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Auktionshaus Worthington

New York City, Innenstadt

Für eine sechs Jahre alte Leiche sah sie gar nicht mal so schlecht aus.

Katherine Meyer musterte sich ein letztes Mal im Badezimmerspiegel und strich sich ein paar widerspenstige Strähnen aus dem Gesicht. Die schwarze Hose mit dazu passender Jacke war perfekt. An nichts daran würde sich später irgendjemand erinnern. Niemand, dessen Blick sie heute Abend kreuzte, würde in ihr irgendetwas anderes vermuten als die Fachassistentin, nach der sie aussah. Und das war genau das, was sie wollte. Je weniger Aufmerksamkeit sie auf sich zog, desto besser für alle Beteiligten.

Ihr Magen rebellierte, als sie in den langen Gang bog. Nur das leise Geräusch ihrer flachen Absätze auf dem Betonboden und die gedämpfte Musik von der Feier im Foyer drangen an ihre Ohren. Vor ihr am Ende des Korridors blickte ein Wachmann von seinem Posten auf und musterte sie kurz.

Als sie näher kam, schenkte sie ihm ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es selbstbewusst wirkte, und zückte ihren Hausausweis, den sie schon vor Tagen einem Worthington-Mitarbeiter stibitzt hatte. Das Foto war digital verändert worden, sodass es zu ihrer derzeitigen Verkleidung passte: dunkelbraune Bob-Perücke, blau gefärbte Kontaktlinsen, Schildpattbrille. Sofern der Mann vor ihr nicht allzu genau hinsah, war sie aus dem Schneider.

»Warten Sie mal!«

So viel zum Thema einfach.

Der Wachmann kam hinter seinem Tresen hervor und versperrte ihr den Weg ein Muskelpaket von gut einem Meter neunzig Körpergröße. Er trug eine blaue Standarduniform und kurz geschorenes dunkles Haar, war groß und stämmig und geradezu der Inbegriff des engstirnigen Pförtners der Marke Keiner-kommt-ohne-Ausweis-an-mir-vorbei.

Kat atmete tief durch und warf einen raschen Blick auf das Namensschild, das an der Brust des Mannes prangte James Johnson –, und dann auf seine Hüfte, wo in einem Funktionsgürtel ein Funkgerät steckte.

Keine Waffen jedenfalls nicht, soweit sie sehen konnte. Und das war die bisher beste Nachricht des Abends.

»Ab hier nur autorisiertes Personal«, sagte er in barschem Ton. »Ich muss Ihren Ausweis kontrollieren.«

Sie lächelte, löste den Klipp des Ausweises von ihrer Jacke und schaffte es irgendwie, ihn dem Mann zu reichen, ohne dass ihre Hände zitterten. »Ganz schön was los da draußen«, sagte sie beiläufig.

Atmen, Kat! Einfach nur atmen!

Seine Augen flogen von ihrem Ausweis zu ihrem Gesicht. »Was haben Sie im Lagerraum zu tun, Ms Anderson?«

»Ich arbeite mit Marsha Griffin zusammen, der Kontaktfrau von Worthington, und mit der Odyssey Gallery. Ich will nur noch mal durchgehen, bevor Ms Griffin kommt und die Auktion beginnt. Sie wissen ja, wie pingelig diese unabhängigen Galeristen an ihrem großen Abend manchmal sein können.« Sie verdrehte die Augen, um die Aussage zu unterstreichen.

»Sie sind doch Jim, oder?« Sie griff nach seinem Ausweis, um ihn diesmal gründlich zu studieren. »Wir sind uns vor ungefähr zwei Monaten schon einmal begegnet, als ich für das Met gearbeitet habe.«

Verwirrt zog er die Stirn kraus, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu erinnern.

Perfekt. Genau das hatte sie beabsichtigt.

Sie befestigte ihren Ausweis wieder an ihrer Jacke, lächelte ein wenig und tat ihr Bestes, lässig zu wirken. »Wie geht’s Ihrer Tochter? Heilt der gebrochene Arm gut?«

Seine Augen weiteten sich überrascht. Es war nicht zu übersehen, dass er sein Gedächtnis nach ihrem letzten Gespräch durchkramte. Zu blöd nur, dass er nichts finden würde.

»Äh, ja.« Er kratzte sich am Kopf. »Sarah bekommt Dienstag den Gips ab. Woher «

»Da ist sie sicher froh.« Kat machte einen Schritt an ihm vorbei und steuerte auf die Stahltür hinter ihm zu. Verwirren, verunsichern, verpissen. Das war ihr Lebensmotto. Oder zumindest ihr neues Lebensmotto. »Hab mir mit sieben den Arm gebrochen. Waren echt die längsten sechs Wochen meines Lebens.«

An der Tür blieb sie stehen, sah über die Schulter, hob die Augenbrauen und wartete.

Er starrte sie gut eine Sekunde lang an, dann schüttelte er leicht den Kopf und drehte sich um. »Ach ja. Entschuldigung. Sie müssen sich erst eintragen, Ms Anderson. Reine Routine.«

»Na klar!« Kat nahm das Klemmbrett, unterschrieb mit ihrem falschen Namen und wartete, bis er die Tür von seinem Platz aus entriegelt hatte.

»Danke, Jim. Es dauert nur ein paar Minuten.«

Sie schlüpfte in den Raum und schloss die Tür hinter sich. An das kalte Metall gelehnt, atmete sie tief aus. Ihre Vorstellung war beinahe oscarreif gewesen.

Sie hob die Hände und rieb sich über die Stirn. Erstklassige Schauspielkunst und dabei schwitzte sie Blut und Wasser. Ein Wunder, dass Jim-der-Wachmann es nicht bemerkt hatte. Schon ein winziger Fehler konnte sie ins frühe Grab bringen.

Oder in ein spätes je nachdem, wie man es betrachtete.

Da Katherine Meyer offiziell in Ägypten durch eine Autobombe ums Leben gekommen war, konnte sie unmöglich in eines der renommiertesten Auktionshäuser der Welt einbrechen. Und doch war sie hier. Der Trick bestand lediglich darin, auf keinem Radar aufzutauchen. Der Trick bestand darin, immer tot zu bleiben.

Sie sah sich im Lagerraum um. Er war groß mindestens neun mal neun Meter. Lange, in geraden Linien aufgestellte und mit schwarzem Stoff bedeckte Tische. Auf den Tischen aufgebaut Artefakte, davor jeweils eine Bestandskarte mit aufgedruckter Nummer.

Sie sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde es hier vor Menschen nur so wimmeln. Spezialisten des Auktionshauses und Assistenten würden Gegenstände aus der rechts angrenzenden Tür auf die Bühne des Auktionssaals tragen. Das war der Grund, warum sie mit ihrem Schritt noch gewartet hatte. Chaos war das beste Mittel, ihre Spuren zu verwischen. Ihr blieben jedoch nur noch wenige Augenblicke, bis sich die Gelegenheit eröffnen würde, und vorher musste sie ihn finden.

Ohne Zeit zu verschwenden, schlängelte sie sich zwischen den Tischen mit ägyptischen Kunstwerken hindurch und versuchte, sich nicht mit einem Blick auf den Schmuck der ägyptischen Spätzeit oder die noch älteren Schnitzereien aus dem Mittleren Reich ablenken zu lassen. Doch angesichts der Vergangenheit, die sie umgab, stieg ein Gefühl der Wärme in ihrem Inneren auf, doch gleichzeitig auch die alte Angst, die sie, schon solange sie denken konnte, in den Klauen hatte.

Sie verdrängte das Gefühl und suchte weiter. Panik machte sich in ihr breit, als sie sich dem hinteren Ende des Raums näherte und ihn immer noch nicht gefunden hatte. Mit einem tiefen Atemzug, von dem sie hoffte, dass er ihren Puls beruhigen würde, blieb sie stehen und drehte sich im Kreis. Da zog ein Funkeln drei Tische weiter ihren Blick auf sich. Ihre Hand zitterte, als sie sich rasch durch den Raum bewegte und nach der Statuette des kauernden Pharaos griff, nicht größer als acht Zentimeter und zwischen ein in Stein geschlagenes Relief der Königin Teje und eine Sphinx-Statue gezwängt. Das Metall fühlte sich kühl an. Durch ein kleines Loch an der Hinterseite war die goldene Kette geschlungen, deren Glätte sie zwischen den Fingern spürte. Die Statuette war schwerer als in ihrer Erinnerung, und obwohl sie massiv aussah, wusste Kat, ohne nachzusehen, dass sie in Wirklichkeit hohl war.

So viel Zeit war vergangen, und nun hatte sie die Statuette hier gefunden. Genau, wie sie gehofft hatte. Er hatte die Figur schließlich doch nicht verkauft.

Mit flinken Fingern knöpfte sie ihre Jacke auf und nahm die Fälschung aus der kleinen Bauchtasche, die sie sich umgebunden hatte. Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, warum er das Relikt jetzt verkaufte. Weigerte sich, einzusehen, dass jeder sentimentale Wert, den es einmal für ihn gehabt haben mochte, nun vergangen war.

Sentimentaler Wert? Ja, genau.

Okay, dann versetzte es ihr also immer noch einen Stich ins Herz, wenn sie an ihn dachte, aber heute hatte sie ihre Sinne beisammen. Und sie würde auf gar keinen Fall jemals wieder dieselben Fehler machen wie damals.

Gelobt seien weite Jacken und Wachmänner, die einen nicht abtasteten. Sie schickte ein kurzes Dankgebet an den heiligen Judas Thaddäus und Schwester Mary Francis, die Frau, von der sie alles über hoffnungslose Fälle gelernt hatte, und ließ das Artefakt in die Tasche gleiten. Nachdem sie die Fälschung auf dem schwarzen Stofftuch zurechtgerückt hatte, knöpfte sie sich die Jacke wieder zu und begab sich zum Ausgang.

Ein Rütteln am Türknauf ließ sie zwei Schritte vor dem Tor zur Freiheit innehalten. Eine gedämpfte, wütende Frauenstimme drang durch das Metall, gefolgt von dem Klimpern von Schlüsseln.

Kats Herzfrequenz erhöhte sich schlagartig.

Sie waren ihr auf die Schliche gekommen! Jim-der-Wachmann musste jemanden angerufen haben, weil ihre Unterschrift nicht zu der registrierten passte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hereinstürzen und ihr Handschellen anlegen würden. Sie würde auffliegen, und der Schmuckanhänger

Sie blickte nach links, sah die Tür zur Bühne und wusste, dass es ihre einzige Chance war.

»Bitte, bitte, bitte«, murmelte sie, während sie den Zugangscode eintippte und betete, dass es der richtige war. Wenn ihre Quelle falsch war, war sie erledigt.

Das Licht blinkte sekundenlang rot, bis es endlich auf Grün umsprang. Die Tür gab mit einem Klacken nach im selben Augenblick flog die Außentür zum Lagerraum auf. Kat zwängte sich durch den schmalen Spalt, drehte sich um und schloss mit der Schulter die Metalltür, ohne nachzusehen, wer in den Raum stürzte, den sie gerade verlassen hatte. Zu ihrer Rechten erblickte sie einen schweren Tisch und zerrte ihn vor die Tür.

Außer Atem von dieser Kraftanstrengung, blieb sie stehen, um sich einen Überblick über ihre Umgebung zu verschaffen. Im hinteren Teil der Bühne war es dunkel, aber das Stimmengewirr und die Musik waren hier viel lauter. Nur ein Vorhang aus Samt trennte sie von den Feierlichkeiten. Schnell spielte sie ihre Optionen durch. Sie hatte die Pläne studiert und wusste, wenn sie nach links ging, würde sie in der Küche landen. Rechts würde sie in die Büros gelangen und in das ausgefeilte Gängesystem, das das Gebäude durchzog. Die beste Möglichkeit, sich in Luft aufzulösen.

»Hier drin ist niemand«, sagte eine Männerstimme im Raum hinter ihr.

»Mist!«, rief eine Frau. »Die Tür ist blockiert. Rufen Sie den Sicherheitsdienst! Die sollen die Bühne und den Auktionssaal durchsuchen. Ich will, dass diese Frau gefunden wird!«

Kat lief nach rechts. Als sie den Zugang zum Flur erreicht hatte, versperrte ihr ein Mann im Anzug den Weg.

Er war gerade in einen Ordner vertieft, den er in den Händen hielt, als sie ihn fast umrannte. Entsetzt sah er auf, kniff seine grünen Augen zusammen und blickte sie scharf an.

»Was haben Sie hier hinten zu suchen? Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis!«

Verflucht! So viel zum Thema Optionen.

Sie dachte nicht lange nach, sondern griff einfach nach dem Vorhang und damit nach ihrer letzten Hoffnung zu entkommen.

Zum Glück war der Auktionssaal selbst, bis auf einen älteren Herrn, der Programme auf den vornehmen Stühlen verteilte, leer. Kat überquerte stolpernd die Bühne und fiel beinahe die drei kleinen Stufen auf den teuren Teppich hinunter. Sie straffte die Schultern und versuchte auszusehen, als gehörte sie dorthin, während sie sich rasch auf die geöffnete Doppeltür am anderen Ende des Raumes zubewegte.

Da wurde der Vorhang zurückgerissen, und der Anzugträger, den sie fast umgerannt hatte, tauchte auf und sah sehr wütend aus.

»Halten Sie sie auf!«

Kat hielt sich nicht damit auf, herauszufinden, was als Nächstes geschehen würde. Sie sah zu, dass sie durch die Doppeltür in die Lobby entkam, und stutzte, als sie die Menschenmenge sah, die sich dort versammelt hatte. Auf den ersten Blick wusste sie, dass sie nicht zum Vorderausgang hinauskonnte, jedenfalls nicht, ohne für einen Aufruhr zu sorgen.

Oh Mann, langsam gingen ihr die Optionen aus.

Bitte, lass mich nur noch ein Mal davonkommen!

Hastig sah sie sich um, entdeckte ihre allerletzte Hoffnung zu entwischen und schlängelte sich durch die Massen in Richtung Küche.

Ihre Nerven erreichten die nächste Stufe der Erregung, als sie ihre schwarze Jacke aufknöpfte, sie von ihren Schultern gleiten ließ und sich über den Arm legte. Vorsichtig löste sie die Bauchtasche und schlug sie in die Falten ihrer Jacke ein. Ein Blick zurück bestätigte ihr, dass die Sicherheitsleute inzwischen über das Geschehen im Bilde waren. Sie standen mit dem Anzugträger an der Tür des Auktionssaals und suchten die Menge nach ihr ab.

Sie duckte sich hinter einen korpulenten Mann, der sich gerade mit einem Glas Champagner beschäftigte, und wartete, bis sich die Küchentür weit öffnete und ein Kellner mit einem Tablett voll Schampus erschien. Und gerade, als sie schnurstracks auf die Küche und ihren letzten Ausweg in die Freiheit zugehen wollte, hörte sie ihn. Einen tiefen, vertraut klingenden Bariton.

Sie fuhr so schnell herum, dass sie den Mann vor sich fast außer Gefecht gesetzt hätte. Sie murmelte eine Entschuldigung, schlüpfte in eine dunkle Ecke und sah vorsichtig zum Haupteingang der Lobby hinüber, wo gerade zwei Paare den Raum betreten hatten. In ihrem Kopf rief eine Stimme: Lauf! Aber es war schon zu spät. Die Menge teilte sich, und da stand er. Und sie konnte nicht wegsehen, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Zu allem Überfluss sah er noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Gerade Nase, die Augen von demselben, hinreißenden Rauchgrau, sein Haar so dunkelblond und zerzaust, wie sie es immer gemocht hatte.

Sein Körper hatte sich kaum verändert in den Jahren, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte er war immer noch stark und breitschultrig und mit Sicherheit wie gemeißelt unter diesem teuren Smoking, wie immer , aber seltsamerweise kam er ihr größer vor, als sie es in Erinnerung hatte. Insgesamt größer. Überlebensgroß. Sogar noch lebendiger als in ihren Fantasien.

Und auch, wenn sie es nicht gerne zugab nicht einmal vor sich selbst sie hatte über die Jahre hinweg definitiv Fantasien mit ihm ausgelebt. Und sich dann beschimpft, eine absolute Idiotin zu sein.

Peter Kauffman. Ihr Pete.

Die Gruppe um ihn herum plauderte, während er nach dem Mantel der Frau griff, die offensichtlich zu ihm gehörte. Sie streifte das Kleidungsstück ab und gab den Blick auf ein hautenges schneeweißes Abendkleid frei. Dann drehte sie sich um und legte Pete die Hand auf die Brust. Mit einem wollüstigen Lächeln stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste das Kinn, an dem Kat selbst schon hunderte Male geknabbert, geleckt und gekostet hatte.

Nein, es war nicht ihr Pete, das wurde Kat klar, als sie dastand und ihn anstarrte. Eigentlich hatte er nie ihr gehört, oder?

»Was treiben Sie denn da, verflixt noch mal?«

Jäh aus ihren Träumen gerissen, fuhr Kat herum.

»Sie sollen Getränke servieren«, sagte der Mann mit finsterem Blick. Sein Namensschild identifizierte ihn als Antonio, Chef-Barkeeper.

Ihr Kopf war ein einziges Chaos, aber eins drang zu ihr durch: Dieses Scheusal hielt sie für eine Kellnerin.

Die Gespräche hinter ihr verstummten. In der Stille konnte sie das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Als sie gerade den Mund aufmachen wollte, um eine lahme Entschuldigung herunterzuleiern, hörte sie hinter sich schnelle Schritte über den Marmorboden auf sie zukommen.

Oh Scheiße!

»Tut mir leid«, nuschelte sie. »Ich wird nicht wieder vorkommen.«

Die Schritte kamen näher. Kat schoss um Antonio herum, benutzte seinen Körper als Schutzschild und raste auf die Küchentür zu, bevor die Sicherheitsleute überhaupt begriffen hatten, was los ist.

»Hey! Warten Sie mal!«

Kat riss die Augen auf, als sie die vertraute Stimme hinter sich hörte. Ihre Knie zitterten, als sie versuchte, sich einen Weg zwischen den Gästen hindurchzubahnen. Sie konnte hören, wie Pete näher kam. Die Panik und ein Meer von Körpern drohten auf sie hereinzubrechen und ihren Lungen die Luft abzudrücken. Eine Haarsträhne der dämlichen Perücke peitschte ihr ins Gesicht und stach ihr in die Augen. Warum rührten sich diese Menschen nicht? Merkten sie denn nicht, dass sie hier rausmusste jetzt sofort?

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Kat hielt inne gerade so lange, um durch die Menge hindurch zurückzuspähen, in der Hoffnung, dass die Leute um sie herum ihr genügend Deckung boten. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass hierherzukommen ein noch viel größerer Fehler gewesen war, als sie gedacht hatte.

Zwei Männer standen am anderen Ende des Foyers, noch hinter Pete und Antonio, die für Kat unhörbar Worte miteinander wechselten. Offenbar hatten sie gerade erst die Lobby betreten, denn auf Schultern und Haar lagen Schneeflocken. Der eine stand halb im Schatten, aber der andere mit der Stoppelfrisur sein Gesicht würde Kat niemals vergessen.

Die nackte Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste, dass sie wegrennen musste, aber das konnte sie nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sie sich wieder in diesem Grab und kämpfte um ihr Leben. Die Augen des Mannes glitten suchend über die Menge, vorbei an dem Versteck, das ihr die Partygäste hoffentlich boten. Doch dann verharrten sie plötzlich, schnellten zurück zu ihrem Platz in der Nähe der Küchentür und hielten inne.

Sie schluckte schwer, versuchte sich zu rühren, doch sie wusste, sie stand im Blickfeld wie ein Leuchtfeuer in dunkler Nacht. Nach dieser langen Zeit der Verkleidungen und den Jahren des Versteckspiels war sie aufgeflogen. Und alles nur, weil sie von ihrem Plan abgewichen und in diese gottverdammte Lobby gestolpert war.

Sie hielt den Atem an. Wartete. Reglos wie ein Reh, das durch die Scheinwerfer eines Autos erstarrt ist. Aber eine Chance gab es noch. Solange er nicht

Die Augen des Stoppelkopfes jagten durch den Raum und nahmen schließlich Pete ins Visier. Kats Blick folgte ihnen. Pete war wieder zu seiner Gruppe gestoßen, aber er sah nicht mehr glücklich aus. Er wirkte verstört, als er seinen Champagner schlürfte und sich nach den anderen Gästen in der Lobby umblickte.

Nein, nein, nein.

Kat schaute wieder zum Haupteingang und sah durch Dunstwolken hindurch, wie sich auf der Miene des Stoppelkopfes ein unheilvolles Grinsen breitmachte.

Scheiße! Sie hätte niemals hierherkommen dürfen!

Als ihr Adrenalin wieder durch ihren Körper schoss, stieß sie die Küchentür auf, hob die Hand und rieb mit den Fingern über das Medaillon, das sie um den Hals trug. Und betete, dass dieses Mal niemand ihretwegen sterben würde.