20

Träume weckten ihn. Oder Erinnerungen. Da war er sich nicht so sicher.

Pete befand sich in Laurens Luxushaus auf Key Biscayne. Er saß mit einem Bier in der Hand auf der Steinterrasse hinter dem Haus und starrte hinaus auf den Strand und den offenen Ozean.

Seine Schwester war da. Sie war auf einem ihrer vielen Mini-Urlaube, wie sie es nannte, zwischen zwei Fotoshootings. Sie stand hinter ihm in der weit geöffneten Terrassentür zur Küche, die sie nie benutzte, und bestellte per Telefon Pizza, während er der Brandung lauschte, dem Schrei einer Möwe, dem Flüstern der Palmen in der warmen, sanften Brise.

Es hätte eigentlich friedlich auf ihn wirken müssen, aber das tat es nicht. Es hätte eigentlich entspannend sein müssen, doch das war es nicht. Er hatte Lauren die ganze Geschichte erzählt. Von Anfang bis Ende. Von dem Moment an, als er Kat an der Grabungsstätte begegnet war, bis zu jenem Abend, als sie früher von der Arbeit nach Hause gekommen war und ihn in ihrer Wohnung überrascht hatte, als er gerade mit Packen beschäftigt war – und eine Kiste voller Ausgrabungsgegenstände zu seinen Füßen stand.

Diejenigen, die er an jenem Nachmittag Busir abgekauft hatte. Diejenigen, von denen er nicht wusste, dass sie aus ihrem Grab stammten.

Sie hatte ihn sofort beschuldigt, mit dem Schmugglerring zu tun zu haben. Hatte sich nicht seine Erklärungen angehört, sondern ihn einfach hinausgeworfen. Alles beendet. An Ort und Stelle.

Und als ihm klar geworden war, wie sehr er die Karre in den Dreck gefahren hatte, hatte er kein Blatt vor den Mund genommen und sich zur Wehr gesetzt.

Was hätte er auch sonst tun sollen? Dableiben und sich anhören, wie sie ihn niedermachte? Zusehen, wie das, was sie für ihn empfunden hatte, in ihren Augen zu Staub zerfiel?

Oh nein. Das konnte er nicht. Das wollte er sich nicht ansehen müssen.

Also war er gegangen. Zurück nach Miami geflogen. Hierhergekommen, um sich seine Wunden zu lecken. Trank das eine oder andere Bier, bis er irgendwann sternhagelvoll war. Die Zeit tat ihr Übriges. Der Schmerz reduzierte sich auf eine Täuschung. Alkohol half.

Er hatte sechs Monate, in denen er versucht hatte, einen geraden Weg einzuschlagen, wegen eines einzigen Fehlers einfach die Toilette hinuntergespült. Wegen eines beschissenen Riesenfehlers hatte er sich sein ganzes Leben verdorben, und er hatte keinen blassen Schimmer, wie er ihn wiedergutmachen sollte.

Kehr zurück und sag ihr die Wahrheit!

Bei Laurens Worten verzog er das Gesicht. Setzte sein drittes Bier an die Lippen – oder war es das vierte? Nahm einen langen, tiefen Schluck.

Es spielte eigentlich keine Rolle, das wie vielte es war. Er war so oder so dabei, sich heute Abend so richtig volllaufen zu lassen. Zurückkehren? Nach allem, was Kat ihm an den Kopf geworfen hatte? Nachdem sie ihn angesehen hatte, als sei er nichts weiter als ein Kaugummi, der an ihrer Schuhsohle klebte und den sie gar nicht schnell genug wieder abkratzen konnte? Da konnte er sich genauso gut die Pulsadern aufschlitzen und auf dem Fußboden verbluten. Die Tatsache, dass Lauren recht hatte und es tatsächlich das Einzige war, was er tun konnte, beschleunigte natürlich nur noch den ganzen Prozess, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, um den ganzen Albtraum zu vergessen.

Dann klingelte sein Handy.

Er warf einen Blick auf das Display – Nummer unbekannt – und überlegte sich, ob er die Mailbox anspringen lassen sollte. Er hatte keine Ahnung, warum er trotzdem abnahm. Wusste nur, dass er es schon in dem Moment bereute, als er das Telefon aufklappte.

Ab jetzt verschwamm alles. Wie er aufstand, seine Bierflasche auf den Boden knallte, die zu seinen Füßen zersprang und kalte, goldene Flüssigkeit über seine Schuhe spritzte. Lauren, die aus dem Haus kam, um zu fragen, was los sei. Die Stimme von Slade – ausgerechnet –, die in seinem Kopf widerhallte. Und ein rasender Schmerz direkt unter seinem Brustbein.

Es war der Schmerz, der ihn jetzt seine Augen öffnen ließ. Er spürte ihn genauso stark wie damals. Er starrte an die stockfleckige Decke, rang nach Atem und rieb sich mit der Hand fest über die Brust, um das Stechen zu lindern.

Und war einen Moment lang zutiefst verwirrt.

Nicht Laurens Haus. Nicht der blaue Himmel, zu dem er aufgeblickt hatte, als er schließlich wieder die Augen geöffnet hatte, nachdem er auf der kalten Steinterrasse wie der letzte Schlappschwanz zusammengebrochen war.

Nein, jetzt war er in einem Zimmer. Es war dunkel. Ein Lichtstreifen bildete einen halbmondförmigen Fleck auf der ihm genau gegenüberliegenden Wand. Eine miserabel gemalte Strandszene hing an der Wand genau gegenüber.

Er hob den Kopf und blickte auf das Kopfende des Bettes, das eigentlich hinter ihm sein musste, sich jedoch jetzt zu seinen Füßen befand. Dann fiel ihm die Absteige von Motel ein, die er bar bezahlt hatte. Die Dusche. Das Bett. Die Bettwanzen. Der Sex.

Kat.

Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus, strömte durch seine Brust nach unten. Sammelte sich in seinen Lenden, bis er wieder völlig hart war. Er drehte leicht den Kopf, merkte, dass er alleine war, und sein Blick schnellte zum Badezimmer. Die Tür war geschlossen, doch er konnte das Summen des laufenden Ventilators hören und Licht brennen sehen, wo das Holz auf den abgelaufenen Teppich traf.

Pinkelpause. Sehr klug. Er brauchte auch eine. Sobald er sich bewegen konnte.

Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es schon fast sechs Uhr morgens war.

Das mit letzter Nacht war eine wirklich blöde Idee gewesen. Saublöd. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, sich wieder auf sie einzulassen. Das hatte ihn schon vor sechs Jahren fast umgebracht. Nur dass jetzt hier zu liegen, mit ihrem Duft an seinem ganzen Körper und ihrem Geschmack noch auf der Zunge, sich alles andere als blöd anfühlte. Es fühlte sich seltsam richtig an.

Er streckte den Fuß unter der Bettdecke hervor und fragte sich geistesabwesend, wann er überhaupt so weit bei Sinnen gewesen war, das verdammte Ding hochzuziehen. Fragte sich, ob sie es für ihn getan hatte oder ob er einfach ihren Körper als Decke benutzt hatte, bis sie heute früh schließlich aus dem Bett gestiegen war.

Scheiiiiße! Eine wirklich blöde Idee.

Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann blickte er wieder zu der geschlossenen Badezimmertür. Sie war schon eine ganze Weile da drin.

Er tastete mit einer Hand nach ihrer Betthälfte und stellte fest, dass das Laken bereits kalt war.

In seinem Magen zog sich etwas zusammen, als er sich langsam aufsetzte und seine Beine über die Bettkante schwang. Er wollte sie wirklich nicht überraschen, wenn sie auf der Toilette war, aber ihm gefiel ganz und gar nicht, welche Richtung seine Gedanken eingeschlagen hatten.

Er klopfte an die Tür und beugte sich vor, um zu lauschen. Er hörte nichts als das Summen des Ventilators.

»Kat?« Als immer noch keine Antwort kam, versuchte er sein Glück, drehte den Türknopf und drückte.

Licht brannte in seinen Augen. Schnell schloss er sie. Blinzelte, bis die Flecken aus seinem Blick verschwanden. Und starrte in einen leeren Raum.

Der Duschvorhang war zur Seite gezogen, eine leere Badewanne war im Spiegel am anderen Ende des Raumes zu sehen. Auf der Ablage lag nichts. Auf dem Handtuchständer hing bloß sein T-Shirt.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Zuerst packte ihn die Überraschung. Dann der Schock. Dann absolute Fassungslosigkeit. Er drehte sich rasch um, knipste die Nachttischlampe an und entdeckte, dass auch ihr Rucksack, ihre Kleider und Schuhe weg waren.

Völlig entgeistert stand er da, starrte in das stille Zimmer und versuchte die Puzzleteile in seinem Kopf zusammenzufügen. Ihr verändertes Verhalten gestern Abend im Diner. Ihre Nervosität, als sie zu Bett gegangen waren. Wie sie ihn geküsst hatte, als sie dachte, er schliefe. Ihr Zögern, als sie gemerkt hatte, dass er wach war. Die Entscheidung, die sie getroffen zu haben schien, bevor sie sich geliebt hatten.

Nein, wurde ihm klar. Das war keine Liebe gewesen, sondern ein gottverdammtes Ablenkungsmanöver. Sein Blick trübte sich, und das allzu vertraute Gefühl, betrogen worden zu sein, schlug ihm seine Krallen in die Brust.

Sie hatte ihn wieder aufs Kreuz gelegt. Und diesmal hatte sie verflucht gute Arbeit geleistet.

Omar Kamil hasste Sport. Dummerweise hielt er ihn am Leben. Das Einzige im Moment, das ihn am Leben hielt.

Der Schweiß rann ihm über die Stirn, während er auf dem Crosstrainer seine Übungen durchzog. Auf einem Flachbildschirm, der an der Wand gegenüber montiert war, lief ohne Unterbrechung CNN. Er ließ den Ticker am unteren Rand des Bildschirms nicht aus den Augen, in der Hoffnung auf irgendwelche Neuigkeiten über Katherine Meyer.

Nichts. Keine Leiche. Kein Todesfall. Keine ungeklärten Schießereien.

Das waren, was ihn betraf, sowohl gute als auch schlechte Neuigkeiten. Er atmete zweimal tief ein und spürte, wie seine Muskeln unter der Anstrengung der Übungen zu brennen begannen.

Sein Handy klingelte, und er klappte es auf, ohne die Bewegung seiner Beine zu verlangsamen. »Ja?«

»Nichts Gutes«, sagte Busir. »Wir hatten ein paar Probleme in Philadelphia. Bertrand ist aufgetaucht.«

Omar hielt das Gerät an. »In Scheiß-Philadelphia? Was zum Henker hat INTERPOL damit zu tun? Er ist im Ruhestand

»Offensichtlich nicht so ganz. Aber egal. Das Arschloch ist jetzt tot.

»Verflucht!« Das würde große internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

»Bei der Schießerei ist sie entkommen. Mit Kauffman.«

Das brachte Kamil wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vor seinen Augen verschwamm alles, und er musste vom Crosstrainer steigen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte es mit Unfähigen zu tun. Wie schwer konnte es denn sein, eine einzelne Frau zu finden?

»Und welche Lösung habt ihr parat?«, fragte er ruhig.

»Er benutzt seine Kreditkarte nicht. Wir glauben, dass er versuchen wird, sie nach Miami zu bringen. Wo er sie auf vertrautem Terrain beschützen kann.«

Omar schnappte sich ein Handtuch und rieb sich damit über das Gesicht. »Vielleicht aber auch nicht. Meinst du nicht, er weiß, dass ihr dort als Allererstes nach ihm suchen werdet?«

Stille.

Omar unterdrückte den Fluch, der ihm auf der Zunge lag. Das hier war ein einziger, nicht enden wollender Albtraum. Wenn er den Job vor sechs Jahren selbst erledigt hätte, steckten sie jetzt nicht bis zum Hals in Schwierigkeiten. Und Minyawi – der Blödmann – konnte sich darauf verlassen, dass seine Bezahlung mit jedem Mal, wenn er eine Aktion bezüglich Katherine Meyer in den Sand setzte, geringer ausfallen würde. Er war so von ihr besessen, dass er alles vermasselte.

»Sie werden nicht nach Miami gehen. Das wird er nicht riskieren.« Er spielte im Geist alle Möglichkeiten durch und hatte dann eine Erleuchtung. »Sie wird Latham aufsuchen.«

»Warum?«

»Weil sie mit ihm reden will. Er war der Projektleiter und ist der Einzige, der an der Grabungsstätte gearbeitet hat und noch lebt.«

»Und wenn sie nicht zu ihm geht?«

»Dann wird sie nach New York zurückkehren.«

»Warum?«, fragte Busir erneut.

Er hatte es wirklich mit Schwachsinnigen zu tun. Aber das war in Ordnung, solange sie dafür hängen mussten und nicht er.

»Der Sicherheitsdienst bei Worthington hat eine nicht identifizierte Frau gemeldet, die im Lagerraum herumgeschnüffelt hat. Ich verwette meinen Arsch, dass sie etwas aus der Auktion gestohlen hat. Eine Statue, einen Behälter, eine Urne, die groß genug ist, um den Film aus der Kamera darin zu verstecken, die sie damals in dieser Nacht in dem Grab bei sich hatte.«

»Ihre Kamera war in ihrer Tasche in der Nacht, als die Autobombe hochging. Sie ist damit geflohen.«

Omars Gesichtszüge verhärteten sich. »Das wollte sie uns glauben machen. Aber schließlich war sie ja auch nicht in diesem Auto, oder? Was bedeutet, dass ihre Kamera auch nicht drin war. Sie muss den Film in irgendeinem Gegenstand versteckt haben, hat ihn vielleicht Kauffman zur Aufbewahrung geschickt, bevor sie untergetaucht ist. Betrachte es aus ihrer Perspektive. Sie findet heraus, dass er ihn nach all der Zeit verkaufen will, und ihr wird klar, dass ihre einzige Chance, ihre Freiheit wiederzuerlangen, den Bach runterzugehen droht. Daher taucht sie in dem Auktionshaus auf, um ihn sich zu holen.«

Er schnippte mit den Fingern, als sich eins zum anderen fügte. »Ich wette, sie hat noch nicht einmal hineingesehen. Oder falls doch, ist der Inhalt nicht beweiskräftig oder zerstört. Sonst wäre sie längst zur CIA gegangen, und ich wäre jetzt nicht mehr hier.«

»Wenn er aber nicht in dem Gegenstand ist, den sie gestohlen hat, wo ist er dann?«

Omar durchschritt den kleinen Übungsraum. »Er war in keinem der Gegenstände, die du bei der Auktion ersteigert hast. Ich habe sie bereits eingehend untersuchen lassen. Er machte eine Pause, als ihm ein Gedanke kam. »Athen. Die Frau vom Institut. Sie hat selbst ein paar Stücke erworben, stimmt’s?«

»Schon, aber das ergibt keinen Sinn, denn dann hätte Kauffman ihn die ganze Zeit gehabt.«

»Vielleicht wusste er nicht, dass er ihn hatte.«

Busir schwieg. Dann sagte er, »Du willst, dass wir die Stücke überprüfen, die die Griechin gekauft hat?«

»Nein. Ich schicke ein anderes Team, um das zu tun. Für dich und deinen Partner habe ich einen neuen Auftrag.«

»Und welchen?«

»Ich komme nach Amerika. Wir haben eine Sammlung, die als Leihgabe an das Metropolitan Museum verschifft werden soll. Eigentlich wollte ich einen Assistenten schicken, aber ich glaube, ich werde sie stattdessen selbst begleiten und vielleicht mal bei Dr. Gotsi vorbeischauen und nachsehen, wie’s ihr geht.«

»Und was sollen wir so lange machen?«

»Schnapp dir Minyawi, und stattet Kauffmans Schwester einen Besuch ab. Wenn er nicht kooperiert, werden wir einen Weg finden, ihn aus seinem Versteck zu locken, auf die eine oder andere Weise.«

»Was, wenn Meyer zu Latham geht?«

»Schick Wyatt und Usted hin.«

»Usted ist tot.«

Omar presste die Zähne aufeinander. »Dann schick Wyatt!«

Schweigen. Dann: »Minyawi wird es nicht gefallen, die Jagd auf Meyer aufzugeben. Er hat mit dieser Frau noch eine Rechnung zu begleichen. Es ist was Persönliches.«

Omar scherte sich einen feuchten Kehricht um Minyawis persönliche Vorhaben. Er bezahlte den Kerl nicht, damit er seinen eigenen Rachefeldzug verfolgte. Und was Omar anging, so galt das auch für Minyawis Partner. Er hatte ihnen und ihrer Sache im Lauf der Jahre zu einem riesigen Vermögen verholfen. In diesem Fall mussten sie sich damit abfinden und ein Mal zurückstecken.

»Er wird seine Chance bekommen. Bringt einfach die Kauffman nach New York.«

»Verstanden.«

»Und, Busir?«

»Ja.«

»Bringt sie unversehrt nach New York. Lass Minyawi sie nicht anrühren!«

»Das ist leichter gesagt als getan. Minyawi ist unberechenbar.«

Noch ein Grund mehr, das Ganze so bald wie möglich über die Bühne zu bringen.

»Dann behalte ihn im Auge! Und falls er außer Kontrolle gerät, weißt du, was du zu tun hast. Ich will Katherine Meyer, und ich will das Beweisstück, das sie hat. Nichts und niemand wird sich mir dabei in den Wege stellen. Ist das klar?«

»Glasklar.«