13

Gegenwart

Central Pennsylvania

Die zwei zusätzlichen Stunden, die sie brauchten, um nach Williamsport zu gelangen, erschienen Kat wie die längsten ihres Lebens. Der Schnee hatte nachgelassen, je weiter sie nach Süden vorgedrungen waren, doch es ging noch immer langsam voran. Die vereisten Straßen waren spiegelglatt.

Kat versuchte zu schlafen, aber es funktionierte nicht. In ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. Sie rutschte auf ihrem Sitz hin und her und spähte durch den Schleier ihrer Wimpern zu Pete hinüber, und sosehr sie es auch versuchte, konnte sie ihren Blick nicht von seinem blutverschmierten Hemd abwenden. Mehr als einmal hatte sie ihn gebeten, es hochzuziehen oder sich vorzubeugen, damit sie einen Blick darauf werfen konnte, und mehr als einmal hatte er ihr gesagt, dass es ihm ausgezeichnet gehe.

Ausgezeichnet.

Das war ein Wort, auf das sie sich konzentrieren konnte. Verärgert, nervös, frustriert bis zum Letzten alles beschrieb ihn besser als ausgezeichnet. Doch sein Gemütszustand war ja eigentlich nicht mehr ihr Problem.

Etwas löste sich in ihrer Brust, während sie sein Profil beim Fahren betrachtete. Die Sonne ließ Lichtstreifen über seinen Bartschatten am Kinn, die Linien und Winkel seines Gesichtes wandern. Er war älter geworden, feine Linien gingen fächerförmig von seinen Augen aus und zerknitterten leicht die Haut um seinen Mund, doch er war immer noch auf klassische Art gut aussehend, in jedem Sinn des Wortes, selbst mit dem Veilchen.

Sie dachte daran, wie er sie auf dem Gelände zurückgelassen hatte und dann ohne ersichtlichen Grund wieder zurückgekommen war. Sie wusste, es waren keine Schuldgefühle, die ihn dazu bewogen, sie nach Philly zu bringen, aber was war es dann? Er hätte genauso gut einfach wegfahren können, ohne zurückzublicken. Dann fiel ihr ein, mit welcher Selbstverständlichkeit er vorhin auf Martys Farm die Pistole benutzt hatte. Und wusste, dass der Peter Kauffman, den sie vor Jahren geliebt hatte, Lichtjahre von dem bewaffneten Autodieb entfernt war, neben dem sie jetzt saß.

Wenn sie erwartet hatte, ihn auch nur ansatzweise zu verstehen, machte sie sich selbst etwas vor.

Sein Blick schweifte zu ihr herüber. »Was ist denn?«

Sie setzte sich auf und stellte die Rückenlehne wieder steiler. »Nichts.«

Er drängte sie nicht zu einer anderen Antwort, und sie war froh, dass sie nichts erklären musste. Sie blickte wieder durch die Frontscheibe und ermahnte sich, nicht mehr darüber nachzudenken, ob er nun unschuldig in die damaligen Verbrechen in Ägypten verwickelt gewesen war oder nicht, sondern sich darauf zu konzentrieren, was wirklich wichtig war. Nämlich am Leben zu bleiben.

Und sie musste unbedingt mit Martys Kontakt Verbindung aufnehmen, bevor sie Philadelphia erreichten.

»Ich muss irgendwie ein Münztelefon und Gelbe Seiten auftreiben«, durchbrach er das Schweigen. »Ich hoffe, es gibt in dieser Stadt eine Autovermietung.«

»Ein Münztelefon wäre nicht schlecht. Ich muss auch jemanden anrufen.« Sie warf einen Blick in den Seitenspiegel. »Glaubst du, wir haben sie abgehängt?«

Pete wechselte mühelos die Spur und blickte erneut in den Rückspiegel, wie er es in den letzten paar Stunden routinemäßig immer wieder getan hatte. »Ja. Im Moment wenigstens. Aber um sicherzugehen, dürfen wir nicht herumtrödeln.«

Er lenkte den Wagen in eine Tankstelle und stellte den Motor ab. Während er sich aufmachte, um unter dem Stichwort Autovermietung nachzuschlagen, schlüpfte Kat aus dem Fahrzeug und ging in den Laden. Eine Glocke über ihrem Kopf schrillte, als sie eintrat.

Ohne Zeit zu verschwenden, schnappte sie sich ein paar Flaschen Mineralwasser und verschiedene Snacks, die hoffentlich für den Rest der Reise reichen würden, und trug ihre Auswahl an die Theke. Als sie in ihrer Tasche nach Bargeld kramte, fiel ihr Blick auf einen Ständer T-Shirts gleich rechts neben ihr.

Draußen benutzte Pete den Münzfernsprecher. Eine Panikwelle überkam Kat, als sie hinaus in die Kälte trat und sah, wie er ihr den Rücken zukehrte und sich den Telefonhörer ans Ohr hielt. Wen konnte er bloß anrufen und warum? Einen Geschäftskontakt? Erzählte er irgendjemandem, wo sie war?

Dann hatte sie einen abscheulichen Gedanken, der ihr seltsamerweise schlimmer erschien als die Vorstellung, dass er sich gegen sie wandte. Was, wenn er die Frau von letzter Nacht anrief? Die aus der Limousine?

Der Magen drehte sich ihr um, als sie ihre Einkäufe auf den Rücksitz tat und dann auf den Vordersitz hochstieg und wartete. Pete war immer noch in sein Gespräch vertieft, wer auch immer am anderen Ende der Leitung war. Er fuchtelte mit den Armen, während er sprach, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und drehte sich von ihr weg, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

Die Autotür öffnete sich, als sie gerade einer jungen Mutter zusah, die einen Vier-Liter-Kanister Milch schleppte und ein Kleinkind hinter sich her über den Parkplatz zog. Pete setzte sich hinter das Steuer, und seine plötzliche Gegenwart ließ ihre Gedankenkette abreißen. Ihr Blut erwärmte sich, und sie holte Luft, als ihr wieder in den Sinn kam, wie sich seine Haut auf ihrer angefühlt hatte, seine Hände auf ihrem Körper, wie seine Lippen die ihren gefangen genommen hatten.

»Etwa zehn Blocks weiter gibt es eine Hertz-Niederlassung«, sagte er, während er die Tür zuzog.

»Und deine Freundin weiß jetzt, dass es dir gut geht?«

»Das war nicht meine Freundin, sondern mein Geschäftspartner. Ich hätte heute wieder in Miami sein müssen.«

»Oh«, sagte sie und hätte sich für ihre voreilige Schlussfolgerung ohrfeigen können, brauchte aber immer noch eine Antwort, was die Person anging, mit der er telefoniert hatte. »Was hast du ihm gesagt?«

»Nur dass mir etwas dazwischengekommen ist. Ich dachte mir, je weniger er weiß, desto sicherer für ihn, falls deine Freunde in Miami nach mir suchen.«

Das klang vernünftig. Und es bedeutete, dass er sie nicht verpfiff. Zumindest noch nicht.

»Dreh dich um«, sagte sie schnell, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können. »Ich muss mir deinen Rücken ansehen.«

»Ich glaube, jetzt ist kein guter –«

»Es wird niemals ein guter Zeitpunkt sein. Es dauert nur eine Minute.« Sie griff nach dem Verbandskasten auf dem Rücksitz und dem T-Shirt, das sie gekauft hatte. »Außerdem kannst du nicht mit diesem blutbeschmierten Sweatshirt herumlaufen. Die Leute werden es bemerken und Fragen stellen.«

Widerwillig nahm er das T-Shirt, das sie ihm hinhielt, wandte sich ab und zog sich das Sweatshirt über den Kopf. An die Stelle des Unbehagens in Kats Magen trat rasch eine Hitzewelle, die mit jedem Stück Haut, das er enthüllte, durch ihre Glieder rann.

Schmale Taille, Muskeln wie Drahtseile, breite nackte Schultern und goldbraune Haut, die von langen Stunden in der Sonne zeugten. Sie schnappte heftig nach Luft und streckte die Hand aus, um herauszufinden, ob er sich immer noch so geschmeidig anfühlte, wie sie es in Erinnerung hatte.

»So schlimm?«, fragte Pete und versuchte den Kopf so weit zu drehen, um selbst einen Blick darauf zu werfen.

Bei seinen Worten zuckte Kat zusammen, und nur noch Millimeter davon entfernt, ihn zu berühren, hielt sie inne. Verlegen, dass sie beinahe vergessen hätte, was sie eigentlich tun wollte, durchwühlte sie rasch den Erste-Hilfe-Kasten nach den nötigen Utensilien. »Nein, es geht. Nur ein paar Schnitte. Sehen aus, als wenn sich schon Schorf bilden würde.«

Schweigend reinigte sie die wenigen Schnittwunden mit ­einem Desinfektionstuch und trug dann zur Sicherheit behutsam ein Antibiotikum auf. Da die Wunden keinen Verband benötigten, blies sie sanft darauf, um das Antibiotikum zu trocknen.

Petes Rücken wölbte sich. Er bekam eine Gänsehaut. Und ein Zwischending zwischen einem Keuchen und einem Stöhnen entschlüpfte seinen Lippen, ein Geräusch, das Kats Puls mindestens zwei Stufen nach oben jagte. Während er weder gezuckt noch sonst irgendwie reagiert hatte, als sie seine Wunden berührt hatte, war ihr Atem auf seiner Haut offensichtlich nicht ohne Wirkung gewesen.

Und auf sie ebenfalls.

Junge, Junge. Sie spielte hier mit dem Feuer.

»So. Ähm, das war’s.« Sie hielt die Tube mit der antibiotischen Salbe hoch und versuchte, ihre Finger am Zittern zu hindern, als er sich wieder umdrehte. »Kann aber sein, dass du später noch etwas hiervon brauchst.«

»Danke!« Pete zog sich das schwarze Shirt über den Kopf, und Kat erhaschte einen kurzen Blick auf steinharte Bauchmuskeln, gemeißelte Brustmuskeln und einen Körper, von dem sie einst jeden Quadratzentimeter geküsst und liebkost hatte.

Gott, dieses Bild konnte sie jetzt überhaupt nicht in ihrem Kopf brauchen! Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Pete, der nicht bemerkte, was er mit ihr anstellte, setzte sich wieder auf seinem Sitz zurecht, doch als er sprach, klang seine Stimme hart. »Wenn du telefonieren willst, beeile dich. Ich will weiter.«

Kat öffnete schnell die Autotür, dankbar für die Gelegenheit, auf Abstand gehen zu können. »Falls du Hunger hast, ich hab ein bisschen was besorgt.« Während er sich zum Rücksitz umdrehte, lief sie auf den Münzsprecher zu.

Sie wählte die Nummer, die Marty ihr gegeben hatte und bemühte sich, nicht zurückzublicken. Es klingelte zweimal, bevor sich eine männliche Stimme meldete und sie mit ihrem Namen ansprach.

Verwirrung ergriff sie, aber dann fiel ihr ein, dass Marty wahrscheinlich vorher dort angerufen hatte.

»Werden Sie verfolgt?«, fragte er.

Der Mann war direkt und kam ohne Umschweife zur Sache, was sie aus irgendeinem Grund beruhigte. Sie drehte sich um und sah sich auf dem öden Parkplatz um. »Nein, nicht, dass ich wüsste, Agent «

»Einfach nur David. Genau genommen habe ich mich zur Ruhe gesetzt, und wenn jemand anders als Marty angerufen hätte, hätte ich zu diesem kleinen Treffen Nein gesagt.«

»Verstehe.« Obwohl sie das eigentlich nicht tat. Sie wusste nicht einmal genau, für welche Behörde dieser David arbeitete. Sie wusste, dass Marty bei der CIA war. Doch während der kurzen Zeit, in der sie mit ihm zusammen war, und im Laufe ihrer immer noch andauernden Freundschaft hatte er nie über seine Kollegen oder Verbindungen gesprochen, und diesen Mann hatte er in ihren knappen Unterhaltungen ganz bestimmt niemals erwähnt.

»Sind Sie sicher, dass das Busir war, gestern Abend?«, fragte er.

Als wenn sie dieses Gesicht jemals vergessen könnte. »Ja. Ganz sicher.«

»Beschreiben Sie den anderen.«

Sie gab eine Beschreibung von Busirs Kumpan ab. Tasten klapperten im Hintergrund.

»Minyawi«, sagte er schließlich. »Er muss es sein. Dass er mit Busir zu tun hat, ist neu und interessant. Busir ist vor etwa zwei Wochen vom Radar verschwunden. Der Geheimdienst überwacht seinen Aufenthaltsort schon eine ganze Weile. Dass er und Minyawi zusammenarbeiten, bedeutet nichts Gutes.«

Sie wollte ihn fragen: Welcher Geheimdienst?, biss sich aber auf die Zunge. Solche Fragen konnten sie in Schwierigkeiten bringen. Und sie hatte weiß Gott genügend Schwierigkeiten für den Rest ihres Lebens.

»Es waren noch mehr dabei.« Sie erzählte ihm, was auf Martys Farm passiert war.

»Sieh an«, murmelte er und klang überrascht. »Sie sind eine gefragte Frau, Ms Meyer. Hier geht es doch um mehr, als nur darum, die mickrige Zeugin eines Verbrechens aufzuspüren, das schon fast ein Jahrzehnt her ist, oder?«

Kat antwortete nicht und warf einen Blick zurück auf Pete, der sie aufmerksam durch die Windschutzscheibe beobachtete. Marty mochte diesem David vertrauen, doch ihr Instinkt befahl ihr geradezu, ihm gegenüber nicht zu offen zu sein. Schon gar nicht am Telefon. Denn sie war nicht ganz sicher, wohin das alles führen würde. Es stand hier nicht nur ihre eigene Sicherheit auf dem Spiel.

»Sieht wohl so aus.«

Wieder das Klappern von Tasten. »Wir treffen uns im Fairmount Park, Lincolnparkplatz. Von dort geht ein Fußweg ab. Folgen Sie dem. Ich werde an der Brücke warten. Wie schnell können Sie da sein?«

Sie drehte sich zum Eingang des Ladens um. »Wenn sich das Wetter hält, so in drei Stunden, denke ich.«

»Drei Stunden.« Er gab ihr noch eine Telefonnummer. »Wenn Sie es nicht schaffen, rufen Sie diese Nummer an, und ich gebe Ihnen einen neuen Treffpunkt durch. Und, Ms Meyer?«

»Ja?«

»Verarschen Sie mich nicht! Ich lehne mich ziemlich weit aus dem Fenster, allein schon dadurch, dass ich mich in dieser Sache vorwage. Wenn Sie auch nur den Verdacht haben, dass Ihnen jemand folgt, lassen Sie sich nicht blicken! Haben Sie verstanden?«

Bei seinem Tonfall lief es ihr eiskalt über den Rücken. Was für Kreise zog diese Sache, wenn ein Ex-CIA-Agent – vorausgesetzt, dass er wirklich einer war – fürchtete, in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen zu werden?

Die Leitung brach ab, ehe sie fragen konnte.

Ein Schauer dunkler Vorahnung lief ihr über den Körper, als sie den Hörer auflegte und wieder zum Auto ging. »In drei Stunden«, sagte sie, nachdem sie eingestiegen war. »Fairmount Park.«

Pete sah sie bestimmt eine Minute lang an, als wollte er fragen, was sie noch besprochen hatten. Dann ließ er endlich den Motor an und bog ohne eine weitere Bemerkung auf die Straße.

Was würde in Philadelphia passieren? Würde dieser David ihnen helfen können? Und würde Pete mit ihr kommen oder sie verlassen?

»Bleib hier«, sagte Pete, während er den Wagen bei der Autovermietung im Schatten eines großen Baums in einer Ecke ­abstellte und den Motor ausmachte. »Ich bin gleich wieder da.«

Kat tat nur, was ihr gesagt wurde, weil es das Einfachste war, und war erleichtert, als er zehn Minuten später wieder aus dem Büro kam und einen Schlüssel in der Hand schwenkte.

Er öffnete die hintere Tür. »Schnapp dir alles, was du dabei hast! Der Wagen steht auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude. Ich werde mich irgendwo in einer Seitenstraße dieser Karre entledigen. Wir treffen uns gleich da hinten.« Er griff nach der Lebensmitteltüte auf dem Rücksitz.

»Und ich dachte schon, diese Karre wäre dir ans Herz gewachsen«, sagte sie beim Aussteigen. »Wo hast du überhaupt gelernt, Autos kurzzuschließen?«

Er hielt ihr die Autotür auf. Er zögerte so lange, dass sie schon dachte, er würde nicht mehr antworten, und sagte dann überraschend, »ich hatte einen Freund auf der Highschool, der mir das eine oder andere beigebracht hat.«

»Hatten deine Eltern denn nichts dagegen?«

»Meine Eltern waren tot.«

Seine Aussage klang so sachlich, dass Kat stutzte. Und sie machte ihr klar, dass sie sich nie viel über die Familie unterhalten hatten. Jedenfalls nicht über seine.

Er fasste sie am Arm, um ihr aus dem Fahrzeug zu helfen. »Es ist keine große Geschichte. Meine Großmutter war zu sehr mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit und ihren Vereinen beschäftigt, um uns viel Aufmerksamkeit zu schenken. Und was meinen Großvater betrifft, war Kinder aufzuziehen das Letzte, was er für seinen Ruhestand im Sinn hatte. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Golfplatz.«

»Was ist mit deinen Eltern passiert?«, fragte sie und war sich bewusst, dass sie schockiert klang.

»Autounfall. Sie kamen auf dem Heimweg von einer politischen Wohltätigkeitsveranstaltung ums Leben, als ich vierzehn war. Lauren war neun.«

»Lauren?«

»Meine Schwester.«

Er hatte eine Schwester? Wie kam es, dass sie das bisher nie erfahren hatte?

Und dann wurde es ihr schlagartig klar. Sie hatte es nicht erfahren, weil sie in all den Monaten, in denen sie zusammen waren, entweder miteinander im Bett gewesen waren oder darüber gesprochen hatten, miteinander zu schlafen.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. »Deine Eltern waren politisch engagiert?«

»Nein. Ein Freund von Dad. Mein Vater leitete eine Galerie für Nachwuchskünstler in St. Petersburg. Hauptsächlich Ölgemälde. Ein paar Aquarelle. Nichts Spektakuläres. Als er tot war, wuchsen wir bei seinen Eltern auf.«

Das erklärte seine Kunstbegeisterung. »Was ist aus seiner Galerie geworden?«

»Sie wurde geschlossen. Meine Großeltern hatten eigentlich nie etwas dafür übriggehabt. Kaum jemandem fiel auf, dass sie nicht mehr da war.«

Es steckte sicherlich noch mehr dahinter. Aber im Stillen glaubte Kat zu verstehen. Der kümmerliche Erfolg seines Vaters und sein letztendlich fehlendes Erbe waren offensichtlich an Pete hängen geblieben.

»Das ist « Kat suchte nach einem Wort, das ihr Gefühl über seine Vergangenheit beschrieb. Unwillkürlich stellte sie sich ihn als rebellierenden Teenager vor, der seine Eltern vermisste, sich mit den falschen Leuten herumtrieb und Autos kurzschloss, um die Aufmerksamkeit seiner nachlässigen Großeltern zu erringen. Als ihr kein Wort einfiel, das gepasst hätte, entschied sie sich für eines, das sie immer wieder in Bezug auf ihre eigene Kindheit gehört hatte. »Traurig.«

Er zuckte die Achseln. »Kommt drauf an, wen man fragt. Wenn für mich und Lauren alles anders gelaufen wäre, wären wir heute nicht das, was wir sind.«

Hatte er damit nicht recht?

Endlich fiel bei ihr der Groschen in Bezug auf seine Schwester, und sie sah ihn mit großen Augen an. »Lauren Kauffman? Wie Lauren Kauffman, das Unterwäsche-Model?«

Mit sichtbarer Missbilligung verzog er das Gesicht. »Es heißt Dessous, das sagt sie mir jedenfalls immer.«

Sie starrte ihn an, während Bilder von Laurens Gesicht auf den Titelseiten zahlreicher Zeitschriften, die Kat in den letzten Jahren gesehen hatte, vor ihrem geistigen Auge aufblitzten.

Er schürzte die Lippen, als errate er ihre Gedanken. »Ja, du hast recht. Sie sieht in Unterwäsche viel besser aus als ich.«

Kat versuchte zu sprechen, aber es kam nichts heraus. Und, verdammt noch mal, ihre Wangen färbten sich rot und wurden heiß.

Falls er ihre Reaktion bemerkte, ließ er sich nichts anmerken. Stattdessen reichte er ihr die Lebensmitteltüte und den Schlüssel, der an seinen Fingern baumelte. »Es ist ein grüner Taurus irgendwo dahinten. Der Typ drinnen sagte, man könne ihn nicht verfehlen.«

Froh, dass er das Thema seiner Beinahe-Nacktheit fallen gelassen hatte, nahm Kat den Schlüssel und die Einkäufe und beobachtete, wie sich die Muskeln in seinen Armen und Schultern in der Bewegung anspannten. Zu hören, wie er über seine Familie sprach, bestätigte ihr, dass es eine Seite von ihm gab, von deren Existenz sie keine Ahnung gehabt hatte. Und obwohl es ihrem Ziel nicht gerade zuträglich war, wollte sie mehr darüber erfahren. Musste es aus irgendeinem Grund.

»Ach was, ein Taurus?«, sagte sie und hoffte, dass sie ihn dazu brachte weiterzureden, damit sie auskosten konnte, dass er ihr gegenüber endlich nicht mehr diesen genervten Ton an den Tag legte. »Ich hätte dich eher als einen Sportwagen-Typ bezeichnet.«

»Meinen Porsche habe ich in Miami gelassen. Der Taurus wird’s auch tun.«

Einer ihrer Mundwinkel verzog sich. Ja, nicht mehr annähernd so genervt. »Das muss er wohl, wenn es bei dir für mehr nicht reicht.«

Seine Augen glitten über sie. Und in ihren Tiefen blitzte etwas Glühendes auf. »Es hat bei mir schon immer für mehr gereicht, Kat.«

Ein Kribbeln lief ihr über den Rücken. Sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob sie noch über Autos sprachen. »Ich schätze, ein Taurus ist wahrscheinlich weniger auffällig als ein Porsche.«

»Das stimmt. Und wir wissen beide, dass Grün immer sicherer ist als Sin-City-Rot.«

Ihr wurde warm. Sie stellte sich ihn hinter dem Steuer dieses scharfen Wagens vor, braungebrannt und schlank und sexy, der Wind zerzauste sein Haar, während er den Highway hinunterschoss. Das Bild und dazu der eindringliche Blick, mit dem er sie ansah, ließ ihren Mund trocken werden. »Sicherheit ist wichtiger.«

»Wohl wahr. Aber der Adrenalinrausch ist nicht annähernd derselbe.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Und es kann niemals dieselbe Befriedigung bringen.«

Das Kribbeln kroch weiter in ihren Bauch hinunter. Und noch etwas tiefer. Sie schluckte und zwang sich zu sprechen. »Es ist bloß ein Auto.«

Sein Blick sprang mit einer Bewegung von ihren Augen zu ihren Lippen, was dieses kribbelnde Gefühl geradewegs zwischen Kats Schenkel schießen ließ und sie an die vielen Tausend Male in der Vergangenheit erinnerte, als er sie so angesehen hatte. »Männer lieben ihre Autos.«

»Natürlich«, fügte er mit dem rauen Timbre hinzu, das sie an heißen Sex, verschwitzte Körper und lange, verruchte Nächte denken ließ, »manchmal braucht man nur eine Probefahrt, um zu wissen, was man mag.«

Und was man nicht mochte. Die unausgesprochenen Worte spiegelten sich deutlich in seinen unergründlichen Augen wider.

»Vielleicht ist einmal auch genug«, hörte sie sich selbst sagen, ehe sie die Worte daran hindern konnte, ihren Mund zu verlassen. »Und manchmal benötigt man vielleicht mehr als einen Versuch, ehe man weiß, was man braucht.«

»Vielleicht.«

Die Luft knisterte zwischen ihnen. Seine Augen hielten den ihren stand, und Tausende von Fragen brodelten in sturmgrauen Gewässern. Und ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust. Obwohl sie wusste, dass es idiotisch war, rechnete sie damit, dass er sich auf sie zubewegte, sie berührte, sie an sich zog und küsste wie in Martys Garage.

Sie wartete darauf, dass all das passierte, und irgendein verrückter Teil von ihr wollte es, gleichgültig, was sie alles über ihn wusste.

Dann spannte sich ein Muskel in seinem Kiefer an, und er sah weg. Und der Zauber, den er gerade um sie gesponnen hatte, zersprang wie Eis auf hartem, kaltem Beton.

»Vielleicht«, wiederholte er. »Aber ich bezweifle es.«

Kat hatte nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte, aber nun entwich sie aus ihr wie aus einem Ballon.

Er warf sich den Rucksack auf die Schulter, bevor sie merkte, dass er ihn hatte, und lief um das Auto herum. »Wir treffen uns in fünf Minuten hinten auf dem Parkplatz.«

Dann stieg er in den alten Pathfinder und entfernte sich von dem Gebäude.

Als sie im kühlen Wind stand, erinnerte Kat sich an den Moment, als er sie in Kairo schon einmal so angesehen hatte. Als wenn er sie immer noch begehrte, aber nicht wüsste, was er tun sollte. Als wenn zwischen ihnen nichts jemals wieder so sein würde wie bisher.

Denn das war es nicht gewesen. An jenem Tag, in ihrer Wohnung, hatte sich alles zwischen ihnen geändert. Sie wusste jetzt, dass das der Anfang vom Ende gewesen war.

Sie seufzte tief und wandte sich dem hinteren Parkplatz zu. Er wühlte Gefühle und Erinnerungen in ihr auf, die sie vor langer Zeit begraben hatte. Und sie war nicht sicher, ob sie stark genug war, um mit ihnen klarzukommen. Nicht jetzt. Nicht, wenn er so nah bei ihr war.

Sie hoffte, dass sie sich in ein paar Stunden nie wieder mit ihnen herumschlagen musste.