinander trennte.

Sie schloss die Augen und schmiegte sich in dem Versuch, die Kluft zu überwinden, noch dichter an ihn. »Was denkst du?«

Schweigen. Dann: »Ich muss bald gehen.«

Die Leere seiner Worte versetzte ihrem Herzen einen Stich. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte, doch sie wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Er würde ihr nicht glauben. Nicht nach dem, was zuvor passiert war. Sie würde warten müssen. Aber bis dahin würde sie es ihm beweisen.

Sie stützte sich auf den Ellenbogen und blickte auf ihn hinab. Gedankenverloren starrte er an die Decke. Langsam wandten seine grauen Augen sich ihr zu, getrübt von derselben Aufgewühltheit, die sie selbst verspürte.

»Noch nicht«, flüsterte sie, während sie sich hinunterbeugte und ihn küsste. Einmal. Zweimal. Sie zog ihn in ihren Mund hinein und noch tiefer bis in ihre Seele. In der Hoffnung, dass er mit jedem ihrer Herzschläge fühlen konnte, was er ihr bedeutete.

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und strich ihr über das Haar. »Noch nicht«, wiederholte er ihre Worte dicht an ihrem Mund.